Eilfter Brief

[293] An den Herrn D.


Ja; es ist wahr, was Ihnen unser Freund von einem weitläuftigen Gedichte über die Mehrheit der Welten, welches er, wie ich mich erinnere, vor länger als sechs Jahren bei mir gesehen, erzählt hat. Es war einer von meinen allerersten Versuchen in der Dichtkunst, den ich noch bis jetzt bloß aus der Absicht aufhebe, aus welcher andre einen Schuh oder Strumpf, den sie in der Kindheit getragen, aufzuheben pflegen. So schwach ich auch noch jetzt bin, so kann mir doch die Betrachtung, daß ich einmal noch schwächer gewesen, nicht anders als angenehm sein. Die neue Theorie des Whistons, und des Hugens Kosmotheoros, hatten damals[293] meine Einbildungskraft mit Begriffen und Bildern erfüllt, die mir desto reizender schienen, je neuer sie waren. So viel sahe ich, daß sie einer poetischen Einkleidung fähiger, als irgend eine andre philosophische Materie sein müßten. Allein die Kunst sie zu bearbeiten, fehlte mir. Ich wußte nicht wie sich abstrakte Wahrheiten durch Erdichtungen sinnlich machen ließen, noch vielweniger wie man trocknen Betrachtungen das lachende Ansehen scherzhafter Einfälle geben könne. Ich reimte also meine Gedanken nach einer ziemlich mathematischen Methode; hier und da ein Gleichnis; hier und da eine kleine Ausschweifung; das war alles poetische, was ich dabei anbrachte. Urteilen Sie also, wie beschämt ich einige Zeit darauf ward, als ich die Gespräche des Herrn von Fontenelle in die Hände bekam, die ich vorher nur dem Namen nach gekannt hatte. Die Augen gingen mir auf einmal auf, und aus dem Leben, welches er, als ein prosaischer Schriftsteller, seinem Vortrage gegeben hatte, schloß ich auf dasjenige, welches ich, als ein angemaßter Dichter, dem meinigen hätte geben sollen. Mein stolzer Anfang war nunmehr dasjenige, was ich nicht mehr ohne eine bittre Spötterei über mich selbst ansehen konnte.


Ihr niedern Töne schweigt! Von Pracht und Glanz entzücket,

Sei ich zun Sternen jetzt mir und der Welt entrücket.

Ein dichtungswürdgrer Stoff, als Liebe Scherz und Wein,

Soll, voll von kühner Glut, des Liedes Inhalt sein.


Ei, dachte ich, du hast deiner Entzückung, deiner kühnen Glut vortrefflich viel Ehre gemacht! Unterdessen schien es doch, als wenn ich mein Unglück vorhergesehen hätte; denn ich schloß meinen Eingang:


Beherzter als Kolumb, tret ich den Luftweg an,

Wo leichter als zur See die Kühnheit scheitern kann.

Mag doch die Sinnlichkeit des frommen Frevels fluchen!

Genug, die scheitern schön, die scheiternd Welten suchen.


Der erste Gesang handelte von dem Betruge der Sinnen, und ich muß mir die Schmeichelei machen, daß ich noch jetzt verschiedenes[294] davon ziemlich erträglich ausgedruckt, und mit eignen Gleichnissen unterstützt finde. Ich rechne dahin folgende Stelle, so viel matte Zeilen sie auch hat.


Das Auge, wann sein Netz der Sachen Abdruck rührt, etc.


Sie sehen wohl, daß ich es damals noch nicht wissen mußte, wenn ich es anders jetzo weiß, was die Gedanken zusammenziehen heißt. Ich will Ihnen noch eine Stelle hersetzen, und in diesem Geschmacke müssen Sie sich das übrige alles vorstellen. In dem zweiten Gesange komm ich beiläufig auf die Geschichte der Sternkunde:


Was in der jungen Welt, bei heller Nächte Stunden, etc.


In dem dritten Gesange, wo ich das Lächerliche des Ptolemäischen Weltbaues beschreiben wollte, fing ich meine Beschreibung also an:


Dich, Pöbel, ruf ich hier zu meinem Beistand an, etc.


Wird Ihnen nun bald die Lust vergehen, ein Ganzes sehen zu wollen, das aus so schlechten Teilen besteht? Doch Sie sollen es nunmehr, zu Ihrer Bestrafung sollen Sie es nunmehr sehen. Ja, um Sie recht zu martern, will ich es Ihnen selbst vorlesen. Wagen Sie es nur, und kommen Sie nach der Stadt. Doch wahrhaftig, Sie könnten meine Drohung für Ernst aufnehmen. Sie könnten wohl gar nunmehr noch einen Monat länger auf dem Lande bleiben. Um des Himmels willen, nein! Ich will Ihnen gern nichts vorlesen; ich will gern den Ruhm nicht verlieren, daß ich wenigstens diese Torheit eines Poeten weniger besitze. Kommen Sie nur. Ich bin etc. W** 1752.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 3, München 1970 ff., S. 293-295.
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