Zehnter Brief

[292] An den Herrn D.


Sie haben sich an das Meisterstück des Virgils gemacht. Eher getraute ich mir eine zweite Äneis zu machen, als seine Georgica gut zu übersetzen. Ich getraue mir das erste nicht, sondern ich vergleiche nur Unmöglichkeiten mit Unmöglichkeiten. Wann Sie aber hieraus schließen, daß ich von Ihrer Arbeit nichts halte, so schließen Sie falsch. Schließen Sie vielmehr das Gegenteil aus den unzähligen Anmerkungen, die ich an den Rand Ihrer Übersetzung geschrieben habe. Ich will nicht sagen, daß ich nicht vielleicht ein gleiches würde getan haben, wenn sie auch ganz und gar nichts taugte. Allein ich würde es sparsamer; ich würde es in einem ganz andern Tone getan haben. Vielleicht wäre mir eben die Bosheit beigefallen, deren sich Hr. S. gegen den guten O** bediente. Dieser hatte ihm eine Ode zu beurteilen überschickt. Wissen Sie was Hr. S. tat? Die wenigen guten Stellen, die er darinne fand, strich er aus, und ersetzte sie mit andern, welche in das schlechte Ganze besser paßten – – Eine von meinen Anmerkungen muß ich noch in den Brief werfen, weil sie auf dem Rande nicht Platz hat. Wenn Virgil den Neptun anruft:


Tuque o, cui prima frementem


Fudit equum magno tellus percussa tridenti,

Neptune etc.[292]


So übersetzen Sie diese Zeilen, wie sie die meisten Kunstrichter übersetzt wissen wollen; prima tellus ist Ihnen Griechenland. Andre verstehen darunter die neuerschaffene Erde: andre das Ufer. Daß sich diese Herren insgesamt geirrt haben, wundert mich nicht; denn was fehlt ihnen öftrer als Geschmack und Bekanntschaft mit den poetischen Schönheiten? Allein, daß Sie sich, mit ihnen, irren: das wundert mich. Ich finde hier nichts als die Versetzung der Beiwörter; eine den Dichtern sehr gewöhnliche Figur. Neptuno equum fudit prima tellus ist eben das, als wenn Virgil gesetzt hätte: tellus Neptuno primum fudit equum. Die Richtigkeit meiner Erklärung wird Ihnen vermutlich so gleich in die Augen fallen. Wollen Sie eine gleichlautende Stelle, die ich anstatt eines Beweises anführen kann, so besinne ich mich, daß Horaz irgendwo sagt:


Cum prorepserunt primis animalia terris,

Mutum et turpe pecus etc.


Verzeihen Sie es meiner Faulheit, daß sie Ihre Faulheit keiner Mühe überheben, und diesen Ort nicht genauer nachschlagen will. Ich bin etc. W**. 1752.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 3, München 1970 ff., S. 292-293.
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