Neunter Brief

[291] An den Herrn G.


Ich habe die gekrönte Rede des Herrn Rousseau gelesen. Ich finde sehr viel erhabne Gesinnungen darinne, und eine männliche Beredsamkeit. Die Waffen, mit welchen er die Künste und Wissenschaften bestürmet, sind zwar nicht allezeit die stärksten: gleichwohl weiß ich nicht, was man für eine heimliche Ehrfurcht für einen Mann empfindet, welcher der Tugend, gegen alle gebilligte Vorurteile das Wort redet, auch sogar alsdann, wenn er zu weit gehet. Man könnte verschiednes gegen ihn einwenden. Man könnte sagen, daß die Aufnahme der Wissenschaften und der Verfall der Sitten und des Staats zwei Sachen sind, welche einander begleiten, ohne die Ursache und Wirkung von einander zu sein. Alles hat in der Welt seinen gewissen Zeitpunkt. Ein Staat wächset, bis er diesen erreicht hat; und so lange er wächset, wachsen auch Künste und Wissenschaften mit ihm. Stürzt er also, so stürzt er nicht deswegen, weil ihn diese untergraben; sondern weil nichts eines immerwährenden Wachstums fähig ist, und weil er nunmehr eben den Gipfel erreicht hatte, von welchem er mit einer ungleich größern Geschwindigkeit wieder abnehmen sollte, als er gestiegen war. Alle große Gebäude verfallen mit der Zeit, sie mögen mit Kunst und Zierraten, oder ohne Kunst und Zierraten gebaut sein. Es ist wahr, das witzige Athen ist hin; aber das tugendhafte Sparta, ist es nicht auch hin? – – Ferner könnte man sagen, wenn die kriegrischen Eigenschaften, durch die Gemeinmachung der Wissenschaften verschwinden, so ist es noch die Frage, ob wir es für ein Glück oder für ein Unglück zu halten haben? Sind wir deswegen auf der Welt, daß wir uns unter einander umbringen sollen? Und wenn ja den strengen Sitten die Künste und Wissenschaften nachteilig sind, so sind sie es nicht durch sich selbst,[291] sondern durch diejenigen, welche sie mißbrauchen. Ist die Malerei deswegen zu verwerfen, weil sie der und jener Meister zu verführerischen Gegenständen anwendet? Ist die Dichtkunst deswegen nicht hochzuachten, weil einige Dichter ihre Harmonien durch Unkeuschheiten entheiligen? Die Künste sind das, wozu wir sie machen wollen. Es liegt nur an uns, wann sie uns schädlich sind – – Kurz, Herr Rousseau hat Unrecht; aber ich weiß keinen der es mit mehrerer Vernunft gehabt hätte. Ich bin etc. B**. 1751.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 3, München 1970 ff., S. 291-292.
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