Einundzwanzigster Brief

[324] An den Herrn S.


Ich habe gestern von B** eine sehr traurige Nachricht erhalten. Der Freund, dessen ich so oft gegen Sie erwähnt habe, ist auf der Reise in sein Vaterland gestorben. Es geht mir nahe, wenn ich bedenke in was für Gesinnungen von mir er vielleicht gestorben ist. Nach einer langen ununterbrochnen Freundschaft mußte uns eine Kleinigkeit entzweien, welcher meine Abwesenheit am meisten zu statten kam. Doch diese Kleinigkeit war es nicht allein, die ihn wider mich aufbrachte. Wehe euch, die ihr mit Verleumdungen sein Bette umlagert hieltet! Euch müsse es nie gelingen, einen Freund zu finden;. oder wann ihr ihn ja gefunden hättet, so müsse ihn auf einmal,[324] ohne euer Verschulden, Haß und Rache wider euch erfüllen! Und in diesem Augenblicke müsse er sterben, um euch in jener Welt mit einem schrecklichen Gesichte zu erwarten! Ich würde die strengste Gerechtigkeit zwischen mir und ihm zum Richter haben nehmen können, und ich weiß gewiß, sie würde für mich gewesen sein. Doch er ist tot, und sein Tod macht ihn in meinen Augen von allen Vorwürfen frei, und mich allein schuldig. Ich mag ihn wirklich, oder nur seiner Einbildung nach beleidiget haben; genug er ist beleidigt. Er ist es, und ich muß ihn versöhnen. Aber wie? Möchten mir doch die Worte des Horaz: placantur carmine manes, nicht umsonst eingefallen sein! Möchte es doch wahr sein, daß dieses das Mittel wäre! Doch es sei es, oder es sei es nicht; ich werde wenigstens eine Art des Trostes und der Beruhigung darinne finden. Schon sammle ich die traurigsten meiner Gedanken; und bald entwerfe ich sein Bild, das ich so reizend nicht würde entworfen haben, wenn wir uns nicht entzweit hätten. Schon ist mein ganzer Geist dazu vorbereitet, und schon gestern hab ich ihm, oder wann Sie lieber wollen, meiner Muse, lange und schwere Harmonien befohlen.


Die ich dich nie dem Chor unschuldger Scherze raubte,

Und schwer beklemmt zu bangen Klagen rief,

Die Rosen heut, o Muse, von dem Haupte,

Das gestern noch im Schoß der frohen Jugend schlief;

Und aus der freien Rechte

Den fürchterlichen Stab,

Den, als der Pindus jüngst in Libers Laube zechte,

Dir der vergnügte Wirt zum Freundschafts Pfande gab;

Reiß schnell, der Weste Spiel, das flatternde Gewand,

In schmutzig unachtsame Falten!

Und trenn mit ungestümer Hand

Die Perlenschnur, bestimmt das güldne Haar zu halten.


Nun nimm sie hin, die mir getreuen Saiten,

Und stimme sie zum Trauerton herab,

Zum Ton geschickt die Seufzer zu begleiten,

Und fromm zu schallen um ein Grab.[325]


Sollten Sie nicht glauben, daß ich Sie für meine Muse hielte? Verzeihen Sie meiner Zerstreuung, und erlauben, daß ich von Ihnen auf einige melancholische Wochen, welche mir die süßesten von der Welt sein sollen, Abschied nehmen darf. Ich bin etc. W** 1752.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 3, München 1970 ff., S. 324-326.
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