Zwei und zwanzigster Brief

[326] An den Herrn D**


Nimmermehr hätte ich geglaubt, daß meine Reden einen solchen Eindruck haben könnten. Ich erinnere mich ganz wohl, daß man in der Gesellschaft, in welcher ich Sie das erstemal zu sprechen die Ehre hatte, und von welcher wir, wann es anders Ihr Ernst ist, die Epoche unserer Freundschaft zu rechnen anfangen wollen, daß man, sage ich, damals das Gespräch auf die neuste Geschichte wandte, und daß ich in dem ganzen Umfange derselben keine Begebenheit anzutreffen erklärte, welche mich mehr gerührt habe, als die Enthauptung des Herrn Henzi in Bern. Ich konnte mich nicht enthalten den vortheilhaften Begriff zu verraten, den ich mir von ihm, Teils aus den öffentlichen Nachrichten, Teils aus mündlichen Erzählungen gemacht hatte. Ich behauptete sogar, daß er einen würdigen Helden zu einem recht erhabnen Trauerspiele abgeben könne; und ich hatte das Vergnügen, daß Sie mir, nach einigem Wortwechsel, beifielen. Wie viel größer aber ist das Vergnügen, welches Sie mir durch Ihre Zuschrift gemacht haben? Ich finde den deutlichsten Beweis darinne, daß Sie mir nicht aus Höflichkeit, sondern aus Überzeugung beigefallen sind, und daß Sie meine Gesinnungen nicht so wohl gebilliget, als vielmehr angenommen haben. Als ein Geist, der sich gleich Anfangs mit etwas wichtigen zeigen will, übersenden Sie mir einen Plan, wie unser Held wohl am füglichsten auf die Bühne zu bringen sei. Er macht Ihrer Kritik und Ihrem Genie Ehre; und wenn ich mich in die Beurteilung desselben einlassen wollte, so würde ich überall nichts zu sagen finden, als: das ist schön, das ist[326] regelmäßig, ob ich gleich dieses so, und jenes anders eingerichtet zu haben bekenne. Denn ich muß es Ihnen nur gestehen, daß ich mir einen gleichen Plan gemacht habe, und zwar noch ehe ich die Ehre hatte, mit Ihnen davon zu sprechen. Ich habe sogar angefangen, ihn auszuführen, und ich bin nicht übel Willens den ersten Aufzug meinem Briefe beizulegen. Und warum nicht? Er wird mir die Mühe ersparen, meine Einrichtung weitläuftig zu erklären, und ich werde am Ende nichts nötig haben, als einige allgemeine zu meiner Entschuldigung dienende Anmerkungen beizufügen. Hier ist er; ich muß Sie aber ersuchen, daß Sie das Übrige meines Briefes erst nach ihm lesen, weil ich mich durchgängig darauf beziehen werde – – –


[Hier folgt Samuel Henzi I, 1–3]


Zweierlei, mein Herr, werden Sie gleich Anfangs bemerkt haben; daß ich nämlich die Bühne in einen Saal des Rathauses verlege, und daß ich die Handlung mit dem Tage anfangen lasse. Jenes tue ich, die Einheit des Orts zu erhalten, wenn ich etwa kühn genug sein sollte, in den folgenden Aufzügen die Ratsversammlung selbst, und meinen Helden vor ihr redend zu zeigen; man würde alsdenn nichts als den innern Vorhang aufziehen dürfen. Das andre habe ich deswegen für gut befunden, damit die Vorfälle einander nicht allzusehr drängen und dadurch unnatürlich scheinen möchten. Gewisse große Geister würden diese kleinen Regeln ihrer Aufmerksamkeit nicht würdig geschätzt haben; wir aber, wir andern Anfänger in der Dichtkunst, müssen uns denselben nun schon unterwerfen. Aber wird man nicht das schon für eine Übertretung der Regeln halten, daß der Stoff unsers Trauerspiels so gar zu neu ist? Hätte man nicht wenigstens die ganze Begebenheit unter fremden Namen einkleiden sollen, gesetzt diese Namen wären auch völlig erdichtet gewesen? Ich zweifle nicht, daß nicht einige dieses behaupten sollten; allein daß sie es mit Grunde behaupten werden, daran zweifle ich. Die Verbergung der wahren Namen, wird meines[327] Erachtens nur alsdann notwendig, wenn man in einer neuen Geschichte wesentliche Umstände geändert hat, und man durch diese Veränderungen die besser unterrichteten Zuschauer zu beleidigen fürchten muß. Sind wir aber in diesem Falle? Ich sollte nicht denken; wenigstens wie ich Knoten, Auflösung und Charaktere eingerichtet habe, glaube ich die Wahrheit nirgends beleidiget, und hin und wieder nur verschönert zu haben.

Lassen Sie uns das letzte zuerst betrachten. Ich will Ihnen sagen, was meine Absicht damit war. Sie war diese: den Aufrührer im Gegensatze mit dem Patrioten, und den Unterdrücker im Gegensatze mit dem wahren Oberhaupte zu schildern. Henzi ist der Patriot, Dücret der Aufrührer, Steiger das wahre Oberhaupt, und dieser oder jener Ratsherr der Unterdrücker. Henzi, als ein Mann, bei dem das Herz eben so vortrefflich als der Geist war, wird von nichts, als dem Wohle des Staats getrieben; kein Eigennutz, keine Lust zu Veränderungen, keine Rache beseelt ihn; er sucht nichts als die Freiheit bis zu ihren alten Grenzen wieder zu erweitern, und sucht es durch die allergelindesten Mittel, und wann diese nicht anschlagen sollten, durch die allervorsichtigste Gewalt. Dücret ist das vollkommne Gegenteil. Haß und Blutdurst sind seine Tugenden, und Tollkühnheit sein ganzes Verdienst.

Sie werden leicht sehen können, daß in diesen Charakteren der Knoten des Stücks gegründet ist. Henzi und seine Freunde kennen den Dücret, verabscheuen ihn und suchen sich auf alle mögliche Art von ihm zu trennen. Dieser aber will selbst Oberhaupt sein, und sucht den Henzi verdächtig zu machen, wozu er sich des Umstandes mit dem Wernier bedient. Setzen Sie nunmehr, daß ihm dieses nicht gelingt, und daß man ihn völlig vor den Kopf stößt, so ist nach seiner Gemütsart nichts natürlicher, als daß er selbst seine Mitverschwornen verrät, und sich aus der Schlinge zu ziehen sucht. Es liegt wenig oder nichts daran, ob die Entdeckung wirklich so zugegangen, und ob Wernier erst an dem Tage der Entdeckung an dem Geheimnisse Teil genommen; genug daß beides sein könnte, und die Hauptsache nichts darunter leidet. Diese[328] Entdeckung würde ich zu Ende des dritten Aufzuges vor sich gehen lassen, so daß sich die Charaktere der Gegenpartei erst in den beiden letztern entwickelten. Ich würde Steigern sich Henzis eben so eifrig annehmen lassen, als sich Henzi Steigers annimmt. Ich würde nur gewisse Glieder auf eine blutige Bestrafung dringen, und diese ohne jenes Vorwissen in der Geschwindigkeit geschehen lassen – –

Es tut mir leid, daß mir die Zeit nicht erlauben will, umständlicher zu sein. Doch ich glaube nicht einmal, daß es nötig ist. Halb so viel würde schon zureichend gewesen sein, Ihnen meine Einrichtung zu entdecken, und weiter habe ich nichts gewollt. Leben Sie wohl. Ich bin etc.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 3, München 1970 ff., S. 326-329.
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