Sechzehnter Brief

[308] An ebendenselben


Meine erste Anmerkung betraf ein falsch angebrachtes Lob des Herrn Meiers; und bei dieser blieb ich stehen. Ehe ich weiter gehe, will ich noch dieses hinzu setzen. Gesetzt dieser Kritiker hätte den Inhalt und die Anrufung nicht verwechselt; gesetzt Herr Klopstock rufe wirklich seine unsterbliche Seele an, wie ein andrer die Musen anruft: so würde auch alsdann in dieser Wendung nichts neues sein. Hat nicht schon Dante sein Genie angerufen?


O Muse, o alto 'ngegno, hor m'aiutate:

O Mente, che scrivesti cio ch' i' vidi;

Qui si parra la tua nobilitate.


Und was noch mehr ist; hat nicht einer der größten französischen Kunstrichter, Rapin, ihn deswegen getadelt? Wollen Sie aber sagen: ja hier ist mehr denn Rapin! hier ist Meier! so zucke ich die Achseln und gehe weiter.


Erste Fortsetzung

»Ich komme auf eine andre Anmerkung, welche die Bescheidenheit angehet, die nach der Vorschrift des Horaz in dem Eingange des Heldengedichts herrschen soll. Ich muß die Stelle des römischen Kunstrichters notwendig hersetzen.


Nec sic incipies ut scriptor Cyclicus olim

Fortunam Priami cantabo et nobile bellum.

Quid feret hic tanto dignum promissor hiatu?

Parturiunt montes, nescetur ridiculus mus.

Quanto rectius hic, qui nil molitur inepte!

Dic mihi, Musa, virum captae post tempora Trojae

Qui mores hominum multorum vidit et urbes.

Non fumum ex fulgore, sed ex fumo dare lucem

Cogitat, ut speciosa dehinc miracula promat.


Ich habe die Übersetzung des Herrn Prof. Gottscheds nicht bei der Hand, sonst wollte ich zeigen, wie sich Horaz im[308] Deutschen hiervon ausgedrückt haben würde, wenn er Gottsched gewesen wäre. – – Doch, man wird es hoffentlich ohne Übersetzung sehen, daß Horaz hier dem epischen Dichter den Rat gibt, nicht als ein Großsprecher anzufangen; nicht als jener kyklische Poet: Ich will das Glück des Priamus und den edlen Krieg besingen; sondern bescheiden wie der Dichter, der nichts verwegen unternimmt: Sage mir, Muse, den Mann, der, nachdem Troja eingenommen worden, viele Städte und vieler Menschen Sitten gesehen hat. Ich bin so kühn zu glauben, daß diese Stelle noch nie recht erkläret worden ist. So viel als ich Ausleger des Horaz nachgeschlagen habe, so viele wollen mich bereden, daß das Tadelhafte des kyklischen Poeten in den Worten liege. Vossius sagt, die Worte darinne wären sonantia, vasta, tumida und bringt zur Erläuterung den Anfang der Achilleis des Statius bei.


Magnanimum Aeacidam, formidatamque Tonanti

Progeniem canimus.


In dem ersten Verse, sagt er, ist ein sechsfaches A; er fängt sich mit drei viersylbigten Wörtern an, wovon das letzte durch das angehangene que noch länger wird; die Aussprache ist also beschwerlich. Wann Vossius Recht hat, so sage man mir, ob nicht Homer, er, den Horaz gleichwohl zum Muster anführt, in seiner Iliade in eben den Fehler gefallen ist?


Μηνιν αειδε ϑεα Πηληιαδεω Αχιληος

Ουλομενην


Das sechssylbigte Πηληιαδεω, das viersylbigte Αχιληος, das eben so lange Ουλομενην, der Imperativus αειδε, den schon der Sophiste Protagoras als als zu befehlerisch getadelt hatte, klingen in der Tat weit großsprecherischer, als:


Fortunam Priami cantabo et nobile bellum.


Hier ist kein sechssylbigtes Wort, nicht einmal ein viersylbigtes, hier ist kein singe mir Muse! Horaz müßte also, was er an der Odyssee gelobt hätte, an der Iliade getadelt haben, wenn er nicht an dem Verse des kyklischen Dichters ganz etwas anders aussetzte. Und was ist das?[309]

Der Eingang eines Heldengedichts, wie gesagt, bestehet aus dem Inhalte und aus der Anrufung. Man lasse uns nunmehr die Exempel der Griechen gegen die Exempel der Römer halten. Man wird einen Unterscheid antreffen, welcher so deutlich ist, daß ich mich wundre, wie ihn noch niemand4 angemerkt hat. Die griechischen Heldendichter verbinden den Inhalt und die Anrufung; die römischen trennen sie. Den Anfang der Iliade und der Odyssee habe ich schon angeführt. Dort heißt es: Besinge mir, Göttin, den Zorn des Achilles etc. Hier Sage mir, Muse, den Mann etc. Beidemal ist die Gottheit dem Dichter das erste. Er erkennet seine Schwäche. Er sagt nicht: ich will den und jenen Helden besingen; er untersteht sich nichts, als der Muse nachzusingen. Durch diesen einzigen Zug schildert er sich als einen bescheidenen Mann, als einen Mann, der sich der Gnade der Götter überlässet; zwei Stücke, welche ihm das Vertrauen der Leser erwecken, und den zu erzählenden Wundern einen Grad der Wahrscheinlichkeit geben, den sie nicht haben würden, wenn sie sich bloß auf ein menschliches Ansehen gründeten. Die weitläuftigen[310] griechischen Dichter alle, sind dem Homer hierinne gefolgt. Aratus fängt an: Εκ Διος αρχωμεσϑα; Apollonius Rhodius Αρχομενος σεο, Φοιβε – – – und mit diesem Gebete verbinden sie so gleich den Inhalt.


Νυμφαι Τρωιαδες, ποταμου Ξανϑοιο γενεϑλη

Εσπετε μοι usw.


singt Coluthus zu Anfange seines Raubes der Helena. Der zärtliche Musäus selbst, wenn er anhebt:


Ειπε, ϑεα, κρυφιων επιμαρτυρα λυχνον ερωτων

Και νυχιον πλωτηρα ϑαλασσοπορων ύμεναιων usw.


Besinge mir, Göttin, die Fackel die Zeugin verborgener Liebe;

Den nächtlichen Schwimmer zum Feste des Ehegotts, jenseit dem Meere,

Die dunklen Umarmungen, unüberrascht von der Botin des Tages,

Besinge mir Sest und Abyd, wo sich Hero im Dunkeln vermählte etc.


vergißt diese heilige Gewohnheit nicht. Und, daß ich es kurz mache, die Unterlassung dieser Gewohnheit ist es offenbar, welche Horaz an dem kyklischen Poeten tadelt. Der Stoff seines Liedes war allzuwichtig, als daß man glauben konnte, er würde ihn ohne eine göttliche Begeisterung ausführen können. Anstatt das Glück des Priamus und den edlen Krieg will ich singen; hätte er also nach dem Beispiele des weisen Homers sagen sollen: Singe, Muse, das Glück des Priamus und den edlen Krieg; und alsdenn würde er dem Tadel des Römers entgangen sein. Es ist auch in der Tat besonders, mit einem stolzen Ich anzufangen, und alsdann die Musen anzurufen, nachdem man schon alles auf die eignen Hörner genommen hat. Das heißt anklopfen, wenn man die Türe schon aufgemacht hat.

Nach dieser Erklärung nun wird man ohnschwer erraten, was ich auch in Ansehung des Messias wünschte; daß Herr Klopstock nämlich dem Exempel des Homers gefolget wäre. Es würde ihm, als einem christlichen Dichter, um so viel anständiger gewesen sein, wenn der Anfang ein Gebet gewesen[311] wäre; als daß er seiner Seele befiehlt ein Werk zu besingen, dem sie, so unsterblich sie ist, zu schwach ist, wenigstens ihm gewachsen zu sein, sich nicht rühmen muß. Es ist wahr, das demütigste und zugleich erhabenste Gebet folgt darauf; allein der kyklische Dichter wird die Anrufung der Musen gewiß auch nicht vergessen haben, und gleichwohl tadelt ihn Horaz.

Ich will mich nicht länger hierbei aufhalten. Mein ganzer Tadel ist vielleicht eine Grille, die sich, wie man sagen wird, auf nichts, als das Ansehen des Homers gründet. Wann nun aber Homer eben durch diese religiöse Bescheidenheit das Lob eines Dichters, qui nil molitur inepte verdienet hätte? – – Doch ich gehe wieder zurück anstatt weiter zu gehen. Was ich bisher gesagt, hat den Eingang des Messias überhaupt betroffen. Man erlaube, daß ich ihn nunmehr Zeile vor Zeile betrachte. – –«

Sie aber, mein Herr, werden mir hier wieder einen kleinen Ruhepunkt erlauben. Ich bin das Denken wenig gewohnt, aber das Abschreiben, ohne zu denken, noch weniger. Und was kann ich neues bei etwas denken, was ich schon durchgedacht zu haben glaube? Ich bin etc.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 3, München 1970 ff., S. 308-312.
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