Vierter Brief

[277] An ebendenselben


Ich bin Ihnen noch die Antwort auf einen zweiten Einwurf schuldig. Sie behaupten, Lemnius habe seine Sinnschriften verstohlner Weise drucken lassen; ich hingegen habe gesagt, es sei höchst wahrscheinlich, daß er sie dem Melanchthon vorher zur Beurteilung übergeben. Sie berufen sich auf ein Schreiben des letztern an den Kurfürsten, dessen Inhalt Seckendorf anführt; und ich bin kühn genug eben dieses Schreiben für mich zu gebrauchen. Melanchthon schreibt also an den Kurfürsten, welchem ohne Zweifel Luther diese Kleinigkeit auf der allerschwärzesten Seite vorgestellet hatte: »Was er dabei versehen habe, sei ohne Vorsatz geschehen; Lemnius habe ihm für seine erwiesene Wohltaten schlecht gedankt, und ihn selbst an zwei Stellen sehr schimpflich durchgezogen. Er habe die Sinnschriften nicht eher zu sehen bekommen, als da sie schon abgedruckt gewesen. Weil er viel Anzüglichkeiten gegen Privatpersonen darinne gefunden, habe[277] er dem Verfasser sogleich Stubenarrest ankündigen lassen, und sei Willens gewesen, ihn zu relegieren. Als er den Tag darauf gar verschiedenes angetroffen, was dem Kurfürsten und Landgrafen zur Verkleinerung gereiche, habe er ihn wollen in Verhaft nehmen lassen. Lemnius aber sei ihm mit der Flucht zuvorgekommen; man habe ihn öffentlich vorgeladen, und ihn endlich, weil er nicht erschienen, mit Schimpf von der hohen Schule verbannt. Er bitte also den Kurfürsten, es ihm nicht übel zu deuten, daß er wegen der vielen akademischen Geschäfte, die Sinnschriften des Lemnius nicht gleich durchgelesen, und das was der Ehre des Kurfürsten darinne nachteilig sei, nicht gleich gefunden habe. Man solle es ihm nicht zurechnen, daß sein Schwiegersohn, wie man vorgebe, dem Drucker die Sinnschriften zu drucken angeraten, und noch die Lügen hinzugefügt habe, daß sie von ihm, dem Melanchthon, gebilliget wären« – – – Sagen Sie mir aufrichtig, mein Herr, klingt dieses nicht vollkommen, wie das Gewäsche eines Mannes, der sich gedrungen entschuldiget, und eigentlich nicht weiß was er sagen soll? Ich darf Ihnen den Charakter des Melanchthons nicht lang schildern; Sie kennen ihn so gut als ich. – – Ein sanftmütiger ehrlicher Mann, der mit sich anfangen ließ was man wollte, und den besonders Luther lenken konnte, wie er es nur immer wünschte. Sein Feuer verhielt sich zu Luthers Feuer, wie Luthers Gelehrsamkeit zu seiner Gelehrsamkeit. Nach seiner natürlichen Aufrichtigkeit würde er es gewiß frei bekannt haben, daß er in den Sinnschriften des Lemnius nichts anstößiges gefunden, wenn Luther nicht gewollt hätte, daß er etwas darinne finden sollte. Er hatte von der Einsicht seines Freundes so hohe Begriffe, daß so oft sein Verstand mit Luthers Verstande in Kollision geriet, er den seinigen allezeit Unrecht haben ließ. Luthers Augen waren ihm glaubwürdiger, als seine eigene. Sie sehen es hier. Er ließ sich nicht allein Schmähungen wider seinen Landesherrn in den unschuldigen Sinnschriften von ihm weisen, sondern ließ sich so gar überreden, daß Lemnius auch ihn selbst nicht verschonet habe. Nun aber biete ich die scharfsichtigsten Augen auf, mir diese zwei Stellen nur mit der allergeringsten Wahrscheinlichkeit zu zeigen. Das finde[278] ich wohl, und finde es auf den meisten Seiten, daß Lemnius den Melanchthon lobt, und daß er ihn auch noch da lobt, da er wider alle Anhänger des Luthers die giftigsten Spöttereien ausströmet. Er schiebt alle Schuld auf den Sabinus, weil sie doch auf jemanden muß geschoben sein. Wer aber kann sich wohl einbilden, daß dieser seinem Schwiegervater einen so übeln Dienst habe leisten wollen? Wenigstens, wenn er es getan hat, so muß man ihm so viel Rechtschaffenheit zutrauen, daß er etwas ganz gleichgültiges zu tun geglaubt hat. Er muß die Sinnschriften seines Freundes für etwas unschuldiges angesehen haben, das von nichts weniger als gefährlichen Folgen sein könne. Und auch alsdann habe ich schon viel gewonnen. Eben so unschuldig als sie dem Sabinus geschienen, eben so unschuldig haben sie auch dem Melanchthon scheinen können; und er selbst ist es nicht in Abrede, weil er um Verzeihung bei dem Kurfürsten bittet, daß er das Anstößige darinne nicht sogleich wahrgenommen. O wahrhaftig, wo es nicht gleich in die Augen fällt, wo man es lange suchen muß, da ist es selten in der Tat anzutreffen! Doch ich besinne mich, daß ich einmal recht freigebig mit Ihnen verfahren will. Wenn ich Ihnen zugebe, daß in der Tat alles ohne Billigung des Melanchthons gedruckt worden, warum hat man den Sabinus nicht zur Verantwortung gezogen? Diesem, und nicht dem Lemnius, ist die Übergehung der Zensur zuzuschreiben. Diesen strafe man, wenn anders, es sei nun durch seine Bosheit, oder durch seine Nachlässigkeit, ein strafbares Buch zum Vorschein gekommen ist. Ich sage mit Fleiß ein strafbares Buch, denn wenn es ein gleichgültiges gewesen ist, wie ich in meinem vorigen Briefe erwiesen habe, so ist weder dem einen noch dem andern, dem Lemnius aber am allerwenigsten, ein Verbrechen aus Verabsäumung einer Zeremonie zu machen. Und mehr als eine Zeremonie wäre es nicht gewesen. – – Es ist mir recht lieb, daß ich hier abbrechen kann; denn wahrhaftig das Verteidigen wird mir sauer, wenn ich etwas allzuleichtes zu verteidigen habe. Ich bin etc.[279]

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 3, München 1970 ff., S. 277-280.
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