Acht und neunzigstes Stück

[680] Den 8ten April, 1768


Eben so schielend und falsch wird, durch Aufhebung der doppelten Brüderschaft, auch das Verhältnis der beiden jungen Leute. Ich verdenke es dem deutschen Aeschinus, daß er164 »vielmals an den Torheiten des Ktesipho Anteil nehmen zu müssen geglaubt, um ihn, als seinen Vetter, der Gefahr und öffentlichen Schande zu entreißen.« Was Vetter? Und schickt es sich wohl für den leiblichen Vater, ihm darauf zu antworten: »ich billige deine hierbei bezeigte Sorgfalt und Vorsicht; ich verwehre dir es auch inskünftige nicht?« Was verwehrt der Vater dem Sohne nicht? An den Torheiten eines ungezogenen Vetters Anteil zu nehmen? Wahrlich, das sollte er ihm verwehren. »Suche deinen Vetter, müßte er ihm höchstens sagen, so viel möglich von Torheiten abzuhalten: wenn du aber findest, daß er durchaus darauf besteht, so entziehe dich ihm; denn dein guter Name muß dir werter sein, als seiner.«

Nur dem leiblichen Bruder verzeihen wir, hierin weiter zu gehen. Nur an leiblichen Brüdern kann es uns freuen, wenn einer von dem andern rühmet:


– – Illius opera nunc vivo! Festivum caput,

Qui omnia sibi post putarit esse prae meo commodo:

Maledicta, famam, meum amorem et peccatum in se transtulit.


Denn der brüderlichen Liebe wollen wir von der Klugheit keine Grenzen gesetzt wissen. Zwar ist es wahr, daß unser Verfasser seinem Aeschinus die Torheit überhaupt zu ersparen gewußt hat, die der Aeschinus des Terenz für seinen Bruder begehet. Eine gewaltsame Entführung hat er in eine kleine Schlägerei verwandelt, an welcher sein wohlgezogner Jüngling weiter keinen Teil hat, als daß er sie gern verhindern wollen. Aber gleichwohl läßt er diesen wohlgezognen Jüngling, für einen ungezognen Vetter noch viel zu viel[680] tun. Denn müßte es jener wohl auf irgend eine Weise gestatten, daß dieser ein Kreatürchen, wie Citalise ist, zu ihm in das Haus brächte? in das Haus seines Vaters? unter die Augen seiner tugendhaften Geliebten? Es ist nicht der verführerische Damis, diese Pest für junge Leute,165 dessenwegen der deutsche Aeschinus seinem lüderlichen Vetter die Niederlage bei sich erlaubt: es ist die bloße Konvenienz des Dichters.

Wie vortrefflich hängt alles das bei dem Terenz zusammen! Wie richtig und notwendig ist da auch die geringste Kleinigkeit motivieret! Aeschinus nimmt einem Sklavenhändler ein Mädchen mit Gewalt aus dem Hause, in das sich sein Bruder verliebt hat. Aber er tut das, weniger um der Neigung seines Bruders zu willfahren, als um einem größern Übel vorzubauen. Der Sklavenhändler will mit diesem Mädchen unverzüglich auf einen auswärtigen Markt: und der Bruder will dem Mädchen nach; will lieber sein Vaterland verlassen, als den Gegenstand seiner Liebe aus den Augen verlieren.166 Noch erfährt Aeschinus zu rechter Zeit diesen Entschluß. Was soll er tun? Er bemächtiget sich in der Geschwindigkeit des Mädchens, und bringt sie in das Haus seines Oheims, um diesem gütigen Manne den ganzen Handel zu entdecken. Denn das Mädchen ist zwar entführt, aber sie muß ihrem Eigentümer doch bezahlt werden. Micio bezahlt sie auch ohne Anstand, und freuet sich nicht sowohl über die Tat der jungen Leute, als über die brüderliche Liebe, welche er zum Grunde siehet, und über das Vertrauen, welches sie auf ihn dabei setzen wollen. Das größte ist geschehen; warum sollte er nicht noch eine Kleinigkeit hinzufügen, ihnen einen vollkommen vergnügten Tag zu machen?[681]


– – – Argentum adnumeravit illico:

Dedit praeterea in sumptum dimidium minae.


Hat er dem Ktesipho das Mädchen gekauft, warum soll er ihm nicht verstatten, sich in seinem Hause mit ihr zu vergnügen? Da ist nach den alten Sitten nichts, was im geringsten der Tugend und Ehrbarkeit widerspräche.

Aber nicht so in unsern Brüdern! Das Haus des gütigen Vaters wird auf das ungeziemendste gemißbraucht. Anfangs ohne sein Wissen, und endlich gar mit seiner Genehmigung. Citalise ist eine weit unanständigere Person, als selbst jene Psaltria; und unser Ktesipho will sie gar heiraten. Wenn das der Terenzische Ktesipho mit seiner Psaltria vorgehabt hätte, so würde sich der Terenzische Micio sicherlich ganz anders dabei genommen haben. Er würde Citalisen die Türe gewiesen, und mit dem Vater die kräftigsten Mittel verabredet haben, einen sich so sträflich emanzipierenden Burschen im Zaume zu halten.

Überhaupt ist der deutsche Ktesipho von Anfange viel zu verderbt geschildert, und auch hierin ist unser Verfasser von seinem Muster abgegangen. Die Stelle erweckt mir immer Grausen, wo er sich mit seinem Vetter über seinen Vater unterhält.167


LEANDER. Aber wie reimt sich das mit der Ehrfurcht, mit der Liebe, die du deinem Vater schuldig bist?

LYCAST. Ehrfurcht? Liebe? hm! die wird er wohl nicht von mir verlangen.

LEANDER. Er sollte sie nicht verlangen?

LYCAST. Nein, gewiß nicht. Ich habe meinen Vater gar nicht lieb. Ich müßte es lügen, wenn ich es sagen wollte.

LEANDER. Unmenschlicher Sohn! Du bedenkst nicht, was du sagst. Denjenigen nicht lieben, der dir das Leben gegeben hat! So sprichst du itzt, da du ihn noch leben siehst. Aber verliere ihn einmal; hernach will ich dich fragen.

LYCAST. Hm! Ich weiß nun eben nicht, was da geschehen würde. Auf allen Fall würde ich wohl auch so gar unrecht[682] nicht tun. Denn ich glaube, er würde es auch nicht besser machen. Er spricht ja fast täglich zu mir: »Wenn ich dich nur los wäre! wenn du nur weg wärest!« Heißt das Liebe? Kannst du verlangen, daß ich ihn wieder lieben soll?


Auch die strengste Zucht müßte ein Kind zu so unnatürlichen Gesinnungen nicht verleiten. Das Herz, das ihrer, aus irgend einer Ursache, fähig ist, verdienet nicht anders als sklavisch gehalten zu werden. Wenn wir uns des ausschweifenden Sohnes gegen den strengen Vater annehmen sollen: so müssen jenes Ausschweifungen kein grundböses Herz verraten; es müssen nichts als Ausschweifungen des Temperaments, jugendliche Unbedachtsamkeiten, Torheiten des Kitzels und Mutwillens sein. Nach diesem Grundsatze haben Menander und Terenz ihren Ktesipho geschildert. So streng ihn sein Vater hält, so entfährt ihm doch nie das geringste böse Wort gegen denselben. Das einzige, was man so nennen könnte, macht er auf die vortrefflichste Weise wieder gut. Er möchte seiner Liebe gern wenigstens ein Paar Tage, ruhig genießen; er freuet sich, daß der Vater wieder hinaus auf das Land an seine Arbeit ist; und wünscht, daß er sich damit so abmatten, – so abmatten möge, daß er ganze drei Tage nicht aus dem Bette könne. Ein rascher Wunsch! aber man sehe, mit welchem Zusatze:


– – – utinam quidem

Quod cum salute ejus fiat, ita se defatigarit velim,

Ut triduo hoc perpetuo prorsum e lecto nequeat surgere.


Quod cum salute ejus fiat! Nur müßte es ihm weiter nicht schaden! – So recht! so recht, liebenswürdiger Jüngling! Immer geh, wohin dich Freude und Liebe rufen! Für dich drücken wir gern ein Auge zu! Das Böse, das du begehst, wird nicht sehr böse sein! Du hast einen strengern Aufseher in dir, als selbst dein Vater ist! – Und so sind mehrere Züge in der Szene, aus der diese Stelle genommen ist. Der deutsche Ktesipho ist ein abgefeumter Bube, dem Lügen und Betrug sehr geläufig sind: der römische hingegen ist in der äußersten[683] Verwirrung um einen kleinen Vorwand, durch den er seine Abwesenheit bei seinem Vater rechtfertigen könnte.


Rogabit me: ubi fuerim? quem ego hodie toto non vidi die.

Quid dicam?

SY. Nil ne in mentem venit?

CT. Nunquam quicquam.

SY. Tanto nequior.

Cliens, amicus, hospes, nemo est vobis?

CT. Sunt, quid postea?

SY. Hisce opera ut data sit.

CT. Quae non data sit? Non potest fieri!


Dieses naive, aufrichtige: quae non data sit! Der gute Jüngling sucht einen Vorwand; und der schalkische Knecht schlägt ihm eine Lüge vor. Eine Lüge! Nein, das geht nicht: non potest fieri!

164

Aufz. I. Auft. 3. S. 18.

165

Seite 30.

166

Act. II. Sc. 4.

AE. Hoc mihi dolet, nos paene sero scisse: et paene in eum locum

Rediisse, ut si omnes cuperent, nihil tibi possent auxiliarier.

CT. Pudebat.

AE. Ah, stultitia est istaec, non pudor, tam ob parvulam

Rem paene e patria: turpe dictu. Deos quaeso ut istaec prohibeant.

167

I. Aufz. 6. Auft.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 680-684.
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