Fünf und siebzigstes Stück

[578] Den 19ten Januar, 1768


Diese Gedanken sind so richtig, so klar, so einleuchtend, daß uns dünkt, ein jeder hätte sie haben können und haben müssen. Gleichwohl will ich die scharfsinnigen Bemerkungen des neuen Philosophen dem alten nicht unterschieben; ich kenne jenes Verdienste um die Lehre von den vermischten Empfindungen zu wohl; die wahre Theorie derselben haben wir nur ihm zu danken. Aber was er so vortrefflich auseinandergesetzt hat, das kann doch Aristoteles im Ganzen ungefähr empfunden haben: wenigstens ist es unleugbar, daß Aristoteles entweder muß geglaubt haben, die Tragödie könne und solle nichts als das eigentliche Mitleid, nichts als die Unlust über das gegenwärtige Übel eines andern, erwecken, welches ihm schwerlich zuzutrauen; oder er hat alle Leidenschaften überhaupt, die uns von einem andern mitgeteilet werden, unter dem Worte Mitleid begriffen.

Denn er, Aristoteles, ist es gewiß nicht, der die mit Recht getadelte Einteilung der tragischen Leidenschaften in Mitleid und Schrecken gemacht hat. Man hat ihn falsch verstanden, falsch übersetzt. Er spricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und seine Furcht ist durchaus nicht die Furcht, welche uns das bevorstehende Übel eines andern, für diesen andern, erweckt, sondern es ist die[578] Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es ist die Furcht, daß die Unglücksfälle, die wir über diese verhänget sehen, uns selbst treffen können; es ist die Furcht, daß wir der bemitleidete Gegenstand selbst werden können. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.

Aristoteles will überall aus sich selbst erklärt werden. Wer uns einen neuen Kommentar über seine Dichtkunst liefern will, welcher den Dacierschen weit hinter sich läßt, dem rate ich, vor allen Dingen die Werke des Philosophen vom Anfange bis zum Ende zu lesen. Er wird Aufschlüsse für die Dichtkunst finden, wo er sich deren am wenigsten vermutet; besonders muß er die Bücher der Rhetorik und Moral studieren. Man sollte zwar denken, diese Aufschlüsse müßten die Scholastiker, welche die Schriften des Aristoteles an den Fingern wußten, längst gefunden haben. Doch die Dichtkunst war gerade diejenige von seinen Schriften, um die sie sich am wenigsten bekümmerten. Dabei fehlten ihnen andere Kenntnisse, ohne welche jene Aufschlüsse wenigstens nicht fruchtbar werden konnten: sie kannten das Theater und die Meisterstücke desselben nicht.

Die authentische Erklärung dieser Furcht, welche Aristoteles dem tragischen Mitleid beifüget, findet sich in dem fünften und achten Kapitel des zweiten Buchs seiner Rhetorik. Es war gar nicht schwer, sich dieser Kapitel zu erinnern; gleichwohl hat sich vielleicht keiner seiner Ausleger ihrer erinnert, wenigstens hat keiner den Gebrauch davon gemacht, der sich davon machen läßt. Denn auch die, welche ohne sie einsahen, daß diese Furcht nicht das mitleidige Schrecken sei, hätten noch ein wichtiges Stück aus ihnen zu lernen gehabt: die Ursache nämlich, warum der Stagirit dem Mitleid hier die Furcht, und warum nur die Furcht, warum keine andere Leidenschaft, und warum nicht mehrere Leidenschaften, beigesellet habe. Von dieser Ursache wissen sie nichts, und ich möchte wohl hören, was sie aus ihrem Kopfe antworten würden, wenn man sie fragte: warum z. E. die Tragödie nicht eben so wohl Mitleid und Bewunderung, als Mitleid und Furcht, erregen könne und dürfe?[579]

Es beruhet aber alles auf dem Begriffe, den sich Aristoteles von dem Mitleiden gemacht hat. Er glaubte nämlich, daß das Übel, welches der Gegenstand unsers Mitleidens werden solle, notwendig von der Beschaffenheit sein müsse, daß wir es auch für uns selbst, oder für eines von den Unsrigen, zu befürchten hätten. Wo diese Furcht nicht sei, könne auch kein Mitleiden Statt finden. Denn weder der, den das Unglück so tief herabgedrückt habe, daß er weiter nichts für sich zu fürchten sähe, noch der, welcher sich so vollkommen glücklich glaube, daß er gar nicht begreife, woher ihm ein Unglück zustoßen könne, weder der Verzweifelnde noch der Übermütige, pflege mit andern Mitleid zu haben. Er erkläret daher auch das Fürchterliche und das Mitleidswürdige, eines durch das andere. Alles das, sagt er, ist uns fürchterlich, was, wenn es einem andern begegnet wäre, oder begegnen sollte, unser Mitleid erwecken würde:124 und alles das finden wir mitleidswürdig, was wir fürchten würden, wenn es uns selbst bevorstünde. Nicht genug also, daß der Unglückliche, mit dem wir Mitleiden haben sollen, sein Unglück nicht verdiene, ob er es sich schon durch irgend eine Schwachheit zugezogen: seine gequälte Unschuld, oder vielmehr seine zu hart heimgesuchte Schuld, sei für uns verloren, sei nicht vermögend, unser Mitleid zu erregen, wenn wir keine Möglichkeit sähen, daß uns sein Leiden auch treffen könne. Diese Möglichkeit aber finde sich alsdenn, und könne zu einer großen Wahrscheinlichkeit erwachsen, wenn ihn der Dichter nicht schlimmer mache, als wir gemeiniglich zu sein pflegen, wenn er ihn vollkommen so denken und handeln lasse, als wir in seinen Umständen würden gedacht und gehandelt haben, oder wenigstens glauben, daß wir hätten denken und handeln müssen: kurz, wenn er ihn mit uns von gleichem[580] Schrot und Korne schildere. Aus dieser Gleichheit entstehe die Furcht, daß unser Schicksal gar leicht dem seinigen eben so ähnlich werden könne, als wir ihm zu sein uns selbst fühlen: und diese Furcht sei es, welche das Mitleid gleichsam zur Reife bringe.

So dachte Aristoteles von dem Mitleiden, und nur hieraus wird die wahre Ursache begreiflich, warum er in der Erklärung der Tragödie, nächst dem Mitleiden, nur die einzige Furcht nannte. Nicht als ob diese Furcht hier eine besondere, von dem Mitleiden unabhängige Leidenschaft sei, welche bald mit bald ohne dem Mitleid, so wie das Mitleid bald mit bald ohne ihr, erreget werden könne; welches die Mißdeutung des Corneille war: sondern weil, nach seiner Erklärung des Mitleids, dieses die Furcht notwendig einschließt; weil nichts unser Mitleid erregt, als was zugleich unsere Furcht erwecken kann.

Corneille hatte seine Stücke schon alle geschrieben, als er sich hinsetzte, über die Dichtkunst des Aristoteles zu kommentieren.125 Er hatte funfzig Jahre für das Theater gearbeitet: und nach dieser Erfahrung würde er uns unstreitig vortreffliche Dinge über den alten dramatischen Kodex haben sagen können, wenn er ihn nur auch während der Zeit seiner Arbeit fleißiger zu Rate gezogen hätte. Allein dieses scheinet er, höchstens nur in Absicht auf die mechanischen Regeln der Kunst, getan zu haben. In den wesentlichern ließ er sich um ihn unbekümmert, und als er am Ende fand, daß er wider ihn verstoßen, gleichwohl nicht wider ihn verstoßen haben wollte: so suchte er sich durch Auslegungen zu helfen, und ließ seinen vorgeblichen Lehrmeister Dinge sagen, an die er offenbar nie gedacht hatte.

Corneille hatte Märtyrer auf die Bühne gebracht, und sie als die vollkommensten untadelhaftesten Personen geschildert;[581] er hatte die abscheulichsten Ungeheuer in dem Prusias, in dem Phokas, in der Kleopatra aufgeführt: und von beiden Gattungen behauptet Aristoteles, daß sie zur Tragödie unschicklich wären, weil beide weder Mitleid noch Furcht erwecken könnten. Was antwortet Corneille hierauf? Wie fängt er es an, damit bei diesem Widerspruche weder sein Ansehen, noch das Ansehen des Aristoteles leiden möge? »O, sagt er, mit dem Aristoteles können wir uns hier leicht vergleichen.126 Wir dürfen nur annehmen, er habe eben nicht behaupten wollen, daß beide Mittel zugleich, sowohl Furcht als Mitleid, nötig wären, um die Reinigung der Leidenschaften zu bewirken, die er zu dem letzten Endzwecke der Tragödie macht: sondern nach seiner Meinung sei auch eines zureichend. – Wir können diese Erklärung, fährt er fort, aus ihm selbst bekräftigen, wenn wir die Gründe recht erwägen, welche er von der Ausschließung derjenigen Begebenheiten, die er in den Trauerspielen mißbilliget, gibt. Er sagt niemals: dieses oder jenes schickt sich in die Tragödie nicht, weil es bloß Mitleiden und keine Furcht erweckt; oder dieses ist daselbst unerträglich, weil es bloß die Furcht erweckt, ohne das Mitleid zu erregen. Nein; sondern er verwirft sie deswegen, weil sie, wie er sagt, weder Mitleid noch Furcht zuwege bringen, und gibt uns dadurch zu erkennen, daß sie ihm deswegen nicht gefallen, weil ihnen sowohl das eine als das andere fehlet, und daß er ihnen seinen Beifall nicht versagen würde, wenn sie nur eines von beiden wirkten.«

124

'Ως δ' άπλως ειπειν, φοβερα εσιν, όσα εφ' έτε ρων γιγνομενα, η μελλοντα, ελεεινα εσιν. Ich weiß nicht, was dem Aemilius Portus (in seiner Ausgabe der Rhetorik, Spirae 1598) eingekommen ist, dieses zu übersetzen: Denique ut simpliciter loquar, formidabilia sunt, quaecunque simulac in aliorum potestatem venerunt, vel ventura sunt, miseranda sunt. Es muß schlechtweg heißen, quaecunque simulac aliis evenerunt, vel eventura sunt.

125

Je hazarderai quelque chose sur cinquante ans de travail pour la scène, sagt er in seiner Abhandlung über das Drama. Sein erstes Stück, Melite, war von 1625, und sein letztes, Surena, von 1675; welches gerade die funfzig Jahr ausmacht, so daß es gewiß ist, daß er, bei den Auslegungen des Aristoteles, auf alle seine Stücke ein Auge haben konnte, und hatte.

126

Il est aisé de nous accommoder avec Aristote etc.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 578-582.
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