Zwei und neunzigstes Stück

[654] Den 18ten März, 1768


Und warum könnte das Letztere nicht sein? Finde ich doch noch einen andern, nicht minder trefflichen Kunstrichter, der sich fast eben so ausdrückt als Diderot, fast eben so gerade zu dem Aristoteles zu widersprechen scheint, und gleichwohl im Grunde so wenig widerspricht, daß ich ihn vielmehr unter allen Kunstrichtern für denjenigen erkennen muß, der noch das meiste Licht über diese Materie verbreitet hat.

Es ist dieses der englische Kommentator der Horazischen Dichtkunst, Hurd: ein Schriftsteller aus derjenigen Klasse, die durch Übersetzungen bei uns immer am spätesten bekannt werden. Ich möchte ihn aber hier nicht gern anpreisen, um diese seine Bekanntmachung zu beschleunigen. Wenn der Deutsche, der ihr gewachsen wäre, sich noch nicht gefunden hat: so dürften vielleicht auch der Leser unter uns noch nicht viele sein, denen daran gelegen wäre. Der fleißige Mann, voll guten Willens, übereile sich also lieber damit nicht, und sehe, was ich von einem noch unübersetzten gutem Buche hier sage, ja für keinen Wink an, den ich seiner allezeit fertigen Feder geben wollen.

Hurd hat seinem Kommentar eine Abhandlung, über die verschiednen Gebiete des Drama, beigefügt. Denn er glaubte bemerkt zu haben, daß bisher nur die allgemeinen Gesetze dieser Dichtungsart in Erwägung gezogen worden, ohne die Grenzen der verschiednen Gattungen derselben festzusetzen. Gleichwohl müsse auch dieses geschehen, um von dem eigenen Verdienste einer jeden Gattung insbesondere ein billiges Urteil zu fällen. Nachdem er also die Absicht des Drama überhaupt, und der drei Gattungen desselben, die er vor sich findet, der Tragödie, der Komödie und des Possenspiels, insbesondere festgesetzt: so folgert er, aus jener allgemeinen und aus diesen besondern Absichten, sowohl diejenigen Eigenschaften, welche sie unter sich gemein haben, als diejenigen, in welchen sie von einander unterschieden sein müssen.

Unter die letztern rechnet er, in Ansehung der Komödie[654] und Tragödie, auch diese, daß der Tragödie eine wahre, der Komödie hingegen eine erdichtete Begebenheit zuträglicher sei. Hierauf fährt er fort: The same genius in the two dramas is observable, in their draught of characters. Comedy makes all its characters general; Tragedy particular. The ›Avare‹ of Moliere is not so properly the picture of a covetous man, as of covetousness itself. Racine's ›Nero‹ on the other hand, is not a picture of cruelty, but of a cruel man. D. i. »In dem nämlichen Geiste schildern die zwei Gattungen des Drama auch ihre Charaktere. Die Komödie macht alle ihre Charaktere general; die Tragödie partikular. Der Geizige des Moliere ist nicht so eigentlich das Gemälde eines geizigen Mannes, als des Geizes selbst. Racines ›Nero‹ hingegen ist nicht das Gemälde der Grausamkeit, sondern nur eines grausamen Mannes.«

Hurd scheinet so zu schließen: wenn die Tragödie eine wahre Begebenheit erfodert, so müssen auch ihre Charaktere wahr, das ist, so beschaffen sein, wie sie wirklich in den Individuis existieren; wenn hingegen die Komödie sich mit erdichteten Begebenheiten begnügen kann, wenn ihr wahrscheinliche Begebenheiten, in welchen sich die Charaktere nach allen ihrem Umfange zeigen können, lieber sind, als wahre, die ihnen einen so weiten Spielraum nicht erlauben, so dürfen und müssen auch ihre Charaktere selbst allgemeiner sein, als sie in der Natur existieren; angesehen dem Allgemeinen selbst, in unserer Einbildungskraft eine Art von Existenz zukömmt, die sich gegen die wirkliche Existenz des Einzeln eben wie das Wahrscheinliche zu dem Wahren verhält.

Ich will itzt nicht untersuchen, ob diese Art zu schließen nicht ein bloßer Zirkel ist: ich will die Schlußfolge bloß annehmen, so wie sie da liegt, und wie sie der Lehre des Aristoteles schnurstracks zu widersprechen scheint. Doch, wie gesagt, sie scheint es bloß, welches aus der weitern Erklärung des Hurd erhellet.

Es wird aber, fährt er fort, hier dienlich sein, einer doppelten Verstoßung vorzubauen, welche der eben angeführte Grundsatz zu begünstigen scheinen könnte.[655]

Die erste betrifft die Tragödie, von der ich gesagt habe, daß sie partikuläre Charaktere zeige. Ich meine, ihre Charaktere sind partikulärer, als die Charaktere der Komödie. Das ist: die Absicht der Tragödie verlangt es nicht und erlaubt es nicht, daß der Dichter von den charakteristischen Umständen, durch welche sich die Sitten schildern, so viele zusammen zieht, als die Komödie. Denn in jener wird von dem Charakter nicht mehr gezeigt, als so viel der Verlauf der Handlung unumgänglich erfodert. In dieser hingegen werden alle Züge, durch die er sich zu unterscheiden pflegt, mit Fleiß aufgesucht und angebracht.

Es ist fast, wie mit dem Portraitmalen. Wenn ein großer Meister ein einzelnes Gesicht abmalen soll, so gibt er ihm alle die Lineamente, die er in ihm findet, und macht es Gesichtern von der nämlichen Art nur so weit ähnlich, als es ohne Verletzung des allergeringsten eigentümlichen Zuges geschehen kann. Soll eben derselbe Künstler hingegen einen Kopf überhaupt malen, so wird er alle die gewöhnlichen Mienen und Züge zusammen anzubringen suchen, von denen er in der gesammten Gattung bemerkt hat, daß sie die Idee am kräftigsten ausdrücken, die er sich itzt in Gedanken gemacht hat, und in seinem Gemälde darstellen will.

Eben so unterscheiden sich die Schildereien der beiden Gattungen des Drama: woraus denn erhellet, daß, wenn ich den tragischen Charakter partikular nenne, ich bloß sagen will, daß er die Art, zu welcher er gehöret, weniger vorstellig macht, als der komische; nicht aber, daß das, was man von dem Charakter zu zeigen für gut befindet, es mag nun so wenig sein, als es will, nicht nach dem Allgemeinen entworfen sein sollte, als wovon ich das Gegenteil anderwärts behauptet und umständlich erläutert habe.151[656] Was zweitens die Komödie anbelangt, so habe ich gesagt, daß sie generale Charaktere geben müsse, und habe zum Beispiele den ›Geizigen‹ des Moliere angeführt, der mehr der Idee des Geizes, als eines wirklichen geizigen Mannes entspricht. Doch auch hier muß man meine Worte nicht in aller ihrer Strenge nehmen. Moliere dünkt mich in diesem Beispiele selbst fehlerhaft; ob es schon sonst, mit der erforderlichen Erklärung, nicht ganz unschicklich sein wird, meine Meinung begreiflich zu machen.

Da die komische Bühne die Absicht hat, Charaktere zu schildern, so meine ich kann diese Absicht am vollkommensten erreicht werden, wenn sie diese Charaktere so allgemein macht, als möglich. Denn indem auf diese Weise die in dem Stücke aufgeführte Person gleichsam der Repräsentant aller Charaktere dieser Art wird, so kann unsere Lust an der Wahrheit der Vorstellung so viel Nahrung darin finden, als nur möglich. Es muß aber sodann diese Allgemeinheit sich nicht bis auf unsern Begriff von den möglichen Wirkungen des Charakters, im Abstracto betrachtet, erstrecken, sondern nur bis auf die wirkliche Äußerung seiner Kräfte, so wie sie von der Erfahrung gerechtfertiget werden, und im gemeinen Leben Statt finden können. Hierin haben Moliere, und vor ihm Plautus, gefehlt; statt der Abbildung eines geizigen Mannes, haben sie uns eine grillenhafte widrige Schilderung der Leidenschaft des Geizes gegeben. Ich nenne es eine grillenhafte Schilderung, weil sie kein Urbild in der Natur hat. Ich nenne es eine widrige Schilderung; denn da es die Schilderung einer einfachen unvermischten Leidenschaft ist, so fehlen ihr alle die Lichter und Schatten, deren richtige Verbindung allein ihr Kraft und Leben erteilen könnte. Diese Lichter und Schatten sind die Vermischung verschiedener Leidenschaften, welche mit der vornehmsten oder herrschenden Leidenschaft zusammen den menschlichen Charakter ausmachen; und diese Vermischung muß sich in jedem dramatischen Gemälde von Sitten finden, weil es zugestanden ist, daß das Drama vornehmlich das wirkliche Leben abbilden soll. Doch aber muß die Zeichnung der herrschenden Leidenschaft so allgemein entworfen sein, als es ihr Streit mit[657] den andern in der Natur nur immer zulassen will, damit der vorzustellende Charakter sich desto kräftiger ausdrücke.

151

Bei den Versen der Horazischen Dichtkunst: Respicere exemplar vitae morumque jubebo Doctum imitatorem, et veras hinc ducere voces, wo Hurd zeiget, daß die Wahrheit, welche Horaz hier verlangt, einen solchen Ausdruck bedeute, als der allgemeinen Natur der Dinge gemäß ist; Falschheit hingegen das heiße, was zwar dem vorhabenden besondern Falle angemessen, aber nicht mit jener allgemeinen Natur übereinstimmend sei.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 654-658.
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