Der Schäferstab

[273] Schön war der Schäferstab des jungen Daphnis; von Zypressen war der schlanke Stab; der krönende Knopf, Oleaster.

Und o, was für Wunder hatte der ätolische Künstler, um[273] den Knopf geschnitzt; Daphnis gab ihm dafür drei Lämmer mit ihren säugenden Müttern, aber er war eine Herde, mehr als eine ganze Herde wert.

So wert hielt ihn auch Daphnis; werter, wie seine zwei Augen; werter, als Polyphem sein einziges Auge.

Lange Zeit schien ihm keine Hirtin so schön, als sein Stab. Aber Amor erzürnte über den eiteln Jüngling – und Daphnis sahe die lächelnde Corysia.

Nun schien ihm eine Hirtin schöner als sein Stab! Er staunte, wünschte, gestand, flehte, weinte – blieb unerhört.

Unerhört bis an den dritten Abend. Da trieb Corysia spät bei ihm vorbei; die Dämmerung machte den Hirten kühner, die Hirtin gefälliger; er verdankte der Dämmerung zwei Küsse, halb geraubte, halb gegebene Küsse! – O der Entzückung! o der tobenden Freude des Hirten!

O Zwillinge der honigsüßen Lippen meiner Corysia! o unvergeßliche Küsse! So rief Daphnis und wollte ihre Zahl mit zwei tiefen Kerben in die junge Linde schneiden, die er vor allen am heiligen Quell liebte.

Aber – fragte sich der Hirte – Warum in die Linde? Kann ich immer unter der Linde liegen, und die Kerbe im Auge haben? Da steht sie fest und eingewurzelt, bestimmt nur einen kleinen Umfang zu beschließen. – Sie kann nicht mit mir wohnen.

Aber mein Stab kann mit mir gehn – Mein schöner Stab so schöner Zeichen nicht unwürdig!

Und er schnitt – grausamer Hirt! – zwei tiefe Kerbe in den Stab, in der Form von Lippen, nahe unter dem Knopfe, wo die Hand gewöhnlich lag, und küßte und drückte den Ort, als ob es die weiche Hand der Corysia wäre, und faßte von nun an den Stab nirgends als über die Kerbe.

Nicht wenig günstig war dem Daphnis der folgende Tag, und der Stab bekam drei Lippen mehr; und den Morgen darauf sieben.

Wie freue ich mich, sprach er, dich bald vollendet zu sehen, bald voller kleiner Lippen. Corysia habe ich mit Untergang der Sonne in den Hain bestellt, die Nachtigall mit ihr zu hören – –[274]

Das hast du getan Corysia? Zu gefällige Corysia! o brich dein Wort, wenn dir dein Schäfer lieb ist –

Umsonst sie fanden sich im Haine! Und o der unzählichen Zahl von Küssen! Jeden Ton der Nachtigall begleitete ein Kuß. Mich jammert der Stab –

Gesättigt trennt sich mein Paar – – Morgen, sind wir doch wieder hier? sagte das Mädchen – und der Hirte ging und warf sich auf sein Lager von Fellen – – Er schläft, er erwacht. – Und was wird das erste sein, als seinen Stab zu kerben? – – Doch er sahe die Unmöglichkeit, sie alle zu merken – und diese Unmöglichkeit, alle Küsse zu behalten, verwundete sie – Daphnis sprach kaltsinnig, Schade, daß ich den schönen Stab so verdorben, ich will ihn nicht weiter verderben –

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 1, München 1970 ff., S. 273-275.
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