Dreizehntes Kapitel

[237] In Franzensbad, wo die Gesellschaft wenig Gelegenheit zu unterhaltenden Ausflügen und überhaupt wenig Zerstreuungen hatte, während sie alltäglich ein paar Mal am Brunnen zusammenkam, waren die wenigen Personen, an deren Namen sich irgend eine Bedeutung oder auch nur ein Gedanke anknüpfen ließ, natürlich Gegenstände der Neugier; und da man sich im Ganzen außerordentlich langweilte, machte man sich ein Gewerbe und eine Aufgabe aus dem Geringsten.

»Den Mohren des Baron Koller, den großen Affen der Frau von Obst und den Kronprinzen von Baiern habe ich schon gesehen, nun muß ich noch die Lewald sehen!« hörte ich wörtlich eines Morgens am Brunnen eine Dame mit dem größten Eifer sagen, deren aufgeregtes Wesen mir schon früher aufgefallen war. Ich wußte nun doch, wohin ich den Antheil zu stellen hatte, mit welchem manche Personen mir begegneten; indeß es waren dafür auch andere Leute da, die mir wirklich Neigung bewiesen, und ich würde mich derselben reiner und hingebender erfreut haben, hätten nicht schwere Sorgen um meines jüngsten Bruders Schicksal mir das Herz bedrückt.

Der Verlust, den er lange gefürchtet, hatte ihn getroffen,[237] das Mädchen, an dem seine Seele hing, war, ohne sich verheirathet zu haben, gestorben. Er hatte ihr das Versprechen gegeben, bei ihr auszuharren bis zum letzten Augenblicke, und er hatte das gehalten, er hatte ihr die Augen zugedrückt. Sein Schmerz war groß, der Ausdruck desselben stark und naiv, wie er selbst es bis zu seinem Ende geblieben ist. Mit Camilla's Tode war ihm der Ort, an welchem er sie gekannt und verloren, zu einer völligen Einöde geworden, und es hatten sich seiner eine heftige Unruhe, ein Verlangen nach einem Wechsel bemächtigt, die ihn unstät von einem Vorsatz zu dem andern überschweifen ließen. Er wollte heute mit einem russischen Edelmann als dessen Arzt auf Reisen gehen, morgen Dienste nehmen und die Campagne gegen die Tscherkessen mitmachen. Dann wieder anerkannte er, daß er eine Praxis, eine Geltung in seinem Lebenskreise erlangt habe, welche ohne irgend eine andere entschädigende Aussicht aufzugeben, kein unbedenklicher Entschluß sei, daß er Kenntnisse erworben, in seinem Fache Erfahrungen gemacht, die nur einer weitern Ausbreitung und fortgesetzten Beobachtung bedurften, um für ihn und seine Wissenschaft ersprießlich zu wirken. Und mitten in diesem Wollen und Streben, mitten in dieser Verzagtheit und Verzweiflung, verstrickte er sich plötzlich wieder in ein neues Liebesverhältniß, das ihn vollends mit sich in Zwiespalt brachte, ihm den Sinn verstörte, das Herz zertheilte, und ihm das längere Verweilen an seinem bisherigen Aufenthaltsorte nun als eine völlige Unmöglichkeit erscheinen ließ.

Er verlangte ganz neue Lebensverhältnisse, eine Thätigkeit, die ihm kein Besinnen, keine Zeit zu Erinnerungen[238] übrig ließen, er sehnte sich nach Eindrücken, die ihn von sich selber abwendeten, und er hoffte das Alles im Süden von Rußland zu finden, wo der Krieg gegen die Tscherkessen die Geister in Spannung erhielt, wo eine ihm neue und großartige Natur, fremde Völker und Sitten, fremde Lebensweise, neue Krankheitsformen ihm entgegentreten mußten, und wo Kultur und Unkultur, Tyrannei und Willkür, Gesetz und Zügellosigkeit, einander noch nahe genug standen, um durch ihren Zusammenstoß einem in sich ringenden und mit sich selbst halb zerfallenen Gemüthe reizend und verlockend zu erscheinen.

Wäre er raschen Entschlusses von Brest fortgegangen, und hätte aus dem Süden Nachricht davon gegeben, so würde man sich bald darin gefunden haben, denn die vollendete Thatsache ist eine zwingende Gewalt. Aber da sein ganzes Wesen ein zwiespältiges, seine Natur eine problematische war, so gewann er es nicht über sich, seinen Vorsatz aus eigener Machtvollkommenheit auszuführen. Er forderte die Zustimmung des Vaters für seinen beabsichtigten Schritt, und mein Vater, dessen Bedenken gegen einen Plan, welcher in solcher Verfassung zur Ausführung gebracht werden sollte, nur zu begreiflich waren, wollte von einer weiteren Entfernung seines Sohnes nicht reden hören, sondern verlangte dringend dessen Rückkehr in die Heimath, zu welcher auch wir, nach des Vaters Wunsch und Weisung, den Bruder zu bestimmen suchen sollten.

Wer aber in einem Zustande leidenschaftlicher Verwirrung es nicht nur mit sich selbst, sondern mit der Zärtlichkeit und den Besorgnissen einer großen Familie[239] zu thun hat, ist übel daran, und doppelt übel, wenn jedes Familienmitglied sich nach der alten höchst thörichten und unheilvollen Idee der allgemeinen Gleichheit mitzusprechen herausnimmt. In der That besteht aber eine völlige Gleichberechtigung in den Familien eben so wenig, als sie in irgend einem andern Lebensverhältnisse bestehen kann, da Anlage, Begabung, Entwicklung, Einsicht und geistiges Vermögen überall einen Unterschied erzeugen und bedingen, und so waren es denn auch in unserm Hause natürlich nur der älteste Sohn und ich, mit welchen mein Vater, je nach dem Anlaß, das, was geschehen sollte, zu überlegen und zu berathen pflegte. Indeß, da doch Alles mehr oder weniger zur allgemeinen Besprechung gelangte, so gab es in entscheidenden Krisen für denjenigen, welcher sich in ihnen befand, ein Bitten, Meinen, Vorstellen und Rathen, das den ohnehin Bedrängten, je weicher er war, um so mehr zur Verzweiflung bringen mußte, als gar nichts Vernünftiges zu Stande kommen konnte, wo die Rathenden fünf völlig unerfahrne junge Frauenzimmer waren, auf deren unschuldiger Lebensunkenntniß man sich in allen andern Fällen noch besonders etwas zu Gute that. Es war auch für mich mitunter eine wahre Marter, dieses Meinen und Wünschen der Familie.

Moritz sah sich denn ebenfalls von den Schwestern mit dringenden Abmahnungen, mit zärtlichster Sorge bestürmt. Man beschwor ihn heimzukehren, man hielt ihm vor, daß der Vater die Höhe des Mannesalters überschritten habe, man erinnerte ihn an die Fülle der Liebe, welche ihn im Vaterhause erwartete, und welche die berathenden jungen Mädchen natürlich noch als das höchste[240] Glück erachteten. Sie waren in diesem ihrem guten Glauben um so dringender, je mehr der Vater ihre Ansicht gut hieß, und je weniger sie eine Ahnung davon haben konnten, daß einem mit sich zerfallenen, nach überwältigender Zerstreuung, nach Vergessenheit lechzenden Menschen nichts Unerträglicheres aufgebürdet werden kann, als die friedliche Stille des Familienlebens, als die Aussicht von liebenden Augen und Herzen beobachtet zu werden, und deßhalb streng verbergen zu müssen, was man leidet. Ein Gefängniß und ein Gefangenwärter, der ihn antheillos gewähren läßt, können in gewissen Fällen einem Menschen, im Vergleich zu dem Dasein in einer zärtlichen Familie, als ein Glück erscheinen; denn rücksichtslos für sich zu leben, rücksichtslos leiden zu dürfen, ist unter Verhältnissen wirklich das Einzige, was man nöthig hat, was man begehrt.

»Und schlägt man mir die Räder vom Wagen, so gehe ich zu Fuß,« hatte Moritz nach allen diesen Abmahnungen und Bitten uns endlich einmal geschrieben. »Als man mich überhaupt nach Rußland gehen ließ, hat man Etwas gewollt, und die dazu nothwendigen Bedingungen nicht gewollt. Jetzt weiß ich, was ich will, und werde es ausführen. So leid es mir thut, dem besten Vater so entschieden opponiren und ihm Sorge machen zu müssen, so kann ich doch nicht anders. Ich gehe direkt nach Tiflis. Der erste Brief von dort wird allen diesen Sorgen dann auf einmal den Boden einschlagen, und wieder heiter Wetter in der Familie schaffen.« Wie konnte man den so Entschlossenen halten wollen!

Wir hatten einen schweren Stand! Es galt die Zärtlichkeit[241] der Schwestern, die lebhafte Unruhe meines Vaters zu bekämpfen. Der letztere mußte es einsehen, und hatte es an mir selber eben so erfahren müssen, daß der Lebensweg eines Menschen auch von dem besten Willen seines Vaters nicht zu bestimmen ist, daß auch innerhalb enger, streng aufrecht erhaltener Schranken, schließlich jeder Einzelne die Entwicklung nimmt, welche ihm die gemäße ist, aber – und hier lag die schwache Seite meines Vaters – er mochte es sich nicht eingestehen, daß er in der Leitung und Lebensbestimmung seines zweiten Sohnes von vornherein geirrt, daß er den Charakter dieses Sohnes nicht verstanden, seine eigentliche Natur nicht erkannt, und ihn deßhalb von Anfang an falsch behandelt und geleitet habe. Statt sich zu sagen, daß man diesen jungen Mann gleich Anfangs hätte auf einen Boden verpflanzen müssen, auf dem er seine Natur durch Anstrengungen zu ermüden und damit in das Gleichgewicht zu bringen gehabt hätte, statt sich zu erinnern, wie dringend später der älteste Bruder und ich von der Ansiedelung in dem kleinen Orte abgerathen, wie sehr wir uns dafür erklärt, daß man Moritz im russischen Heere Dienste nehmen lasse, wenn er überhaupt nach Rußland gehen solle, hatte mein Vater auch jetzt nur immer den einen Gedanken, den Sohn in sogenannte ruhige bürgerliche Verhältnisse zurückkehren zu sehen, obschon derselbe fest und wiederholt erklärte, daß er in diesen für den Augenblick nicht auszudauern vermöge.

Junge Leute aus guten und überzärtlichen Familien haben es in solchen Fällen schwer. Sie gelangen nur selten zu einer ihnen gemäßen freien Entwicklung, weil man für sie die Möglichkeit der Gefahr zu sehr in's Auge[242] faßt; sie bringen es nicht leicht zu etwas Tüchtigem, weil sie eben durch die Vorsorge der Ihrigen nicht in die Lage kommen, ihre wahren Kräfte kennen und brauchen zu lernen. Ich hielt meinem Vater in diesem Sinne das Register der Personen vor, mit welchen ich in den letzten Jahren in Berlin bekannt geworden war, und die sich in den schwierigsten Lebenslagen in fernen Welttheilen bewegt hatten, ohne deßhalb unterzugehen. Wir gaben ihm zu bedenken, daß der Arzt am Krankenbette alltäglich sein Leben einzusetzen habe, wir verlangten endlich für den Bruder nur eine bedingte Freiheit, er sollte, sofern der Vater dies begehrte, das Versprechen geben, binnen Jahresfrist zurückzukehren, nachdem er Südrußland, den Kaukasus, Grusien und Persien gesehen haben würde, wohin er sich zu wenden beabsichtigte – und nach langem Schreiben und Verhandeln willigte denn mein Vater endlich darin ein. Aber er war so niedergebeugt von der Aussicht, Moritz einen ihm fremden und neuen Weg einschlagen zu lassen, er war so verstimmt darüber, seine Meinung, seinen Willen und seine Wünsche von seinen ältesten Kindern nicht getheilt, ja bestritten und besiegt zu sehen, daß diese Gebeugtheit, ohne daß er es beabsichtigte, aus jedem seiner Briefe zu lesen war.

Zum ersten Male sprach er davon im Tone der Resignation, daß er wohl fühle, wie das Alter sich ihm nahe, wie die jüngere Generation über ihn hinauszuwachsen scheine, zum ersten Male brauchte er die Wendung: »Da Ihr das besser zu verstehen scheint, als ich,« und ich hatte dieser Klage gegenüber nur das eine Verlangen, sobald als möglich Franzensbad zu verlassen, und[243] zu meinem Vater zu eilen, um ihm mit meiner Gegenwart Ersatz für die weitere Entfernung des Sohnes, und in meiner Heiterkeit und Zufriedenheit ein Gegengewicht für die Sorge zu bieten, welche ihn bekümmerte.

Wir wurden jedoch bis in die ersten Tage des September in Franzensbad festgehalten, und sahen eine ganze Gallerie von Kurgästen an uns vorüber ziehen. Wer genöthigt ist, lange in einem Badeorte zu verweilen, bekommt eine allegorische Vorstellung von dem Lebenslauf des Menschen. Wie man in seiner Jugend unter fertigen Menschen fremd und unbekannt in das Leben eintritt, so erscheint man in einem Badeorte in dem Kreise derjenigen, welche sich dort bereits festgesetzt und eingebürgert haben. Man erregt und empfindet Neugier, man hat mancherlei kennen zu lernen, man gewinnt Theilnahme, faßt Neigung, reiht sich in das Leben der Anwesenden ein, und kaum daß man sich zu ihnen zählen kann, kaum daß man sich ihnen verbunden hat, so gehen diejenigen fort, auf welche wir uns gestützt; und wir werden die herrschende Generation. Neue Ankömmlinge nähern sich uns jetzt, wir sind die Wissenden, die Alten; aber nur zu bald müssen wir fühlen, daß unsere Zeit sich ihrem Ende naht, denn wir haben allmählig von denen zu scheiden, die mit uns zusammen in die Reihen traten. Wir bemerken, wie der Kreis der Freunde, der Zeitgenossen um uns her sich lichtet, und trotz des Schmerzes über die täglichen Verluste können wir es nicht lassen, die Generation unserer Nachfolger an uns heranzuziehen, und ein neues Zusammenleben mit ihnen zu beginnen. So kommt es denn, daß, wenn nun endlich die Stunde des Scheidens für[244] uns selber schlägt, und alle unsere Zeitgenossen von uns hinweg gegangen sind, wir doch wieder vor schmerzlichen Trennungen und schwerem Losreißen stehen, und daß wir die Kette von Liebe und Leid, welche die Menschheit an einander fesselt, in unsern letzten Stunden als eine unendliche, die Vergangenheit mit der Zukunft verbindende, kennen lernen.

Zu solchen Betrachtungen boten aber grade die letzten Tage, welche wir in Franzensbad verlebten, kaum die Ruhe dar. Ein Theil unserer preußischen Landsleute war durch den Mordversuch, welchen der Bürgermeister Tschech eben damals gegen den König Friedrich Wilhelm den Vierten unternommen hatte, erschreckt und in Spannung und Aufregung versetzt worden, und die Böhmen und Oesterreicher hatten ihrerseits noch größere Befürchtungen und Sorgen. Durch mündliche und briefliche Mittheilungen erhielt man fortwährend die Kunde von Unruhen in Prag, die mehr oder weniger lebhaft schon seit Wochen dort herrschen sollten, und deren erste Veranlassung man aus all den Berichten doch nicht recht ersehen konnte. In den Zeitungen war davon nicht viel zu finden. Sie meldeten von leichten Zusammenrottungen, welche von der Polizei ohne Mühe zerstreut worden seien, aber was man von Augenzeugen erfuhr, lautete anders.

Noch als wir in Teplitz gewesen waren, hatten sich einige Familien aus Prag dorthin geflüchtet. Sie waren durch den Tod eines Kindes erschreckt worden, das mitten in einem Zimmer auf dem Arm seiner Wärterin erschossen worden war, und sie wußten von ernsten Straßenkämpfen und von manchem Verlust an Menschenleben zu erzählen. Die[245] Einen sprachen von der großen Noth in den arbeitenden Ständen, die Andern von panslavistischen Umtrieben und allgemeiner Unzufriedenheit mit der österreichischen Regierung, und wieder Andre behaupteten, der Judenhaß, oder gar der Widerwille gegen die Protestanten hätte die erste Veranlassung zu der Aufregung gegeben, die sich noch in immer neuen, wenn schon geringern Störungen der öffentlichen Ruhe kund gab und fortsetzte.

Hörte man diese Erzählungen und sah man zugleich die grenzenlose Armuth der Weiber in einzelnen Dörfern, sah man die Schaaren von Bettlern und Krüppeln, welche in denselben unsere Wagen umringten, und traf man daneben mit Personen aus der Wiener Gesellschaft oder gar mit katholischen Geistlichen zusammen, welche in dem Lande Alles auf das Beste fanden, so wurde man ein solches Durcheinander von Meinungen und Ansichten, einen so entschiedenen Haß zwischen den entgegengesetzten Nationalitäten, Confessionen und Parteien gewahr, daß man sich in ferne Zeiten zurückversetzt glauben, und es sich mit Freuden eingestehen mußte, wie der Geist des Protestantismus in Preußen und in Norddeutschland aufklärend und vermenschlichend, das heißt zur Duldsamkeit mahnend, gewirkt hatte. Denn wie lebhaft der Kampf der katholischen Bischöfe gegen die preußische Regierung auch eben in jener Epoche gewesen war, zum Religionshasse hatte er die verschiedenen Bekenntnisse in Preußen doch nur in den seltensten Fällen aufregen können, und in den großen Städten, dünkt mich, wäre es um religiöser Meinungsverschiedenheit willen nie zu irgend einem thatsächlichen Zeichen feindlicher Gesinnungen gekommen.[246]

In der Franzensbader Gesellschaft, unter den Kranken und Hülfesuchenden, denen die ungestörte Ruhe ihrer Kur die Hauptsache war, hatte sich durch die Nachrichten von den Unruhen ein gewisser Widerwille gegen Prag festgesetzt, und es gab viele Personen, welche es uns widerriethen, uns unnöthig dort hinzuwenden. Ich hatte aber meinen Sinn einmal darauf gestellt, und verließ mich auf das gute Glück, das mir auf Reisen meist zur Seite gestanden. Herzlich froh, die Kur meiner Schwester mit guten Aussichten beendigt zu haben und, nach dem dreizehnwöchentlichen Aufenthalte in zwei Badeorten, endlich wieder in das Gebiet des gesunden Lebens zurückkehren zu können, packte ich an einem Abende unsere Koffer, als ich durch ein junges Mädchen aus einer der armen Baumwollenweber-Familien noch eine mir sehr heilsame Lehre erhielt.

Es war ein hübsches Kind von etwa vierzehn Jahren, das mir einige Ellen eines gestreiften Baumwollenzeuges zum Kaufe anbot. Der Stoff war für mich völlig unbrauchbar, und obenein unverarbeitet nicht ohne Steuer über die Grenze mitzunehmen. Ich lehnte deßhalb den Kauf ab. Die Kleine wiederholte mir ihre Bitte mit dem einfachen Zusatz: »Wir sind sehr arm!« der in ihrem Munde das Gepräge entschiedener und rührender Wahrheit empfing.

Ich fragte nach ihren Verhältnissen. Sie erzählte, der Vater läge seit Monaten am Wechselfieber darnieder, die Mutter habe an seiner Statt gearbeitet, und sie, die Kleine, habe die Geschäfte der Mutter und die sechs noch jüngeren Geschwister versorgt. Nun sei die Mutter seit[247] einiger Zeit auch erkrankt. Der Arzt sage, ohne Medizin werde sie sterben, und der Vater sei also aufgestanden, habe das Zeug, so weit es fertig gewesen, vom Webestuhl geschnitten, und sie nach Franzensbad geschickt, es zu verkaufen. Sie sei nie vorher in Franzensbad gewesen, und seit dem Morgen hier, ohne ihre Waare losschlagen zu können.

Dabei hatte das arme Kind die schönen Augen voll von Thränen, und jenes Wesen stillen Leides, das nie lügt. Ich fragte die Kleine, ob sie Etwas gegessen habe? Man hatte ihr Brod von Hause mitgegeben. So ließ ich sie denn Etwas genießen, gab ihr danach, gewiß mit allem guten Willen, soviel als sie für das Zeug verlangte, und sagte ihr, sie möge den Stoff nur mit nach Hause tragen, oder anderweit zu verkaufen suchen, weil ich ihn wirklich nicht gut mit mir nehmen könne.

Da ward das Kind glühend roth, streckte die Hand verlangend nach dem Silbergelde aus, zog sie aber, als begehe es ein Unrecht, sogleich wieder zurück, und sagte mit gepreßter Stimme: »Ach nehmen Sie doch das Zeug, wir sollen nicht betteln.«

Nie in meinem Leben habe ich mich vor einem Armen so gedemüthigt und so beschämt gefühlt, wie vor diesem Kinde! Kein Maler kann sie darstellen, keine Schauspielerin sie wiedergeben die erschütternde Weise, in welcher die Kleine die Noth und das gekränkte Selbstgefühl der Armuth repräsentirte. Und ich hatte dagestanden und geglaubt, das Rechte und alles Nöthige gethan zu haben, als ich großmüthig einige Zwanziger opferte, die ich eben so leicht für ein nutzloses Band oder für ein noch viel[248] nutzloseres Porzellanpüppchen fortgeworfen hätte, wäre mir der Einfall gekommen, dergleichen besitzen zu wollen. Wir sind aber durchschnittlich die rohe Wohlthätigkeit so sehr gewohnt, daß wir sie kaum noch als eine solche empfinden, wenn nicht irgend ein Zufall uns einmal unser Thun in seinem rechten Lichte erblicken macht.

Ich nahm denn das Zeug und beruhigte die Kleine. Als sie darauf sehr zufrieden ihr Geld einsteckte, fragte ich, ob ich ihr das Zeug zu einem Rocke schenken solle? Sie schüttelte ablehnend den Kopf, aber sie war nun doch zutraulich geworden. Ich zeigte ihr also meine und meiner Schwester Kleider, die zum Verpacken auf den Stühlen umherlagen, erzählte ihr, daß die Schwester auch krank gewesen sei, und wir sehr viel Geld ausgegeben hätten, sie gesund zu machen; und nun fragten wir sie, ob ihre kleinen Schwestern denn ordentliche Kleider hätten? Das verneinte sie. »Weißt Du was,« sagte ich nun endlich, »laufe schnell nach Hause, bringe Deiner Mutter das Geld zur Medizin, und sage ihr, ich hätte Kleider die Menge, sie solle von dem Zeug Kleider für die Jüngsten machen!«

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Sie wurde abermals, aber vor Freude roth, und machte sich nun augenblicklich auf den Weg. Und gewiß, das wenige Geld, das ich der armen Familie gab, war dieser nicht nöthiger, als mir die gute Lehre, wie man Niemand zwingen solle, eine Wohlthat anzunehmen, dem man einen ehrlichen Verdienst zuwenden kann.[249]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 3, Berlin 1871, S. 237-250.
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