Einundzwanzigstes Kapitel

[364] Eines Abends saß ich mit meinem Bruder in meiner Stube, es mochte gegen neun Uhr sein, und wir hatten unser Abendbrod schon eingenommen, als es an meine Thür klopfte. Das war um diese Zeit etwas so Unerhörtes, daß es mich überraschte, und mein Bruder in das Entrée ging, zu hören, was es gäbe.

Es war dunkel in der ersten Stube, ich konnte auch vom Sopha aus nicht sehen, was an der Thüre vorging, hörte aber von einer tiefen Stimme die sonderbare Frage: »Wohnt hier Fanny Lewald?«

»Ja!« antwortete mein Bruder.

»Also richtig! nu! das ist mir lieb!« rief der Fremde, und fügte, auf die in sehr bestimmtem Tone gethane Gegenfrage: »Wer sind Sie und was wünschen Sie?« die mich neugierig aus meinem Zimmer mit der Lampe in die Vorstube gehen machen, in süddeutschem Dialekte die Erklärung hinzu: »Ich bin der Berthold Auerbach, und hatte mir in der Frühe das Wort darauf gegeben, daß ich heute noch auf jeden Fall die Verfasserin der »Jenny« sehen wolle. Darüber ist's aber, weil ich in Gesellschaft war, spät geworden, und ich bin denn doch gekommen, weil ich's mir schon die ganze Woche vorgenommen und immer Abhaltung gefunden hatte.«

Nachdem die erste Verwunderung über diese Art des[364] Besuches vorüber war, hatte ich die große Freude, Auerbach bei mir zu haben. Ich hatte schon alle die Tage von seiner Anwesenheit in Berlin gehört, nun kam er bei mir an, wie der heilige Niklas um Weihnachten, und wie der heilige Niklas hatte er damals alle seine Taschen voll Herrlichkeiten, und warf sie mit der Sorglosigkeit des an Ueberfluß gewöhnten Reichen, auf gut Glück umher, wo er eben Jemand fand, der geneigt war, die Hände aufzuhalten.

Frischer als Auerbach es in jenen Tagen war, habe ich nicht leicht Jemand gesehen, und es hatte damals für mich, deren ganze Bildung im Grunde eine abstrakte war, einen eignen Reiz, Auerbach's Redeweise zu hören, weil sie vollständig von Allem abwich, was ich bis dahin vernommen. Wer eine Zimmer-Erziehung genossen, und einen großen Theil seiner Sprache aus Büchern oder doch von solchen Menschen erlernt hat, deren Sprache sich nach der Schriftsprache gemodelt hat, besitzt von vornherein kein Bedürfniß sich selbst die Sprache zu schaffen. Er hat, wie die italienischen Improvisatoren, in seiner allgemein ausgebildeten Sprache ein großes, fertiges Capital, mit dem er, wenn ihm eine Begabung dafür innewohnte, bequem hantieren kann. Das macht die Sprache flüssig, aber es macht sie auch bei beschränkter Fähigkeit leicht monoton, phraseologisch und abstrakt.

Bei Auerbach fand grade das Gegentheil statt. Reich an Gedanken, hatte er für diese in seiner frühern Jugend sich offenbar den Ausdruck selbst suchen und die Sprache selbst schaffen müssen; und voll von Eindrücken, die er aus der Natur geschöpft, hatte sich ihm, wie das den Juden häufig eigen ist, wo ihm das rechte Wort nicht[365] gleich zur Hand gewesen war, ein Bild dargeboten, welches seine Meinung kund gab. Diese bildliche Ausdrucksweise war ihm geblieben, und alle seine Bilder waren so schlagend, so aus der sichtbaren Natur hergenommen, daß seine Redeweise mir Anfangs etwas Fremdes hatte, und mir es dann zum ersten Male auffallend machte, was mir fehle, und was ich mir anzueignen suchen müsse, wenn ich zu einer Selbstständigkeit im Ausdruck und zu einem Schaffen aus dem Vollen des Lebens gelangen, und mich vor dem Versinken in Abstraktion bewahren wolle.

Auerbach sprach von meinen Arbeiten, von den seinen und von sich. Er schilderte mir den Eindruck, welchen Berlin und namentlich die Bildung der jungen Mädchen aus den jüdischen Familien auf ihn mache, er charakterisirte die trockne Begeisterung, der er hier und da in Norddeutschland begegne, und beschwerte sich über die Hast des Lebens, die ihm in Berlin auffallend war, und die ihn, wie er klagte, sich selbst entwende. Es waren das Bemerkungen und Erfahrungen, welche ich schon von vielen jungen Männern, und namentlich von Süddeutschen gehört hatte, wenn sie sich plötzlich nach Norddeutschland und vollends in einen der großen Mittelpunkte des geistigen Lebens versetzt gefunden hatten. Indeß in Auerbach gewann das ein eigenes Gepräge. Er wollte seinen geistigen Zustand kund geben, und er sprach von Feld und Wald, von Handwerk und Ackerbau; und während man die Bilder vor Augen hatte, die er heraufbeschworen, sah man doch wieder ihn, und erfuhr man, was ihn belästige und was ihn freute. Er erinnerte mich mit seiner Ausdrucksweise an die gemalten Veilchensträuße,[366] zwischen deren Blumen die Bonapartisten während der Restauration die Köpfe Napoleons und des Königs von Rom zu zeichnen und herauszusehen verstanden, während der Ungeweihte nur einen Veilchenstrauß vor Augen zu haben glaubte.

Rede und Gegenrede zogen uns immer weiter fort. Eine Menge von Erfahrungen, die wir Beide als Juden zu machen gehabt hatten, waren uns gemeinsam; der Boden, auf dem wir erwachsen waren, die Verhältnisse, unter welchen wir unsere Bildung gewonnen, wichen dafür um so weiter von einander ab, und es war lange Mitternacht, als wir uns, voll erhöhter Theilnahme für einander, endlich trennten.

Von da ab sah ich Auerbach noch öfter in jenem Frühjahr, aber je mehr die Jahreszeit vorwärts schritt, um so weniger wollte es ihm in Berlin behagen, und das war natürlich. Man hat seine Fähigkeiten und seine Gaben nicht ungestraft, man hat keinen tiefen Zusammenhang mit der Natur, ohne sich in der Zeit, wenn sie zu neuem Leben erwacht, in den Mauern einer Stadt, wie in einem Gefängniß zu empfinden; und der Erfrischung, welche Auerbach seinen Lesern bereitet hatte, indem er sie aus ihren parfümirten Salon-Romanen in die Wälder und Wiesen des Schwarzwaldes hinauslockte, dieser Erfrischung entbehrte er selber auf die Länge mehr und mehr.

»Ich gehe vom Frühstück zum Diner und vom Diner zum Abendbrod, ich werde wie ein Mauerstein von Hand zu Hand gereicht. Man macht mich hier essen und trinken von früh bis spät, und weiß der liebe Gott, ich bleibe hungrig und durstig, und wenn ich endlich schlafen gehe,[367] kommt mir vor, als müßte ich was trinken, denn ich bin wie ausgedörrt, und das Blut ist mir heiß, daß ich denke, ich werde krank!« sagte er eines Vormittags mit seufzender Heiterkeit zu mir.

Ich mußte über ihn lachen, aber es war nicht schwer, ihm zu erklären, was ihm fehle, und daß er Luft und Alleinsein und Ruhe nöthig habe, denn Auerbach's mittheilsame Natürlichkeit setzte ihn damals noch weit mehr als später der Gefahr aus, sich verbrauchen zu lassen. Die Norddeutschen hatten das Herz voll von dem Tolpatsch und seiner Biederkeit, von Ivo des Heierlein's religiösem Schwung, von dieser und jener Gestalt des Dichters, die ihnen liebgeworden war, und wie Kinder einen Spielzeugkasten, aus dem sie ihr Spielzeug herausgenommen haben, darauf ansehen, ob nicht noch mehr darin ist, weil ja schon so viel darin gewesen, und ihn immer wieder umstülpen, um zu probiren, ob dies erwartete Mehrere nicht bald herausfallen werde, so wurde Auerbach hin und her befragt und umgewendet, und sollte erzählen und erzählte, und regte an und ließ sich aufregen, bis Alle, die es gut mit ihm meinten, ihm endlich sagen mußten: »Auf und fort! Ihre mittheilsame Gutmüthigkeit wird Sie hier umbringen!«

Hielt man ihm das vor, so sagte er ernsthaft: »Sie haben ganz recht!« Und fünf Minuten darauf war er wieder mitten darin, ohne sich zu erinnern, daß er sich nicht mehr hatte fortreißen lassen wollen. Er war und blieb der heilige Niklas mit den vollen Taschen – und alle lebhaften Naturen sind mehr oder weniger so großmüthig liebevolle Verschwender ihres eigenen Selbst. »Blase nur immer hübsch in die Kohlen«, schrieb der[368] verstorbene geistreiche Karl Stahr einmal in gleichem Sinne warnend an seinen Bruder Adolf: »Blase nur immer hübsch in die Kohlen, es giebt einen hellen Schein, aber die Kohle verzehrt sich!« Dem geistig Großmüthigen und Freigebigen gegen über können Die, welche ihn lieben, den Geiz und die Engherzigkeit als Eigenschaften schätzen lernen.

Am Tage nach Auerbach's erstem Besuche erzählte ich einer Dame meiner Bekanntschaft arglos und mit großem Vergnügen, in wie origineller Weise er sich bei mir eingeführt, und wie gute frohe Stunden wir mit einander gehabt hätten. Aber weit entfernt meine Freude zu theilen, sagte sie mir sehr bedenklich: »Sehen Sie wohl, wie schlimm es ist, daß Sie nicht in einer Familie wohnen?«

»Weßhalb denn schlimm?« fragte ich.

»Ja! was hätten Sie denn gethan, wenn Auerbach so spät am Abende gekommen wäre, und Sie hätten sich ganz allein befunden?«

»Genau dasselbe, was ich jetzt gethan habe. Ich hätte ihn willkommen geheißen, hätte ganz eben so noch einmal Abendbrod besorgt, wir würden wahrscheinlich eben so lange geplaudert, und ich würde ihn eben so beim Fortgehen gebeten haben, künftig nicht zu so ungewöhnlicher Stunde zu mir zu kommen.«

»Und es hätte Sie gar nicht genirt?«

»Nein! Nicht im Geringsten!«

Die Dame schüttelte verwundert den Kopf. Sie erstaunte über die Naivetät und Natürlichkeit dieses Geständnisses, wie sie es nannte, und während ich sah, daß sie mein Verhalten nicht nachgemacht haben würde, hatte ich doch Grund ihr zu glauben, daß sie mich, nach ihrem[369] eigenen Ausspruch, um diese ruhige, fest entwickelte Natürlichkeit beneide.

Mein eigener Zusammenhang mit der Natur war aber nur insofern ein entwickelter, als mir von Jugend auf, wie schon gesagt, die Unnatur in unsern Lebensverhältnissen ein Stein des Anstoßes gewesen war, so daß ich mich von ihr für meine Person frei zu machen gestrebt hatte; indeß in der uns umgebenden Natur war ich so fremd als möglich. Die Frucht des Feldes, die Bäume des Waldes, die Blumen, die Vögel, Alles war mir nur ein Ganzes, dessen allgemeine Wirkung ich mit meinen scharfen Sinnen sehr lebhaft empfand; aber mir fehlte die Möglichkeit des Unterscheidens, und damit entbehrte ich eben so viel Einsicht als Genuß. Was würde man denn von den Menschen haben, wenn man sie nur als Masse aufzufassen verstände, wenn man zwischen einem Humboldt und einem Neger keinen andern Unterschied zu machen wüßte, als den, welchen das Auge erkennt, als den, daß der Eine schwarz und der Andere weiß ist?

Beinahe mit eben so unvollkommener Erkenntniß stand ich damals und stehen tausend Andere fortdauernd mitten in der Natur. Das würde unmöglich, würde Jedem unerträglich sein, wenn man sich nicht mit dem biblischen Glauben, daß ein persönlicher Gott den Menschen als das vollkommenste Geschöpf, und die ganze übrige Welt nur für das Bedürfniß des Menschen geschaffen habe, zu beruhigen verstände. Wer sich als das Höchste, als den Selbstzweck betrachtet, hat nicht sehr nöthig, die Mittel zum Zweck hoch anzuschlagen. Wenn man bei solcher Anschauung alles Erschaffene in die beiden Rubriken desjenigen, was der Mensch brauchen, und desjenigen, was[370] er nicht brauchen kann, eingereiht hat, so ist von diesem Standpunkte aus eigentlich das Nothwendige geschehen, und es hat höchstens noch ein gewisses Interesse, zu beobachten, auf welche Weise Gott die übrigen Geschöpfe: Steine, Pflanzen und Thiere, dazu fähig machte, uns zu dienen, und wie er das Weltall so hübsch ordentlich zusammen hält, daß wir uns mit Sicherheit und Gefallen darin bewegen können.

In dem Glauben an diese Theorie, deren Hochmuth und Selbstgefühl etwas Furchtbares haben, war ich bis zu einer bestimmten Zeit meiner Jugend auch herangewachsen, und die ganze Generation, welcher ich angehöre, wird sich in ziemlich gleicher Lage befunden haben. Und wie ich denn, wenn ich zurückblicke, fast jeden Fortschritt, den ich gemacht habe, auf den direkten oder indirekten Antrieb und Einfluß eines bestimmten Menschen zurückführen kann, denn die unausgesetzte Berührung mit Anderen ist das wahre Perpetuum mobile für unsere allseitige Entwicklung, so war es Auerbach mit der lebendigen Fülle seiner Naturanschauungen, der mich, ohne es zu wissen, zum Beobachten des Einzelnen in der Natur veranlaßte, und mir damit eine Quelle nicht endender Befriedigung eröffnet hat, einer Befriedigung, die durch kein Dazwischentreten dritter Personen gestört werden kann, und die darum so unschätzbar ist, weil man sie sich an jedem Orte, in jeder Lebenslage und in jeder Stimmung zu bereiten vermag.

Eines Tages sprach ich von diesen Dingen, und daneben auch von Auerbach, mit einem Landsmann von mir, dem jetzt schon verstorbenen Doktor Julius Waldeck, und die Unterhaltung wendete sich von Auerbach's Dorfgeschichten[371] zu dessen frühern Arbeiten. Wir kamen dadurch auf Spinoza zu reden, und Doktor Waldeck, der ein sehr klarer Kopf war, machte die Bemerkung, daß eigentlich jeder Spinozist ein liebevoller Beobachter der Natur sein müsse. Ich hatte oftmals von der Theorie Spinoza's sprechen hören, die ich am liebsten die Religion Spinoza's nennen möchte, denn jedes vollkommen durchdachte System, das dem Menschen seine Wesenheit und seinen Zusammenhang mit dem All und sein Verhältniß zu den einzelnen Geschöpfen klar macht, ist Religion. Ich wußte auch, um was es sich in dieser Theorie im Wesentlichen handle, aber ich konnte damit, weil es mir an einer philosophischen Disciplin fehlte, nicht vorwärts kommen, d.h. ich konnte mir die Theorie und ihre Consequenzen nicht von dem einzelnen Fall auf alle andern Fälle übertragen. Ich konnte nicht damit arbeiten, und nur die Religion oder die Theorie werden in uns fruchtbar und für uns förderlich, die wir selbst als Maaßstab und als Hebel zu benutzen die Kraft gewinnen. Damit dies für mich möglich war, mußte ich immer einen festen und einfachen Satz zu erhalten suchen, den ich selber handhaben konnte, und diesen zu erlangen, fragte ich Doktor Waldeck einmal: was er als das Grundprinzip des Spinozismus ansehe, und wie sich dieses am Kürzesten formuliren lasse?

»Alles was ist, ist Gott!« antwortete er gelassen, und nun hatte ich mit einem Male, was ich brauchte. Nun hatte ich den Halt für mein ganzes ferneres Leben, den Regulator für mein Denken, Lieben und Handeln, und zugleich die Anmahnung zu jener Unterordnung des eigenen Willens unter das Allgemeine, welche Niemand[372] erlangen kann, so lange er noch den Menschen und dessen Wohl als den einzigen Zweck der Schöpfung ansieht. Es ist dem Hochmuth und der Selbstsucht freilich eine schwere Zumuthung, sich nur als mitwirkenden Theil zu denken, wo er sich bisher als den Herrn und Gebieter gefühlt hat; aber man gewinnt an der wachsenden Liebe zehnfach wieder, was man an Macht- und Wichtigkeitsbewußtsein zu opfern hat. Monarchen und Aristokraten werden wohl ihre Rechnung bei dem Spinozismus niemals finden, und Staatsreligion könnte er nirgend werden als in der menschlichsten der Republiken. Für die Erziehung und das Glück der Einzelnen, für seine Ruhe und Resignation ist er ein wundervolles Mittel. Wie alle großen und unumstößlichen Wahrheiten dringt indeß der Spinozismus, selbst wider den Willen Derjenigen, die im Allgemeinen ihren Vortheil darin finden, ihn nicht anzuerkennen, auf die unscheinbarste Weise und oftmals auf den weitabliegendsten Wegen in die Erkenntniß der Menschen und in die Thätigkeit des Lebens ein, und schiebt mehr und mehr das Alte zurück, dessen Stelle er einnimmt. Er gewinnt Herrschaft in den Geistern, ohne daß man sagen könnte, er habe sie gesucht oder wie er sie erlangt hat.

Die Culturgeschichte der Menschheit ist ein langer Weg, dessen Wendepunkte mit einzelnen, oft unscheinbaren Thatsachen bezeichnet sind, die erst später in ihrer Bedeutung erkannt, und dann in den Erinnerungen der Menschen zu großen Ereignissen umgestaltet werden. Die Gründung des ersten Vereines zum Schutz der Thiere gegen unnöthige Quälerei war eine solche Thatsache; denn sie erkannte den Grundsatz an, daß das Thier um seiner[373] selbst willen auf der Welt ist, und sie entthronte damit die absolute und despotische Willkürherrschaft des Menschen, ohne daß man vielleicht eine Ahnung davon hatte, was man gethan hatte. Denn wer dem Menschen gegenüber das Thier vor egoistischer Willkür in Schutz nimmt, muß nothwendig auch den Menschen ein für alle Mal sicher stellen vor willkürlicher Bedrückung und Tyrannei.

Man hat sich lange darin gefallen, den Spinozismus als eine Lehre der Selbstvergötterung zu bezeichnen, und als solche zu verdammen. Wie dies geschehen konnte, wie das noch geschehen kann, das würde kaum zu begreifen sein, wenn man nicht wüßte, mit welcher Schlauheit zu allen Zeiten die Feinde einer neuen Erkenntniß irgend einen Satz aus derselben hervorzuheben, und diesen aus dem Zusammenhange herausgerissenen Satz zu mißdeuten verstanden haben. So hatte denn auch ich es oftmals aussprechen hören, daß die Doktrin Spinoza's darum so verderblich sei, weil sie Gott in den Menschen setze, das heißt, den Menschen zum Gott erkläre, und also jedem Menschen das Recht zuerkenne, sich als das Höchste, als den Mittelpunkt der Welt zu betrachten.

Diese Vorstellung hatte in ihrer Vernunftlosigkeit für mich etwas Empörendes gehabt, und es fiel nun wie Schuppen von meinen Augen, als der Wahnwitz jener Behauptung mir klar gemacht, und mit dem Aussprechen eines einzigen Satzes das ganze System nothwendiger, unauflöslicher und liebender Zusammengehörigkeit alles Erschaffenen vor mir eröffnet wurde, das Eins im Geiste, verschieden in der Form und Kraft, seine Dauer in seinem Wechsel, seine Ewigkeit in seinem beständigen Vergehen und Werden hat.[374]

Es lag für mich etwas Herzerweiterndes, etwas Beseligendes in dem Gedanken. Es war mir, wie es einem Einsamen sein müßte, der sich plötzlich mitten in eine große, ihm zugehörende, ihm auf das engste verbundene, und allen seinen Schicksalen mitunterworfene Familie versetzt findet. Ich gewann mit einem Male tausend neue Gegenstände für meine Aufmerksamkeit, für meine Beobachtung, für meine Liebe und Verehrung. Nichts war mehr leblos, Nichts mehr unpersönlich für mich, Alles hatte Individualität, Alles hatte Bedeutung, Alles sprach zu mir, hatte Anrechte an mich, wie ich an Alles, und ich sage nicht zu viel, wenn ich behaupte, daß von jenem Zeitpunkte an ein neues Leben für mich begonnen hat, daß sich auf jene Erkenntniß das Gute zurückführen läßt, welches die Personen, die mich kennen und lieben, etwa an mir schätzen. Denn das was wir für Andere thun, wird ihnen erst recht ersprießlich und wirksam, wenn wir es nicht aus Instinkt, sondern aus freudiger Ueberzeugung für sie thun.

In den Augen eines sprachlosen Kindes, bei den pulsirenden Schlägen des Blutes in seinem kleinen nackten Schädel, die Gottheit zu empfinden, in dem Blick des Hundes, der uns zu verstehen und sich uns damit anzunähern sucht, in dem Sang des Vogels, der durch die Lüfte zieht, in dem leisen Flüstern der sich entfaltenden Blätter, in dem Blühen, Duften, Frucht- und Saamenbringen der Blumen, überall das innewohnende Göttliche, das Schaffen und Weiterwirken zu erkennen, ist der liebevollste Genuß, der sich erdenken läßt. Wie erhaben ist es, in dem Menschen, den man mit seiner stärksten Liebe liebt, zugleich einen Theil des Allgeistes verehren[375] zu können, welchem man sich anbetend unterordnet, während man sich doch als Seinesgleichen, als Geist von seinem Geiste erkennt. Gewiß, der Spinozismus ist eine Religion der Liebe, der Demuth, der Hingebung, und erschließt zugleich, wie er das All umfaßt, die Blüthe unserer Natur, die stärkste Liebe zwischen Mann und Weib, die höchste Poesie als konsequente Folge in sich. Was die Bibel in dumpfem Vorahnen Adam zu seinem Weibe sprechen läßt, jenes: »Das ist Fleisch von meinem Fleische«, das verklärt der Spinozismus zu dem erhabenen: Das ist Geist von meinem Geiste! und das Eins sein in der Liebe erhält erst in ihm seine völlige Wahrheit!

Die Zeiten, in denen sich mir eine große Erkenntniß erschlossen hat, in denen ich, wie ich auch äußerlich beschäftigt sein mochte, innerlich immer den einen Gedanken in mir herumtrug, und ihn nachdachte und ihn weiter ausbildete, sind stets sehr glückliche für mich gewesen. Zu einer der letzten derartigen Epochen rechne ich auch jene Tage, in welchen ich vor acht oder zehn Jahren zuerst von der Lehre vom Stoffwechsel sprechen hörte, von jener Lehre, mit welcher der Doktrin der Spinozismus, der Lehre von dem Daß, für mich die Lehre von dem Wie hinzugefügt ward.

Ich bin ruhig geworden seitdem und resignirt über die herbe Nothwendigkeit unseres persönlichen Aufhörens mit dem Augenblick des Todes. Schmerzlich wie es uns auch sein mag, von dem lachenden Leben, von der sonnigen Welt, von den Herzen, die uns gehören und in denen wir unser doppeltes Leben haben, zu scheiden, räthselhaft, unbegreiflich wie das Aufhören uns erscheint, während wir sind und wirken, liegt doch für mein Gefühl[376] eine starke bewegende Kraft eben in dem Bewußtsein unserer Endlichkeit. Ein Hinhalten, ein Aufschieben, ein Vertrösten werden unmöglich vor der Ueberzeugung, was ich hier nicht leiste, leiste ich nie! was ich hier nicht genieße, nicht durch Liebe beglücke, nicht vergelte und nicht sühne, das bleibt ewig für mich und für Andere verloren! und die Gewißheit mit jedem redlichen Streben für alle Zeit und Ewigkeit an der Vollendung des Allgemeinen mitzuwirken, ist mir erhebender, als in einem mysteriösen Jenseits dafür belohnt zu werden. Und liegt denn nicht ein sanfter Zauber in der Vorstellung des Fortbestehens in dem Stoffwechsel des All?


Ist Dir's so schmerzliche Pein,

Im Frühling ein Blümchen zu sein,

Oder mit bunten Schwingen

Zu fliegen und zu singen

Im Wald?


fragt Julius Mosen. Und die Dichter sind auch noch heute oft die Seher und Propheten unter uns.[377]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 3, Berlin 1871, S. 364-378.
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