Zweiundzwanzigstes Kapitel

[378] Während der Tage, in welchen Therese von Bacheracht in Berlin gewesen war, brachte ich mit ihr zum ersten Male einen Abend bei der Gräfin Elise von Ahlefeld zu. Wir hatten sie Beide im Mundt'schen Hause getroffen, und waren von ihr eingeladen worden, sie an einem der nächsten Tage zum Thee zu besuchen. Das war aber beinahe, als hätte sie uns zu einem Besuche in einer fremden Stadt aufgefordert, denn die Gräfin wohnte jenseits des Canales auf der Potsdamer Chaussee, und im Jahre fünfundvierzig war man noch nicht daran gewöhnt, den fernen, außerhalb des Thores gelegenen Stadttheil als leicht erreichbar zu betrachten.

Ich wußte von Hörensagen, daß die Gräfin durch eine lange Reihe von Jahren Immermann's Leben an sich gefesselt hatte, aber ihr übriges Schicksal war mir fremd, und ich hatte es mir bei der ersten Begegnung durchaus nicht zu erklären vermocht, woher ihr Gesicht mir so vollkommen bekannt erschien. Ich war sicher, sie nicht vorher gesehen zu haben, sie glich keiner Person, deren ich mich erinnern konnte, und doch waren mir diese nicht eben großen, aber sehr freundlichen blauen Augen nicht fremd. Ich kannte die feine flache Stirne, die kleinen hellbraunen Locken, die in einer etwas altmodischen[378] Weise die schmalen Schläfe umgaben; die schöne regelmäßige Nase über dem großen und schlecht geformten Munde hatte ich zuverlässig schon vielmals betrachtet, ja selbst die Gestalt kannte ich. Und mehr noch als an dem Abende im Mundt'schen Hause, an welchem Therese meine Aufmerksamkeit fast ausschließlich in Anspruch genommen, beschäftigte mich, während ich an dem Theetisch der Gräfin saß, unablässig die Frage: woher kenne ich diese Frau?

Sie war keine jener gewöhnlichen Erscheinungen, die uns eben deshalb vertraut sind; sie hatte auch nicht die Harmonie der Schönheit, welche beruhigt, weil sie Nichts zu wünschen übrig läßt, und die sich uns gleich bei dem ersten Anblick so unvergeßlich eingeprägt, daß man durch eine natürliche Selbsttäuschung dies Bild immer in sich getragen zu haben glaubt, weil man sicher ist, es künftig immer in sich wieder zu finden. Die Gräfin konnte, obschon man das Gegentheil behauptet hat, sogar niemals schön gewesen sein, aber ihre Züge waren, bis auf den Mund, sehr fein, und hatten wie ihr Mienenspiel und ihre ganze Gestalt etwas Durchgeistetes, das in der seelenvollen Stimme und der äußerst angenehmen Redeweise der Gräfin, in deren Munde der holsteinische Dialekt noch an Reinheit zu gewinnen schien, seinen völligen Abschluß fand.

Während die Gräfin am Theetisch mit sicherer Leichtigkeit die Wirthin machte, und die Unterhaltung unmerklich anzuregen und in Gang zu erhalten wußte, wurde es Einem wohl zu Muthe, wie an einem jener schönen, klaren Septembertage, welche bei aller Leichtigkeit der Luft noch die volle Wärme des Sommers, und neben den reifen Früchten des Herbstes auch noch die schimmernde[379] Farbenpracht duftiger Blumen in sich bewahren und vereinen. Es stimmte Alles zusammen: die hübschen Zimmer, in welchen man sich befand, die Kunstwerke, die Oelbilder, die Gipsbüsten, die Portraits und die Kupferstiche, welche die Wände bedeckten, die Geräthe des Theetisches, die bescheidene und doch gewählte Kleidung der Hausfrau, ja selbst die Haltung der Gäste, deren verschiedene Charaktere und Denkweisen sich hier, wie die verschiedenen Instrumente eines Orchesters unter der Leitung eines geschickten Dirigenten, zu einer bestimmten Tonart und zu einem gemessenen Takte bequemen mußten. Dadurch geschah freilich hier und da der Individualität Abbruch, aber die Gesammtheit gewann für den Augenblick dabei, und die Gesellschaft ist ein Werk des Augenblicks.

Bei all den angenehmen Eindrücken, weche ich an jenem Abende empfing, blieb aber immerfort eine gewisse Unruhe in mir rege. Es kamen Augenblicke vor, in welchen die Gräfin mir wie entrückt, ja nahezu unerfaßbar erschien, weil sich fortdauernd jenes Bild, das ich nicht zu bannen vermochte, zwischen sie und mich drängte, und in dem unablässigen Bemühen ein Nichtvorhandenes zu gewinnen, lief ich Gefahr, mir das Vorhandene entgehen zu lassen.

Ich war mir selbst lästig in diesem Zustande, denn ich störte mich in meinem eigenen Vergnügen, als die Gräfin zufällig die Frage an mich richtete, ob sie recht gehört habe, und ob ich eine Königsbergerin sei?

Ich bejahte das. Und nun mit einem Male, mit der bloßen Nennung meiner Vaterstadt, war mir das Räthsel gelöst, das mich den ganzen Abend hindurch beschäftigt hatte. Nun wußte ich, wo ich das Gesicht gesehen, das[380] zwischen mir und der Gräfin gestanden hatte. Nun sah ich es ganz deutlich vor Augen, das Kabinet im Warschauer'schen Hause zu Königsberg mit dem Miniaturbilde der Dame im schwarzen Amazonenkleide, deren feiner Kopf mit seinen kleinen braunen Locken sich so schlank über dem hohen Stuartkragen emporhob; und von der Erinnerung wie von einer Entdeckung hingerissen, sagte ich: »Ich habe in meiner Kindheit und Jugend oftmals das Bild einer Frau von Lützow gesehen, das mich immer sehr interessirt hat, weil es so anziehend, und weil die Dame die Frau des Generals von Lützow war, der die schwarzen Jäger geführt hat; das Bild –«

»Sie kennen also die Warschauer'sche Familie, nach der ich Sie eben fragen wollte?« fiel mir die Gräfin in die Rede.

»Waren Sie denn jemals in Königsberg?« gegenfragte ich.

»Gewiß! es ist ja mein Bild, das Sie gesehen haben!«

»Die Frau des Generals von Lützow?« wendete ich verwundert ein.

»War ich!« wiederholte die Gräfin. »Ich war früher mit dem General von Lützow verheirathet. Wir haben uns getrennt; und ich habe dann meinen Familiennamen wieder angenommen, weil es mir immer unschicklich vorgekommen ist, wenn Frauen den Namen eines Mannes fortführen, von dem sie sich geschieden haben.«

Sie brach ab, und ich fühlte mich verlegen darüber, unwillkürlich peinliche Erinnerungen in ihr wach gerufen zu haben. Mit der Weltgewandtheit und Güte, welche ihr eigen waren, half sie mir jedoch darüber fort, indem sie sich nach ihren Königsberger Bekannten erkundigte.[381] Wenn ich denn nun auch den störenden Gedanken los war, welcher mich zu Anfang des Abends hingenommen hatte, so war ich dafür um so begieriger geworden, etwas Näheres von dem Lebensschicksal der Gräfin kennen zu lernen, welche durch die Poesie, die sich an den Namen des General von Lützow knüpfte, ein neues Interesse für mich gewann.

Was jetzt, seit die gegen Immermann nicht gerechte Biographie der Gräfin veröffentlicht worden, über ihren Lebensweg bekannt ist, das erfuhr ich damals sehr allmählig, erfuhr es aus den verschiedensten Quellen, und hatte mir aus den Schilderungen, welche Zuneigung und Abneigung mir machten, das Bild von der Vergangenheit der Gräfin zusammenzusetzen, und es im Einklang mit dem Wesen der Frau zu bringen, deren Anmuth und Liebenswürdigkeit mir durch alle die Jahre, in welchen ich sie sah, sehr groß erschienen sind.

Was die Gräfin vor allem Andern auszeichnete, war, wie mich dünkte, ein lebhafter Hang zum Verehren und zum Bewundern des Guten, des Schönen und Erhabenen, mit welchem die Neigung Hand in Hand ging, sich den Menschen dienstbar anzuschließen, welche das von ihr verehrte Schöne und Erhabene in irgend einer Weise in sich selbst darstellten oder sonst zur Erscheinung brachten. Aus diesem Zuge, der in seiner Wesenheit ein ächt weiblicher und zugleich ein religiöser ist, erklärt sich im Hauptsächlichen ihr ganzes Leben, stammen ihre Eigenschaften und ihre Mängel, ihre Leistungen und ihre Irrthümer.

Sie war tieffühlend und enthusiastisch, von raschem Entschlusse und von ausdauernder Beharrlichkeit, und wie sie diese, sich sonst oft entgegenstehenden Eigenschaften in[382] sich verband, so war sie, trotz aller der Hingebung, welcher sie fähig war, eine viel zu energische Natur, um sich selbst und ihr eigenes Wohl und ihr eigenes inneres Genügen jemals aus den Augen setzen zu können. Sie besaß, um es klar auszudrücken, jenen bei reich begabten Menschen gar nicht seltenen verfeinerten Egoismus, der einen Genuß im Leisten, im Hingeben, im Beglücken, im Verpflichten findet. Sie war eine Aristokratin des Herzens. Man mußte sie lieben, weil ihre Art des Verpflichtens so anmuthig, so hinnehmend war, und man konnte, das bin ich gewiß, keine verläßlichere Freundin, keine angenehmere Gefährtin finden, als diese Frau, so lange man in der Verfassung blieb, sie frei ihrer großmüthig liebenswürdigen Neigung folgen, und sich von ihr erfreuen zu lassen, wie es ihr ein Genügen war. Ob sie im Stande war, sich die gleichen Verpflichtungen auflegen zu lassen, und von Andern zu empfangen, was sie gewährte, ob sie überhaupt geneigt war, sich auch nur den moralischen Zwang der Gegenseitigkeit gefallen zu lassen, den zuletzt jedes dauernde Verhältniß beiden Theilen aufnöthigt, ist mir nach der Kenntniß, welche ich später von ähnlichen Charakteren erlangt habe, mehr als zweifelhaft.

Es lag in dem Wesen der Gräfin Ahlefeld, neben jener religiösen Verehrung für das Gute, das entschiedenste Unabhängigkeitsgefühl, das sich, so gehalten und formvoll sie sich gab, nicht nur in der Selbstständigkeit ihres Urtheils, sondern in noch viel höherm Grade in der Freiheit ihrer Handlungsweise kund gab.

Frei, und nur dem eigenen Bedürfen, der eigenen Neigung und dem eigenen Sittengesetze folgend, hatte sie sich, eine vielumworbene reiche Erbin, dem Jägergeneral[383] von Lützow zum Weibe angetragen, als dessen Großthaten ihre Begeisterung für ihn erregten. Entschlossen sich selbst zu erretten, hatte sie sich von ihm getrennt, als sie einsehen lernen, daß diese Ehe ein Fehler und ein Mißgriff gewesen war. Mit demselben Zuge der Verehrung und mit demselben ganz auf sich allein gestellten Unabhängigkeits- und Freiheitssinn, war sie die neue Verbindung mit Immermann eingegangen, dem sie, nach dem Urtheil von Augenzeugen, die liebenswürdigste und hingebendste Gefährtin gewesen sein soll, so lange er sich auf die Weise von seiner Freundin beglücken ließ, welche sie für die ihr angemessene erkannte.

Bei der größten Feinheit im Ausdruck, bei einer wahrhaft edeln Haltung und einer Rücksicht auf die Formen der Gesellschaft, die nicht vorsichtiger sein konnte, hatte sie doch allen Regeln der hergebrachten Sitte und Convention, stolz auf ihr eigenes Bewußtsein gestützt, entschieden Trotz geboten; und es lag in der Erscheinung der Gräfin, in der Zeit, in welcher ich sie kennen lernte, doch eine so sanfte matronenhafte Würde, ein solch stilles Insichberuhen, daß man völlig vergaß, diese Frau sei einst, jung und von starken Leidenschaften erschüttert, mit der Sitte und der öffentlichen Meinung in offenem Zwiespalt gewesen.

Eigentlich geistreich ist die Gräfin Ahlefeld mir nicht erschienen, sie hatte jedoch sehr viel Verstand und durch ihn eine ungewöhnlich feine Beobachtungsgabe, mit der sie in jedem Menschen sein Bestes zu erkennen und zu Tage zu fördern wußte. Sie besaß die Kunst anregend zu fragen, und mit einer so liebevollen Theilnahme zuzuhören, daß sie dem Sprechenden Lust machte, sein Möglichstes[384] zu thun, um ihr für ihren Antheil zu danken. Es war eine Freude, sie mit dem kleinen Kreis von jungen Männern verkehren zu sehen, welchen sie damals um sich versammelt hatte, und von dem jeder Einzelne ihr mit der dankbarsten Verehrung anhing. An der Art, in welcher sie das Talent und die Leistungen derselben zu pflegen, zu ermuthigen und anzuerkennen wußte, an der linden Behutsamkeit, an der feinen Vorsicht, welche sie für jeden nur einigermaßen bedeutenden Menschen hatte, der in ihre Nähe kam, ließ es sich ermessen, was ihr liebevolles Eingehen auf seine Arbeiten und Schöpfungen für Immermann gewesen sein mußte. Es erklärte sich dadurch der Einfluß, welchen sie auf ihn geübt, und wie sie, die wesentlich ältere Frau, den thatkräftigen und energischen Mann so lange an sich zu fesseln vermocht hatte. Aber es hatte auch sicher die ganze Manneskraft eines Immermann dazu gehört, in einem solchen weichen Zauberbanne er selbst zu bleiben, und sich loszureißen, als er zu fühlen begann, daß er sich selber zu befreien und zu erretten habe, wollte er bleiben, was er war – ein ganzer, freier Mann.

Die Gräfin Ahlefeld sprach von dem General von Lützow in der Gesellschaft selten; von Immermann habe ich sie in Gegenwart mehrerer Personen niemals reden hören. Erst in spätern Jahren, als ich in Stahr's Begleitung bei ihr war, der sie schon gekannt hatte, als sie noch mit Immermann zusammen in Düsseldorf lebte, erwähnte sie einst plötzlich eines Abends, den sie mit Immermann und Stahr und Theodor von Kobbe gemeinsam und heiter im Bremer Rathskeller zugebracht, und sie pflegte danach Immermann's öfter zu gedenken[385] und auf die Vergangenheit und auf seine Arbeiten zurückzukommen, wenn wir sie bei einem Besuche allein fanden, oder sie uns allein in unserer Wohnung traf.

Sie sprach einmal mit Stahr ausführlich über dessen Biographie von Immermann, und erzählte einige charakteristische Eigenheiten desselben, aber auch hier blieb sie vollkommen Herr über sich selbst, und wer nicht im Voraus von dem Verhältniß Kunde gehabt hätte, das zwischen ihr und Immermann obgewaltet, hätte schwerlich auf die Liebe schließen können, welche sie dem Dichter einst verbunden, oder den Schmerz zu ermessen vermocht, welchen die Trennung von demselben ihr später verursacht hatte. Nur ein einziges Mal gab eine Aeußerung es kund, was in ihr vorgegangen sein mußte; und wie man bei dem Aufleuchten des Blitzes plötzlich durch die Dunkelheit erkennt, auf welchem Grund und Boden, und in welcher Umgebung man sich befindet, so hellten die wenigen Worte mir auf, was mir an dem Wesen der Gräfin früher unverständlich gewesen war, und machten mich über ihre Stärke, Selbstbeherrschung und Selbstsucht erstaunen, während ihre Güte und ihre ungewöhnliche Liebenswürdigkeit und Feinheit immer denselben sanften, einspinnenden Zauber für mich behielten.

Man befand sich in ihrer Nähe wie in einer linden Luft, aber es erzitterte in derselben überall der Ton einer schmerzlichen Entsagung. Wie konnte es auch anders sein? Für eine Frau, welche in den Tagen ihrer Kraft Männer wie den General von Lützow, wie den tapfern Fersen, wie Immermann an sich gefesselt, welche im Mittelpunkte der geistigen Bewegung stehend, große und thatkräftige Zeiten an sich vorüber gehen sehen hatte, mußte[386] das Alter an sich etwas doppelt Trauriges haben. Und als die Gräfin dann später zu kränkeln und von den Schwächen und Krankheiten des Alters zu leiden begann, konnte man kaum Trauer darüber empfinden, als sie starb, wenn schon man nicht aufhörte zu wünschen, daß sie noch leben und man sich ihrer sanften Nähe noch erfreuen möchte.[387]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 3, Berlin 1871, S. 378-388.
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