Dreiundzwanzigstes Kapitel

[388] In der Mitte des Juni rückte die Zeit heran, welche ich für meine Abreise bestimmt hatte. Nach langem Wählen und Prüfen, nach mancherlei Erörterungen mit meinem Vater war ich dahin gekommen, eine Reisegefährtin zu finden, die sich mir und meinen Planen und Absichten anzupassen verhieß. Sie war eine Berlinerin, fünfzig Jahre alt, unverheirathet, die Tochter eines wohlhabenden Handwerkers, die eine verhältnißmäßig gute Erziehung genossen, und Alles in Allem genommen auch einen sehr guten Charakter hatte. Heiter und lebenslustig wie ein junges Mädchen, bedürfnißlos und ausdauernd wie ein junger Mann, hatte sie sich schon in der Welt umgesehen und verschiedene größere und kleinere Reisen gemacht. Ich durfte hoffen, von ihr nicht verlassen zu werden, wenn mir auf der Reise irgend ein Unfall zustoßen sollte, und sie konnte sich von dem Reisen mit mir mancherlei Annehmlichkeiten und Vortheile, mancherlei Bekanntschaften und Förderungen versprechen, die ihr ohne mich unzugänglich geblieben wären. Mein Vater war beruhigt, da er ein älteres Frauenzimmer an meiner Seite und mich also nicht hülflos wußte, und wir sind denn während der acht Monate, welche meine Reisegefährtin[388] neben mir zu brachte, auch gut genug mit einander fertig geworden, bis ein komisches Intermezzo uns trennte.

Es war mir sonderbar zu Muthe, als ich meinen Reisepaß aus dem Ministerium des Innern mit seinen Visa's für die verschiedenen Länder – und wieviel Länder hatte Italien damals noch – auf meinem Tische vor mir liegen sah, als ich die Einführungsbriefe, mit denen meine Freunde mich ausgestattet hatten, und das Reisegeld und die Akkreditive durchmusterte, die ich mitzunehmen dachte. Ich hatte eine große Genugthuung darüber, aber ich könnte nicht sagen, daß ich eigentlich froh gewesen wäre.

Was man aus eigener Kraft erreichen konnte, das besaß ich nun, das hatte ich erreicht; aber während so manche meiner weiblichen Bekannten mich um meines Looses Willen jetzt glücklich priesen, wußte ich auf das Bestimmteste, daß Alles, was mir an äußerm und innerm Erwerbe zu Theil werden konnte, mir auf die Dauer kein Ersatz für jene Liebe sein würde, welche ein Menschenpaar ausschließlich an einander knüpft, und die jemals zu finden ich jetzt keine Hoffnung mehr hegte.

Ich hatte allerdings noch meinen theuren Vater, den ich liebte, wie man einen Vater nur zu lieben vermag, ich hatte meine Geschwister, an denen ich hing, hatte Freunde, die mir theuer waren, und besaß die Neigung und das Vertrauen aller dieser Menschen; aber diese Güter, die ich nach ihrem vollen Werthe schätzte, und die Unabhängigkeit und die Anerkennung, deren ich genoß, sie waren mir im Grunde doch Nichts als ein Trost, als eine Erfrischung und Stärkung, die mich in der Entsagung aufrecht erhielten. In aller der Freiheit, um die[389] ich mich hier und da beneidet sah, und aus welcher die Mehrzahl der Frauen, die sie zu ersehnen behaupteten, Nichts als eine Qual für sich selbst zu machen gewußt haben würden, denn der verständige Gebrauch einer großen Freiheit fordert einen festen Sinn, schwebte immer, wie die Feuersäule vor den in der Wüste wandernden Juden, jener schon oft angeführte Ausspruch Goethe's vor meiner Seele: »Und wenn das dort nun hier wird, ist Alles nach wie vor, und das Herz sehnt sich nach entschwundenem Labsal.«

Mit einer halb frohen, halb elegischen Stimmung schnallte ich am Abende vor meiner Abreise meinen Koffer zu, auch am Morgen meines Aufbruchs fühlte ich mir das Herz beengt. So mag es einem Kranken sein, der nach mancherlei vergeblichen Versuchen, sich herzustellen, sich zu einer Kur, zu einer Badereise anschickt, von der man ihm mit einer gewissen Zuversicht Heilung verheißen hat.

Ich sagte mir, daß ich reise, um die Welt zu sehen und mich auszubilden, und mein Gewissen fügte innerlich hinzu: Du willst versuchen, ob Du nicht lernen kannst, Dir im Leben ein für alle Mal selbst genug zu sein.

Während ich mich ankleidete, während meine Tante, bei der ich die Nacht vor der Abreise zugebracht, weil ich meine Möbel und Sachen schon zum Aufbewahren in eine Remise geschickt hatte, mir freundliche Hülfleistungen anbot, und mein Bruder und meine Schwester sich liebevoll in meiner Nähe hielten, kam es mir äußerst thöricht, ja ganz unbegreiflich vor, daß ich so in die weite Welt hinein gehen wollte, in der ich eigentlich gar Nichts zu holen hatte. Sie erschien mir so groß diese[390] Welt, so leer, so fremd! Ich hatte einen Augenblick, in dem mir vor meiner Reise und vor der Fremde graute.

Unzählig oft hatte ich mich gefragt, ob es mir möglich sein würde, nun ich meine Liebe für Heinrich überwunden hatte, nun ich vierunddreißig Jahre alt und freien Herzens war, eine sogenannte Vernunftehe zu schließen? Ob ich im Stande sein würde, mich in einer auf gegenseitige Achtung gegründeten Verbindung wohl zu fühlen, und mich einem Manne hinzugeben, ohne daß die höchste Liebesleidenschaft mir diese Hingabe zum Genuß und zur Nothwendigkeit machte? Und immer hatte ich mir letztlich diese Frage aus tiefster Ueberzeugung mit Nein beantwortet.

Hätte aber an jenem Morgen ein von mir geachteter Mann mir seine Hand angetragen und mich zum Weibe begehrt, ich glaube, ich würde seinen Vorschlag angenommen haben, so schmerzlich dünkte mich das einsame Fortgehen, so wenig hielt ich es für möglich, noch wahre Liebe für mich zu finden, so überwältigend wirkte der Augenblick. Jetzt zum ersten Male verstand ich die Handlungsweise der Eugenie in Goethe's »Natürlicher Tochter«.

Die Meinen geleiteten mich nach dem Bahnhof, wir trennten uns mit Thränen! Aber wie der Augenblick niederdrückend wirkt, so wirkt er auch erheiternd, und der schöne helle Sommermorgen, und das vergnügte Gesicht meiner Reisegefährtin verscheuchten die Schwermuth allmählich, welche ungeahnt von den Meinen die letzten Tage auf mir gelastet hatte. Es wäre mir ganz unmöglich gewesen, irgend einem Menschen zu zeigen, daß ich mich zaghaft fühlte, vor einem selbst gefaßten Entschlusse. vor einem lang ersehnten Ziele. Und es ist sicherlich gut,[391] wenn man sich gewöhnt, solche Aufwallungen, wie berechtigt sie immer sein mögen, in sich zu verschließen und mit sich selber abzumachen. Bei aller Wahrhaftigkeit, die wir gegen uns ausüben mögen, kommen doch Stunden, in denen wir uns mit einer vorübergehenden Selbsttäuschung am Besten beschwichtigen; Stunden, in denen Nichts uns weniger frommt, als wenn ein Anderer uns einräumt, daß wir Ursache zur Beschwerde, zum Kleinmuth, zum Verzagen haben. Und wie in tausend Verhältnissen eine Handvoll Gewalt weit besser ist als ein ganzer Sack voll Recht, so ist bisweilen bei ehrlichen und wahrhaftigen Naturen ein kleiner forthelfender Selbstbetrug ein weit höherer Segen als das erhabenste aber niederschlagende Zugeständniß reiner Wahrheitsliebe.

Ich hatte mir, nachdem wir ein paar Stunden von Berlin entfernt waren, meine Sache innerlich wieder ganz hübsch zurückgelegt. Was mich drückte, hüllte ich mir in die Schleier der Vergessenheit, was mir fehlte, philosophirte ich mir fort, und wie man mitunter, des Effektes wegen, eine schöne Façade vor einem baufälligen Hause aufführt, so stellte ich mir alle meine lachenden Aussichten in Reih und Glied neben einander auf, und fand bald wieder lebhaftes Vergnügen und großes Behagen an der selbstgeschaffenen Herrlichkeit.

Die Eisenbahnen reichten damals noch nicht weit, und das Fahren in den Schnellposten war bei der guten Jahreszeit recht angenehm. Das Wetter war vortrefflich. In denen kleinen wohlangebauten Fürstenthümern, von denen man alle anderthalbe Stunden ein anderes passirt hatte, in Reuß, Greiz, Schleiz, Lobenstein hingen die schönsten reifen Kirschen an den Bäumen und wurden[392] für geringe Preise feilgeboten. In Baireuth blüthen die herrlichsten Rosen, und eine Rose von Erz steckte auch in dem Knopfloch der Jean Paul Statue.

Jeder Tag brachte Neues! Nach zwei Tagen dünkte es mich, als hätte ich Berlin schon lange verlassen, als wäre ich schon lange mit meiner Reisegefährtin zusammen. Die Zeit mißt sich nach dem Erleben ab, und ist lang oder kurz, je nachdem sie für uns mit Ereignissen und Erlebnissen ausgefüllt ist.

In Nürnberg führte der vortreffliche greise Professor Heideloff, der Conservator der dortigen Kunstschätze, mich überall herum. Ich hatte ihn ein Jahr vorher bei der Dampfschifffahrt zwischen Prag und Dresden kennen lernen, als er von der Architekten-Versammlung zurückgekehrt war. Nun erfüllte er sein Anerbieten mir Nürnberg zu zeigen, in der freundlichsten und zuvorkommendsten Weise. Es war die erste wahrhaft mittelaltrige Stadt, welche ich kennen lernte, die erste Stadt, in der die Bauten und Kunstwerke aus dem Gemeinwesen und Gemeinsinn des Volkes naturwüchsig entstanden waren. Das fiel mir auf, und das Vorzügliche der Leistungen begriff ich. Weil ich aber noch keine alte Stadt gesehen hatte, dünkten mich manche Straßen und Plätze häßlich, die mir fünfzehn Jahre später, als ich wieder einmal, mit reiferer Bildung und mit einem durch vielfache Erfahrung berichtigten Maaßstabe nach Nürnberg kam, förmlich imponirend entgegentraten. Mit der sogenannten vielgepriesenen Frische und Richtigkeit der ersten Eindrücke ist es in der Regel ein übel Ding. Ich habe an mir selber Gelegenheit gehabt, ihnen mißtrauen zu lernen, und gegen die Naivetät, mit welcher die unfertige Bildung ihre frisch gewonnenen[393] Anschauungen auf gut Glück dem Publikum übergiebt, ein Bedenken zu haben. Nichts fordert mehr Reife, als schnelles Sehen und Beobachten, und Nichts wird doch für leichter erachtet. Ich könnte ganze Reihen ergötzlicher Anekdoten von den Mißgriffen erzählen, welche ich in dieser Beziehung theils begehen sah, theils selbst begangen habe; und hier und da findet sich wohl die Gelegenheit, eine davon zum Besten zu geben.

Wir gingen von Baireuth nach Stuttgart, wo ich Franz Dingelstedt, der damals dort Bibliothekar war, flüchtig kennen lernte, nahmen dann unsern Weg durch das reizende Enzthal und verweilten ein paar Tage in dem schattigen Wildbade, von wo wir uns nach Baden-Baden wendeten, weil ich meinen, mir lange schon befreundeten und doch von Angesicht noch unbekannten Vetter August Lewald dort zu besuchen wünschte.

Lewald war im Jahre fünfundvierzig ein Mann in den besten Jahren und in den besten Verhältnissen. Ohne groß zu sein, sah er mit seinem wohlgebauten Kopfe, mit seinen schönen braunen Augen, mit der gebogenen Nase und mit seinem großen Schnurrbart, dem alten Blücher ähnlich, und glich doch auch wie der meinem Vater und dessen Brüdern in gewissen Zügen. Das sprach mich gemüthlich an, und die Wärme und Herzlichkeit, mit denen er mich begrüßte, würden ihn mir lieb gemacht haben, wäre ich ihm nicht ohnehin schon herzlich dankbar verbunden gewesen.

Er redigirte damals noch die »Europa«, war mit andern eigenen Arbeiten beschäftigt, und hatte daneben eine große journalistische Correspondenz, wie sie seiner lebhaften Thätigkeit entsprach. Seine Vermögensverhältnisse[394] waren günstig, und er baute eben in jener Zeit mit großer Vorliebe an einer Villa auf der Höhe unterhalb des Schlosses, die er künftig beständig zu bewohnen beabsichtigte. Das Haus war nahezu fertig, er hatte viel Geschmack und Kunstsinn in der Anlage bewiesen und in demselben bereits Alles vereinigt, was er in seinem viel bewegten Wanderleben an Kunstgegenständen und Raritäten zusammengebracht. Er ließ mich diese besehen, sprach von seiner Absicht, die »Europa« abzugeben, sich ganz von der Journalistik zurückzuziehen, und genoß nach einem arbeitsvollen Leben mit unverkennbarem Vergnügen die Aussicht auf ein sorgenfreies und behagliches Alter.

Ich hatte viel Freude an ihm, und das um so mehr, weil er mir zu denken gab, und weil ich während der vier oder fünf Tage, welche ich mit ihm in Baden verlebte, wie bei dem Schütteln eines aus vielfachen Elementen wunderbar zusammengesetzten Kaleidoskops, immer neue Bilder von ihm und seiner Eigenthümlichkeit gewann.

Saßen wir an dem Mittagstische des Gasthofes, in welchem wir speisten, so war er ganz Lebemann. Die Zubereitung der einzelnen Speisen, die Champignons an der Sauce, die Trüffeln an der Pastete, die Feinheit des Filets und die Blume des Weines beschäftigten ihn ernsthaft. Er setzte ihren Werth auseinander, erklärte mir, wie er nur eine einzige Mahlzeit am Tage nehme, wie er aber dafür auch fordere, daß diese künstlerisch und vollendet zubereitet sei – und ich hörte ihm zu, wie man einem geistvollen Künstler zuhört, der eine seiner Lieblingsrollen darstellt.

Nachmittag, wenn wir vor dem Conversationshause den Kaffee einnahmen, stand das Kaleidoskop schon anders.[395] Lewald hatte dann in der Regel eine größere Gesellschaft um sich, und war ungemein unterhaltend und vielseitig. Er neckte, hudelte und ermunterte ein paar junge Literaten, die er seine apprentis journalistes nannte, und die seine Adjutanten bei der Redaction der »Europa« sein mochten; er stritt gegen die radikalen aber originellen Behauptungen von Georg Herwegh, der zu einem kurzen Besuche zu ihm nach Baden gekommen war. Er sprach mit Justinus Kerner von guten gemeinsamen Bekannten, brachte ihn dazu, einzelne Züge aus dem Seelenleben, wie Kerner dieses auffaßte, zum Besten zu geben, vermied es mit komischer List, eine Dame, die sich uns nahen wollte, zu sehen, zog eine andere Person, der er mich vorzustellen wünschte, an seinen Kreis heran. Er setzte das Wesen der modernen Oper heiter und trotz der Flüchtigkeit deutlich auseinander, zergliederte mit und vor seinen Adjutanten einige neuere literarische Arbeiten, nannte mir alle Vorübergehenden bei Namen, die mich irgend interessiren konnten, erklärte mir die einzig richtige Art den Kaffee zu bereiten; und als dann Sabine Heinefetter dazu kam, die ich schon in meinem Vaterhause vor Jahren hatte kennen lernen, und die wiederzusehen mir Vergnügen machte, waren Beide bald in die unerschöpflichen Bereiche der Theatergeschichten und Theateranekdoten gerathen, und brachten uns damit in ein unaufhörliches Lachen, denn Beide gingen bis an die äußerste Grenze des Erzählbaren, ohne diese doch jemals zu überschreiten. – Daß ein Mann von dieser Vielseitigkeit der Interessen, von einer solchen Fülle des Wissens, und von dieser Leichtigkeit und Eleganz der Mittheilung zum Redakteur einer Zeitschrift wie geschaffen war, mußte Jedem einleuchten.[396] Er war nicht eigentlich gelehrt, aber er hatte sehr viel und mit Geist gesehen und erlebt, viel Menschen gekannt, war höchst unterrichtet, voll eigener scharfer Beobachtung und verstand das Zusammenfassen und das Folgern in der glücklichsten Weise.

Wenn er dann einmal mit mir allein spazieren ging, was ein paar Mal geschah, so trat nur der ältere Verwandte und der treue ehrliche Berather an ihm hervor, der er mir durch Jahre bereits gewesen war; aber zugleich fiel es mir dann auf, daß er jenen Zug zur Romantik und zu dem Katholizismus, wie er zu Anfang unseres Jahrhunderts in den Menschen lebendig und auch in ihm in einer gewissen Epoche sehr vorherrschend gewesen war, nicht verloren, sondern durch sein ganzes bewegtes Leben hindurch in sich bewahrt hatte.

Da ich nach Italien gehen wollte, war es natürlich, daß sich das Gespräch zwischen uns mehrfach auf den Katholizismus wendete, und Lewald gestand mir dabei, daß er mit meiner religiösen oder vielmehr, wie er es mit Unrecht nannte, irreligiösen Richtung nicht einverstanden sei. Er meinte: das Gemüthsleben des Menschen und vor Allem der Frauen könne den Hinblick auf ein Unendliches, Mächtigeres und Allweises nicht entbehren, ohne ein unglückliches zu sein, ohne zu verarmen; und er getröstete sich, daß der Anblick der Kunstwerke, welche in Italien während des Mittelalters aus der Fülle des Glaubens erschaffen worden seien, mir den Sinn für dasjenige erschließen würden, was mir bis jetzt noch fern und unerfaßbar sei.

»Wenn Du die Madonnen Francia's, wenn Du die Engel des Fiesole und die Heiligen und Märtyrer des[397] Fra Bartolomeo sehen wirst, so wird Dir wohl die Erkenntniß kommen, daß in diesen Menschen eine Empfindung und ein Glaube mächtig gewesen sind,« sagte er sehr ernsthaft zu mir, »die zu besitzen ein hohes Glück sein muß, und aus deren Macht und Tiefe sich andere Werke erschaffen lassen, als diejenigen, welche der Verstand und die irdische Leidenschaft erzeugen.«

So eindringlich er zu mir sprach, wäre er mir mit diesen Ermahnungen in noch viel höherem Grade ein Gegenstand des Erstaunens geblieben, hätte ich mich nicht erinnert, daß ich unter den Papieren, welche ich in dem Nachlaß seiner Mutter gefunden, auch ein Dokument in Händen gehabt, in welchem sich Lewald als ganz junger Mann mit heiligen Eiden einem Illuminaten- oder Rosenkreuzerorden einverleibt hatte. Es lag also in seiner Organisation offenbar der Zug zu dem mystisch Unbegrenzten, und als ich später erfuhr, daß er auf den Wunsch seiner katholischen Gattin, an der er mit großer Liebe hängt, zum Katholizismus übergetreten sei, habe ich darin nur eine folgerechte Entwicklung seiner Natur, nicht etwa eine Laune oder gar eine Berechnung gesehen. Er ist Katholik und Monarchist aus seiner innersten Natur heraus. Das konnte man später recht deutlich erkennen, als das Jahr achtundvierzig herangekommen war; und welche Wandlungen er auch durchgemacht hat, er ist sich, d.h. seiner Wesenheit, in denselben ganz entschieden treu geblieben.

Ich versprach denn meinem Vetter, auf seine Ermahnungen zu achten, und in Italien die Malerei und die Kunst, und namentlich die Poesie des Katholizismus ohne Widerstreben auf mich wirken zu lassen. Ich habe[398] das auch gethan, und habe durch eine fortgesetzte liebevolle Beschäftigung mit der Kunst große Freude und mancherlei Förderung gewonnen. Aber die Saat trägt nicht die gleiche Frucht auf jedem Boden. Italien hat mich nicht katholisch, nicht romantisch gemacht, wenn schon ich es dort gelernt habe, die Romantik zu verstehen, und es anzuerkennen, daß für gewisse Organisationen der Katholizismus das entsprechendste Element ist. Und da die Menschennatur im Allgemeinen sich nicht ändert, da es immer Menschen geben wird, die nicht in sich allein beruhen, und mit den gegebenen Bedingungen der Existenz, sei es aus Maaßlosigkeit, aus übertriebenen Ansprüchen, aus phantastischer Sehnsucht oder aus unbegrenzter Empfindung, nicht fertig werden können, so wird die Welt einer diesen Organismen entsprechenden Religion schwerlich entbehren können. Welche äußere Gestalt daher das neue Italien dem Pabstthum zu geben auch nöthig haben wird, der Katholizismus oder eine ihm ähnliche Cultusform wird noch lange ein Bedürfniß für eine große Anzahl von Menschen bleiben. Ja es kommt mir oftmals vor, als werde die Welt sich einst rein zwischen Glaubenden und Denkern, zwischen Katholiken und Philosophen theilen, und als werde letztlich, da jede Religion ihrem Bekenner auch sein politisches Glaubensbekenntniß aufprägt, auch die politische Zukunft der Welt danach immer nur zwischen den der Religion entsprechenden zwei Formen sich bewegen können. Wer selbst denkt muß sich selbst beherrschen und regieren, wer sich den Weg zu seiner innern Befriedigung von Andern vorzeichnen läßt, muß sich auch in seinen Lebensverhältnissen von Andern leiten lassen, muß einen Herrn und womöglich einen absoluten[399] Herrn haben. Mittelzustände können sich noch durch Jahrhunderte aufrecht erhalten, aber die Vernunft hat eine consequente Nothwendigkeit, der auf die Länge nicht zu widerstehen ist. Da die Freiheit auf religiösem Gebiete die Freiheit auf allen andern Gebieten nothwendig zur Folge hat, so hat auch der Autoritätenglauben mit seiner Selbstentäußerung seine innere Nothwendigkeit, – und ich kann mir es nicht anders vorstellen, als daß die Welt sich einst zwischen freidenkenden Republikanern und katholische Despotien vertheilt. Denn die eigentliche dauernde Lebensfähigkeit wohnt schließlich nur den reinen, ungebrochenen Principien und Kräften inne, und der ganze Kampf unserer Zeit ist der Kampf dieser Principien und der Kampf um ihre Verwirklichung.[400]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 3, Berlin 1871, S. 388-401.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Meine Lebensgeschichte
Meine Lebensgeschichte (1; V. 3); Von Fanny Lewald
Meine Lebensgeschichte (2-3); Von Fanny Lewald
Meine Lebensgeschichte (1)

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Traumnovelle

Traumnovelle

Die vordergründig glückliche Ehe von Albertine und Fridolin verbirgt die ungestillten erotischen Begierden der beiden Partner, die sich in nächtlichen Eskapaden entladen. Schnitzlers Ergriffenheit von der Triebnatur des Menschen begleitet ihn seit seiner frühen Bekanntschaft mit Sigmund Freud, dessen Lehre er in seinem Werk literarisch spiegelt. Die Traumnovelle wurde 1999 unter dem Titel »Eyes Wide Shut« von Stanley Kubrick verfilmt.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon