Viertes Kapitel

[51] Das jüdische Ritualgesetz schreibt die einfachste Leichenbestattung vor. Es kennt für alle Volksgenossen, reich oder arm, vornehm oder gering nur eine Einrichtung und macht die Beerdigung der Todten zur Sache der Gemeinde, und zu einem der gebotenen guten Werke. Das ist ein schöner Brauch, den die frommen katholischen Brüderschaften dem Judenthum entlehnt haben, und der sich bis auf diese Stunde in Italien erhalten hat.

Sobald dem jüdischen Gemeinde-Vorstand eine Leiche angemeldet wird, kommen je nachdem, ältere Männer oder Frauen aus der Gemeinde, sie zu waschen und einzukleiden. Ein langes weißes Hemde, eine weiße Haube für die Frauen, eine weiße Mütze für die Männer, das ist der ganze Schmuck, ein schlichter, aus nacktem Holze zusammengeschlagener Sarg die einzige Hülle, welche den Menschen von der mütterlichen Erde trennt, in die aufgelöst zu werden seine Bestimmung ist. Eine Person aus der Gemeinde hält die Leichenwache, die bis zur Beerdigung fortgesetzt wird. Die Beerdigungsgesellschaft, welche aus jungen Männern besteht, stellt den weißen Holzsarg in den allgemeinen Sarg des Leichenwagens und geleitet, neben demselben hergehend, die Leiche zu Grabe, während[51] die Leidtragenden sich wie überall dem Zuge anschließen, nur daß, wie ich glaube, die Frauen vom Gefolge ausgeschlossen sind. Nach dem strengen Ritus zerreißen die Leidtragenden, wie es im Oriente geschieht, ihr Oberkleid, sitzen eine gewisse Reihe von Tagen trauernd an der Erde, und es werden neun Tage hindurch Todtengebete in dem Hause gehalten; aber die Aufklärung der Königsberger Judengemeinde nahm von allen diesen Ceremonien auf meines Vaters Erklärung, daß wir keinen Sinn damit verbänden, augenblicklich Abstand.

Nachdem einige ältere Frauen unsere Mutter eingekleidet hatten, entfernten sie sich und überließen uns die Leiche, so lange sie noch auf der Erde war. Wir konnten sie zu jeder Stunde sehen, wir konnten ihr die Blumen, die Veilchen, welche Mathilde und deren Mutter ihr brachten, und die recht eigentlich das Sinnbild ihres Wesens waren, in den Sarg legen, und als dann am Beerdigungstage die Leiche abgeholt wurde, hatten sich lauter junge Männer dazu gefunden, welche wir kannten, und die Stille, die Feier, mit der sie ihr Amt verrichteten, waren eine wirkliche Wohlthat für uns, und wirklich ein gutes Werk. Daß aller Prunk bei den Beerdigungen vermieden, daß im Tode der Aermste und der Reichste gleichgestellt werden, und daß auf diese Weise die trauernden Familien der Sorge für äußerliche Angelegenheiten wenigstens für die ersten Stunden und Tage enthoben werden, ist eine so schöne Einrichtung, daß sie werth wäre, auch in den protestantischen Gemeinden nachgeahmt zu werden.

Mein Vater hatte uns Schwestern angewiesen, der[52] Mutter bis an die Thüre des Hauses das Geleit zu geben. Von seinen beiden Söhnen war leider keiner anwesend, und es gab damals weder Telegraphen noch Eisenbahnen. So viel Theilnehmende sich auch eingefunden, der Mutter die letzte Ehre anzuthun, so folgte doch er allein der Mutter aus unserm Hause an ihr Grab, und der treue Rath Crelinger stand ihm zur Seite.

Der Vater verlebte die ersten Tage mit uns in völliger Zurückgezogenheit. Wir aßen ohne seine Handlungsgehülfen, er ging nicht in das Comptoir, arbeitete dasjenige, was unerläßlich war, in unserer Wohnung, und ließ nur früh einen seiner Commis zu sich kommen, ihm die nöthigen Weisungen und Anordnungen zu geben. Im Hause aber blieb Alles in der strengsten Ordnung. Die Mahlzeiten wurden auf die Stunde gehalten, und so vortrefflich war damals doch noch die unvergleichliche Constitution des Vaters, daß trotz des schweren Schlages, welchen er erlitten hatte, Schlaf und Appetit ihm nicht fehlten, und daß das Gleichgewicht seiner Kräfte nicht im Geringsten gestört wurde, was er auch erlitt. Ich habe nie einen Mann gesehen, der ruhiger und darum erschütternder in seinem Schmerze war als er. Er preßte, wenn er weinte, die Lippen fest zusammen, und die Thränen flossen ihm dann still und sanft über sein schönes Antlitz.

Am Tage nach der Beerdigung wurde die alte Lebensweise sogleich wieder aufgenommen; aber wir saßen hier und saßen dort, und gingen hin und wieder, und thaten dies und jenes, um nicht ganz still zu sitzen; die Stunden kamen und schwanden, die Uhr schlug, man sprang aus Gewohnheit zu einer bestimmten Leistung empor, und[53] setzte sich wieder, denn sie war nicht mehr nöthig. Man sah einander verwundert an, Niemand hatte etwas Rechtes zu thun. Das Haus war, als hätten es alle seine Bewohner verlassen, nun die Mutter nicht mehr da war, welche so lange wir denken konnten den Mittelpunkt unserer Vorsorge und unserer Leistungen gebildet hatte. Diese Oede, die nach jedem ähnlichen Verluste eintritt, hat etwas Furchtbares; die Gedanken entbehren ihres gewohnten Zieles, eine geistige Lähmung befällt uns, und wir erholen uns von ihr nur langsam, um die grausenhafte Nothwendigkeit der Endlichkeit in ihrer ganzen Schwere zu empfinden, um mit Zittern daran zu denken, daß Nichts von Allem, was wir an geliebten Menschen besitzen, uns dauernd gegönnt ist. Der erste Todesfall, welcher uns so nahe trifft, nimmt uns ein für allemal die Sicherheit des Daseins; und wer erst einen seiner Geliebten hat sterben sehen, der sieht das Todeszeichen jedem ihm theuren Haupte aufgedrückt, und betrachtet jeden Tag des Lebens und des Zusammenseins mit den Geliebten als eine Gunst, die durch werkthätige Liebe verdient sein will.

Mein Vater hatte immer eine große Gleichgültigkeit gegen alles dasjenige ausgesprochen, was mit der äußern Trauer um die Todten zusammenhing, und häufig geäußert, es sei ihm durchaus einerlei, wo er einmal begraben werde, und wie man ihn begrabe. Die Mutter jedoch hatte Werth auf alle diese Dinge gelegt. So bestimmte der Vater denn auch, daß wir ein volles Jahr die Trauer für sie tragen sollten, und ließ, als habe der Tod seiner Frau seine Ansichten in dem Punkte geändert, als er das Grabdenkmal für sie errichtete, zugleich die[54] Grabsteine seiner Eltern und Voreltern, seines Bruders und seiner beiden frühverstorbenen Knaben, erneuen, daß eine ganze Geschlechtsreihe auf dem Friedhofe zu übersehen war, auf dem auch er nur zu bald seine Ruhestätte an unserer Mutter Seite finden sollte!

Es lag in meines Vaters Art, Nichts dem Zufall zu überlassen, was durch Organisiren festgestellt werden konnte, und so traf er denn auch mit dem Beginn des Jahres zweiundvierzig neue Anordnungen für unsere häuslichen Verhältnisse. Nach seinem Grundsatz, daß alle seine Kinder vor ihm gleich, und darum gleichberechtigt in ihrer allgemeinen Stellung und im Leben wären – einen Grundsatz, der, unrichtig an sich, in der Praxis sich überall nicht durchführen ließ und sich nicht bewähren konnte – sollten wir vier ältesten Schwestern fortan regelmäßig abwechselnd im Hause selbstständig schalten. Meine Mutter hatte die Totalsumme unseres Bedarfes nie genau gekannt, sie hatte bekommen, so viel eben bei ihrer sparsamen Eintheilung des Geldes für den eigentlichen Unterhalt nöthig gewesen war, das Uebrige war nach Bedürfen von dem Vater gefordert und von ihm gegeben worden, so daß nur er den Umfang der Ausgaben vollständig übersehen konnte. Die Mutter hatte sich dadurch immer unbehaglich gefühlt, während mein Vater sie in dieser Ungewißheit zu erhalten gewünscht, damit die Größe unseres Bedarfes sie nicht beunruhigen, und sie nicht etwa auf den Gedanken kommen möchte, ihre Einschränkungen mit dem für sie selbst Nothwendigen zu beginnen. Jetzt setzte sich der Vater mit uns zu einer Berathung hin, und es wurde ein genaues Budget entworfen, in welchem bestimmte Summen für[55] den Haushalt, für Haushaltsanschaffungen, für Gesellschaften, für Unterricht, Vergnügungen u.s.w. festgestellt wurden, die fortan unter keiner Bedingung überschritten werden sollten. Sämmtliche Töchter bekamen Garderobengeld, in jedem Monat erhielt eine Andere die volle Summe für die Wirthschaftskasse; jeden Monat mußten die Rechnungen abgeschlossen werden, und da wir Alle auf diese Art das Haushalten erlernten, sofern wir es nicht schon verstanden hatten, so bildete sich bald ein Uebereinkommen aus, nach welchem wir einander von Monat zu Monat eine Reserve an Geld und Vorräthen zurückließen, damit die Maschine nicht in Stocken und die jedesmalige Verwalterin nicht in Ungelegenheiten geriethe. Unser Hausstand hatte sich jetzt abermals verkleinert. Unsere Mutter war todt, die Brüder blieben in der Fremde, ein Dienstmädchen konnte entlassen werden, die ganze mittlere Etage wurde wieder vermiethet, und als in der Mitte des Jahres meine zweite Schwester nach Berlin ging, um einer entfernten Verwandten Gesellschaft zu leisten, welche durch eine Reihe sich schnell folgender Todesfälle in ihrem Hause vereinsamt war, dünkte uns unser Hausstand äußerst klein, weil er von achtzehn auf dreizehn Personen heruntergesunken war.

Unser Zusammenleben mit dem Vater wurde von da ab nur noch inniger. Er war milder geworden als je, und wendete namentlich den jüngern Töchtern eine noch größere Zärtlichkeit zu, als wolle er sie für die Mutterliebe entschädigen, die ihnen früher als den älteren Geschwistern entzogen worden war. Seine Strenge ließ völlig nach, er gab es zu, daß wir ihm etwas mehr Pflege[56] angedeihen ließen, er hinderte es nicht, daß wir ihm seine Schlafstube bequemer einrichteten, daß er der Mittelpunkt der Vorsorge wurde, wie unsere Mutter es bis dahin gewesen war; und da wir nun eine genaue Uebersicht über unsern Bedarf gewonnen hatten, und die uns zu Gebot gestellten Mittel danach eintheilen konnten, so fanden wir uns im Stande, allmälig noch mehr für die Bequemlichkeit und Eleganz der Einrichtung, ja selbst mehr für das Behagen der Einzelnen zu thun, als es früher möglich gewesen war.

Da die Brüder nun für sich selber sorgten und unsere Ausgaben sich bedeutend verringert hatten, wurde mein Vater sorgenfreier, und wir mit ihm, ohne daß wir uns dessen erfreuen konnten, denn es schien, als ob mit dem Tode unserer Mutter, als ob mit der fehlenden Nothwendigkeit, seine Thätigkeit und seine Energie in seinen Geschäftsangelegenheiten auf das Aeußerste anzuspannen, auch seine rechte Kraft erlahmt wäre. Er war nicht krank, er fand auch seine Ruhe, seine heitere Gleichmäßigkeit im Laufe der Zeit in alter Weise wieder, er nahm lebhaften Antheil an Allem was uns betraf, wie an dem Allgemeinen, es hätte Niemand sagen können, was mit ihm anders geworden sei; und doch fühlte Jeder von uns, daß der Vater älter geworden sei, doch hatte Keiner von uns mehr das alte, schöne, übermüthige Gefühl, mit welchem wir ihm neckend zu sagen pflegten, daß er mit uns in einem Alter sei. Sein schönes Haar, das schon seit seinem dreißigsten Jahre grau gewesen war, wurde dünner, um seine prächtigen braunen, klaren Augen bildete sich ein leiser grauer Ring, seine Züge verloren die feste Spannkraft[57] oder hatten sie doch nur, wenn er besonders angeregt war. Fremde sahen es damals noch nicht; wir, die wir jede Miene, jede Bewegung seines Antlitzes kannten, wurden die Unruhe nicht los, denn der Vater zählte erst vierundfünfzig Jahre, und das war nicht die Zeit, in welcher das Greisenalter an den Menschen naturgemäß herantritt. Aber wo der Mensch sehr liebt und sehr fürchtet, da hofft er auch um so zuversichtlicher, und da mein Vater niemals über irgend eine Beschwerde klagte, da er selbst sich des besten Wohlseins rühmte, so beruhigten auch wir uns, und ergingen uns in Planen, wie dem Vater ein möglichst heitres und sorgenfreies Alter zu bereiten sei.

Meine Arbeit war durch den Tod meiner Mutter sehr in's Stocken gerathen. Die mancherlei Umgestaltungen, welche wir zu bewerkstelligen hatten, die Correspondenz, welche ein Todesfall hervorruft, und mehr noch meine schlechte Gesundheit hatten mir das Schreiben unmöglich gemacht, denn es gab damals wenig gute Tage für mich. Ich litt bald auf diese bald auf jene Weise, und konnte mit dem besten Willen nicht mehr Herr über mich werden. Ich wußte, daß ich mir, nicht meine Beschwerden und Schmerzen, wohl aber ihre Bedeutung hypochondrisch übertrieb, und doch waren sie im Moment, in welchem sie mich überfielen, so quälend und beängstigend, daß ich zu sterben glaubte, selbst wenn ich fünf Minuten vorher mir diese Angst als eine Thorheit vorgehalten, und ihre Wiederkehr bei jedem neuen Anfall als eine Verstandesschwäche verdammt hatte. Da aber, nach dem alten französischen Sprichwort, jedes Unglück zu Etwas gut ist, so hatten[58] meine beständigen Todesgedanken das Gute für mich, daß sie mich mehr und mehr gewöhnten, an jedem Abende meine kleinen Angelegenheiten so zu ordnen, alle meine Beziehungen so klar und übersichtlich zu halten, als sollten sie nun graden Weges in andre Hände übergehen, von andern Augen als den meinen angesehen werden; und da der Gedanke an den Tod in mir durch mein ganzes Leben gleich lebendig geblieben ist, so bin ich denn auch durch Gewohnheit dahin gekommen, stets mit meinen sämmtlichen Beschäftigungen und Angelegenheiten auf dem Laufenden, und mit den äußern Dingen gleichsam immer reisefertig zu sein, so fest das Herz und das Lieben sich auch an die Erde klammern und so groß und entschieden die Lust an dem lebenden Verweilen auch in mir ist.

Im Anfang des Frühjahrs, als ich wieder an meinem Roman zu arbeiten begonnen, schickte mir Lewald einen Brief von Brockhaus, der bei ihm angefragt hatte, ob der Verfasser der Clementine ihm nicht einen Beitrag für den nächsten Jahrgang des damals noch existirenden Taschenbuches Urania liefern könne. Das machte mir große Freude, denn es war mir ein Beweis für den guten Erfolg meiner ersten Arbeit. Ich hatte nun freilich keine Novelle fortzugeben, ließ ihm aber, ermuthigt durch seine Anfrage, den Verlag des neuen Romans anbieten, den er auch augenblicklich und unter günstigen Bedingungen übernahm.

Ich arbeitete denn nun rüstig fort, so weit meine Gesundheit dieses zuließ, die freilich immer schwankender wurde. Kam der Wirthschaftsmonat an mich heran, so mußte ich auf meine Arbeit verzichten, und konnte sie[59] nur in gelegentlichen Pausen, d.h. des Abends zwischen fünf und sieben Uhr, zwischen der Kaffeestunde und der Zeit, in welcher ich die Vorkehrungen für das Abendbrod zu machen hatte, vornehmen, was ich denn auch redlich that. Heiß und erregt kam ich danach aus meiner Stube in das Wohnzimmer hinunter, in welchem der Vater mit den andern Schwestern schon beisammen, und in der Regel Jeder für sich mit Lesen beschäftigt war. Ich hatte dann den ganzen Abend einsam zugebracht, und wollte plaudern; die Andern, welche bis dahin mit einander geplaudert hatten, und nun zu lesen wünschten, weil der Vater las, wiesen mich natürlich zurück, und baten sie in Ruhe zu lassen. Ein Buch zur Hand zu nehmen, war mir unmöglich, weil alle meine erdichteten Figuren mich noch umringten, meine eigenen Gedanken, oft noch nicht völlig abgeklärt, nach Klarheit rangen, und ich gerieth dann in ein stilles innerliches Fortarbeiten, das nicht nachließ, und mich noch beschäftigte und anspannte, wenn ich mich später zur Ruhe legte. Damit war mir dann mein Schlaf geraubt, von meinen Arbeiten schweiften meine Gedanken in die Vergangenheit zurück, ich kam auf die Erinnerungen, die ich am Tage mit aller Kraft von mir zurückwies, und stand ich endlich am Morgen auf, so hatte ich allerdings meine Arbeit um ein gutes Stück gefördert, meine Gedanken aufgeklärt, eine Menge guter Vorsätze gefaßt, eine Reihe von dichterischen und von Lebens-Planen in mir entwickelt, nur geschlafen hatte ich nicht, und die Folgen davon wurden mir immer fühlbarer, und auch immer sichtbarer an mir, denn ich sah so übel aus, daß mein Vater mich mit Sorge betrachtete, und ich selbst oft[60] verwundert darüber war, wie meine Kleider, meine Armbänder, meine Ringe mir weit und weiter wurden, und wie sehr ich im Laufe eines Jahres gealtert hatte. Ich litt davon mehr als ich irgend Jemand sagen konnte, es that mir so wehe, diesen vorzeitigen Verfall zu sehen, und mir sagen zu müssen, daß die Jugend für mich vorbei sei. Der Baum, der seine Blätter im Herbste abwirft und sich im Frühjahr neu im Schmucke seines frischen Grün's erhebt, kam mir beneidenswerth vor, neben dem Menschen, der mit Bewußtsein sein eigenes Vergehen beobachten muß, und daß auch uns mit neuem geistigem Leben, mit neuem Glauben, neuer Liebe und wiederbelebtem Streben und Hoffen eine neue und dauerhaftere Jugend beschieden werden könne, das war eine Erfahrung, die ich in meinem Bekanntenkreise nicht gemacht, und an mir selber noch erst zu machen hatte.

In der Mitte des Sommers, des ersten, den die ganze Familie nach einer Reihe von Jahren gemeinsam in der Stadt verlebte, beendete ich meinen zweiten Roman, und in den ersten Tagen des August kam mein Bruder aus Rußland zu uns zum Besuche, aber er kehrte uns nicht wieder, wie er gegangen, er war der »alte, freie Vogel nicht mehr«.

Schon im ersten Jahre seines Aufenthaltes in Brest hatte er die Tochter einer angesehenen polnischen Familie, in welcher er Arzt geworden, kennen lernen und eine lebhafte Liebe für sie gefaßt. Der Vater der jungen Dame war todt, sie lebte bei einer Stiefmutter, von der sie keine gute Behandlung erfuhr, und die kein anderes Interesse an der Stieftochter hatte, als sie früh und möglichst glänzend[61] zu verheirathen. Aber Camilla war brustkrank, und die Baronin hatte mei nen Bruder eigentlich nur zu Rath gezogen, um von ihm einen Widerspruch gegen die Ansicht ihres Hausarztes zu erhalten, daß eine Verheirathung des jungen Mädchens an und für sich bedenklich und nicht zu gestatten sei, wenn man dasselbe zu erhalten wünsche. Mein Bruder hatte dieses Urtheil nur bestätigen können, indeß die Mutter war deßhalb von ihrem Plane nicht abgewichen, und während sie dem jungen fremden Arzte, der ihr und ihrer Tochter bald mehr Zutrauen als der alte Brester Doktor einflößte, die Behandlung ihrer Tochter anvertraute, während sich eine heftige Leidenschaft zwischen dieser und meinem Bruder bildete, betrieb die Baronin eifrig die Verlobung derselben mit einem Bewerber, welcher allen ihren Anforderungen entsprach, und ihr die Aussicht bot, sich möglichst bald von der Sorge für die Stieftochter zu befreien.

Moritz, der es nicht gewohnt war, aus seinem Leben ein Geheimniß zu machen, hatte uns bald den Conflikt verrathen, in welchem er sich befand. Er sah das Mädchen, das er liebte, täglichen Kränkungen ausgesetzt, die ihr, so lange sie in der Hand der Stiefmutter blieb, nicht erspart werden konnten; sich ihnen zu entziehen gab es nur das eine Mittel – eine Heirath, und er wußte, daß eine Heirath ihr verderblich, daß der Mann, dem sie bestimmt war, ihr zuwider sei, und Moritz liebte sie selbst. Der Gedanke, sie zu heirathen, war unter den Verhältnissen schnell in ihm entstanden, er hatte ihn gegen meinen Vater ausgesprochen, war auf die entschiedenste Abneigung dagegen gestoßen, und wir Alle hatten uns dagegen aufgelehnt.[62] Der Vater hatte die Einwendung gemacht, daß Moritz erst im Beginne seiner Laufbahn, daß sein Fortkommen noch nicht gesichert, daß er unfertig in sich, und daß es unverantwortlich sei, eine brustkranke Frau zu heirathen und die Schwindsucht auf Generationen fortzupflanzen. Er hatte den Brüdern oft scherzend gesagt: wenn Ihr einmal so weit sein werdet Euch zu verheirathen, verpfuscht mir durch Eure Frau die Race nicht, nehmt kein Mädchen, das ihr nicht im Negligé und dessen Mutter Ihr nicht gesehen habt, und laßt Euch durch den ersten Weinkrampf Eurer Frau nicht einschrecken! – Jetzt wendete er diese scherzhaften Rathschläge ernsthaft an, und wir unsererseits hielten uns ebenfalls berechtigt, auf den Bruder einzudringen mit allen guten und schlechten Gründen, die sich uns dagegen darboten.

Moritz gab nach, und das Mädchen, das an ihm irre, und dem das Leben im Hause der Mutter und vielleicht auch das Leben neben meinem Bruder zu schwer werden mochte, verlobte sich mit dem Manne, den man ihr bestimmt hatte, um durch den Gram und die Aufregung noch leidender zu werden, als sie gewesen. Es war unmöglich, in diesem Zustande zur Hochzeit zu schreiten, sie wurde hinausgeschoben, der Bräutigam entfernte sich, aber das arme Mädchen hatte es nun bei der Stiefmutter nur um so übler, Moritz mußte das mit ansehen, und war in seinem Zweifel, was zu thun sei, erst vollends unglücklich.

»Mit mir geht es entschieden nicht gut, um nicht zu sagen schlecht«; hatte er mir im März geschrieben. »Hier neben Camilla bin ich unglücklich, und fort von hier kann[63] ich nicht, bis ich erst sicher weiß, was aus ihr wird. Sie ist gegenwärtig besser als im Winter und das will viel sagen, denn wir haben jetzt die schlechteste Jahreszeit für sie. Der Bräutigam kommt wie es scheint, durch Camilla's Kälte und durch ihre Krankheit bedenklich gemacht, nicht wieder, aber das macht die Nothwendigkeit, sie ihrer Stiefmutter zu entziehen, nur um so dringender. Ich kann mir sagen, ich habe versucht und ertragen, was ein Mensch ertragen kann, über seine Kräfte hinaus geht es einmal für Niemand. Ich bin nicht durch Sinnlichkeit an Camilla gebunden, sondern ich liebe, achte, schätze sie, und fühle nach langem schmerzlichen Experimentiren an mir, daß sie mir zum Glücke nothwendig ist, sehe auch nicht ein, was diese Verbindung mir schaden soll. Ist sie im Frühjahr nicht übler daran, so schaffe ich mir, wenn der Bräutigam nur fortbleibt, die Zustimmung der Mutter schon, und heirathe sie; es dreht sich Alles nur um meines alten Herrn Zustimmung. Ich weiß zum Voraus alle Gründe, die man gegen mich aufführen kann: Erstens sie ist eine Polin, also kokett und keine gute Wirthin. Zweitens sie ist katholisch, geht also zur Beichte und das stört das eheliche Glück; drittens sie ist krank, also eine Last für mich; viertens wir werden nicht haben wovon zu leben – noch ist aber kein ordentlicher Arzt verhungert; fünftens bin ich ein getaufter Jude und sie ist in Vorurtheilen erzogen; sechstens Vater hat auf mich gerechnet, um im Falle seines Todes, den Gott lange verhüten möge, in mir auch eine Stütze für Euch zu haben; das ist aber auch der einzige einigermaßen stichhaltige Grund, und darüber hoffe ich unserm alten Herrn Beruhigung[64] geben zu können. Was die Gegenwart mir bringen wird, kann ich so ziemlich berechnen, und bin damit zufrieden; was die Zukunft mir bringen kann, kann ich nicht wissen; aber da Jeder in jedem Augenblicke sterben kann, ist Der ein Thor, der Jahre und Jahre lang hinaus sorgt und darüber den Augenblick verpaßt. Ich werde den alten Herrn um Erlaubniß bitten, so wie ich in einiger Sicherheit über Camilla's Befinden bin, aber mit dieser Erlaubniß ist's ein eigen Ding und ich schäme mich, sie zu fordern, denn ich werde den Schritt auch thun, wenn die Erlaubniß mir versagt wird. Ich sehe ganz deutlich voraus, wie es kommen wird; man wird mich nach Königsberg bitten, um mit mir zu konferiren und mich wo möglich dort zu behalten, oder der Vater selbst wird zu mir kommen, oder man wird Camilla wissen lassen, daß es meiner Familie sehr unangenehm wäre, wenn sie mich heirathete – aber thäte man das Letztere, so wären zunächst alle Bande zwischen mir und der Familie gelöst, so viel Seelenschmerz und Trauer mir das machen würde – und Camilla würde ich trotzdem zu überreden wissen, obschon es in dem Falle schwer werden dürfte. Du solltest Camilla kennen, und wenn Du nicht meine Liebe für sie theiltest, müßte ich Dich nicht mehr kennen.«

Gleich nach Absendung dieses Briefes aber war der Bräutigam des armen Mädchens wieder gekehrt, hatte sein Anrecht geltend gemacht, Camilla's ganze Familie, welche die Heirath mit dem reichen Edelmann der Verbindung mit dem unbemittelten Arzte natürlich vorziehen[65] mußte, hatte sich auf die Seite des Ersteren gestellt, das junge kranke Mädchen hatte nicht den Muth oder nicht mehr die Kraft gehabt, sich zu widersetzen, Moritz selber hatte, um dem kranken, unglücklichen Geschöpf die aufreibenden täglichen Scenen zu ersparen, »ihr zugeredet nachzugeben«. Die Hochzeit stand nahe bevor, und es hatte unter diesen Verhältnissen den Vater nur wenig Ueberredung gekostet, seinen Sohn zu einem Besuche in der Heimath zu bewegen.

Das erste Wiedersehen war traurig – die Mutter war nicht mehr da. Als man sich dann in alter Weise zusammenfand, konnte Niemandem die Veränderung entgehen, die sich an dem Bruder vollzogen hatte. Er hatte viel erlebt, viel beobachtet, viel erfahren, war reifer, ernster, tiefer geworden. Die fröhliche Harmlosigkeit, der glückliche Leichtsinn seiner frühern Jahre waren dahin. Er war ein Mann geworden, aber ein Mann, dem der rechte Lebensmuth, die rechte beharrliche Kraft des Wollens fehlten. Wie manche Menschen nur stoßweise zu arbeiten vermögen, so waren sein Wollen und seine Energie nur eine stoßweise kräftige, und meinem Vater persönlich gegenüber war er nach wie vor fast willenlos. Höchstens scherzend vermochte er gegen ihn seine Meinung aufrecht zu erhalten, und sah er, daß diese dem Vater nicht gefiel, so hatte er aus Furcht, seine Ansicht nicht ruhig und gefaßt vertreten zu können, nichts Eiligeres zu thun, als sich gegen seine Ueberzeugung aus Zärtlichkeit zu fügen, und zuzugeben, was er nachher nicht durchführen konnte. Der Vater, statt sich zu sagen, daß er diese Charakterschwäche[66] zum Theile in dem Sohne selbst erzeugt, daß sie nebenher eine Folge großer Liebe sei, hielt ihn einfach für weniger reif und tüchtig als er wirklich war, und Moritz, der sich seiner Haltungslosigkeit vor dem Vater immer schämte, kam dann bisweilen mit seinem festen Wollen bei Gelegenheiten zum Vorschein, welche dieses Aufwandes von Kraft nicht werth waren, und den Vater in seiner Ansicht »über die Unzulänglichkeit des Jungen« nur bestärkten. Ich habe diese Seite von dem Charakter meines Bruders als Motiv für die Figur des »Georg« benutzt, als ich lange nach seinem Tode meinen Roman »Wandlungen« schrieb.

Es war unverkennbar, daß Moritz nur mit halber Seele bei uns war, eben so unverkennbar auch, daß er wie früher an uns hing, daß der Aufenthalt im Vaterhause ihm trotz alledem sehr wohl that, und daß er dem Vater womöglich mit noch größerer Zärtlichkeit als früher ergeben war; indeß bei uns zu bleiben, wie der Vater von ihm forderte, konnte er so ohne Weiteres sich nicht entschließen. Er mochte seine Thätigkeit, seine mühsam gewonnene Stellung nicht entbehren, nicht auf's neue erwerblos und abhängig werden, und da die Bemühungen meines Vaters, dem Sohne bei einem städtischen Krankenhause eine Stelle als Arzt zu erwirken, erfolglos blieben, da Moritz obenein die Nachricht erhielt, daß die Geliebte auf's Neue schwer erkrankt sei, war er nicht in der Heimath festzuhalten.

Er sehnte sich fort, und trennte sich doch ungern und schwer von uns und seinem Vater. Wir sahen[67] ihn noch schwereren Herzens scheiden, vermochten aber nicht ihn zum Verweilen aufzufordern, und Alle im Zwiespalt mit uns selbst und mit unserm Wünschen und Können, mit unserm Wollen und Thun, mußten wir ihn nach einem fünfwöchentlichen Besuche noch einmal von uns ziehen lassen – um ihn nie mehr wieder zu sehen.[68]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 3, Berlin 1871, S. 51-69.
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