Drittes Kapitel

[37] Ein altes französisches Sprichwort sagt: die Tage folgen einander, ohne sich zu gleichen! Neben der begeisterten Erregung, in welche mein erstes Schaffen und Arbeiten mich versetzte, fanden sich denn auch grade wieder Sorgen und Kummer genug ein, um mich fortwährend an die Bedingungen des äußern Lebens und an die Familie zu erinnern. Ein Theil dieser Sorgen kam uns durch meinen jüngsten Bruder.

Während der Zeit, welche er sich seines Examens halber in Wilna aufzuhalten genöthigt wurde, hatte er sich überzeugen müssen, daß dort und in den andern größern Städten Polens kein Mangel an Aerzten vorhanden und daß man keineswegs geneigt sei, ausländischen Aerzten die Niederlassung in denselben zu erleichtern. Wollte Moritz also nicht die Zeit daran wenden, welche mitten in einer starken Konkurrenz zur Gewinnung einer ihn ausreichend ernährenden Praxis nöthig gewesen wäre, und wollte er während dieser Zeit nicht dem Vater mit seinen Bedürfnissen zur Last fallen, so blieb ihm Nichts übrig, als sich in einem kleinen Orte festzusetzen, wozu er sich denn auch, freilich mit innerem, wenn auch verborgenem Widerstreben, entschließen mußte, da mein Vater[37] ihm die Erlaubniß versagte, als Arzt zur russischen Armee zu gehen, wozu der Bruder Neigung hatte.

Nach vielem Hin und Her, nach langem Berathen und Erwägen ging er nach Brest, einer Stadt von etwa zehntausend Einwohnern in russisch Lithauen ab, und war nun in einer Weise auf sich selber angewiesen, welche für ihn die allerungeeignetste war. Ohne alle geistige Anregung, ohne eine ausreichende Beschäftigung, sah er den ersten Winter herankommen. Eine kluge polnische Jüdin, in deren Haus er wohnte, und ein alter katholischer Geistlicher, den er behandelt hatte, machten den einzigen ihm zusagenden Umgang aus, und welch ein Umgang war das für ihn! »Die geistige Einöde, in der ich lebe,« schrieb er mir im November vierzig, »ist wirklich tödtend, und ich warte mit Ungeduld auf meine Bücher, die noch immer nicht angelangt sind. Der Winter wird langweilig werden, wenn ich nicht viel zu thun bekommen sollte. Ich nehme in den Gesellschaften mit Consequenz keine Karte in die Hand, und doch ist das hier die einzige Abendunterhaltung. Selbst Damen, wenn sie nicht Whist spielen, legen doch mindestens Patience; es ist mitunter sachte zum Verzagen. Du meinst, ich könnte wohl, durch die Noth getrieben, Lust für das Theoretische in der Medicin bekommen; darin irrst Du insofern, als ich die immer gehabt habe; sorge Dich nur nicht um mich, so bald werde ich kein bloßer Routinier, und vielleicht sichert mich grade mein Alleinstehen am Ersten davor!«

Zu seinem Glücke fand sich indeß sehr schnell eine Praxis für ihn, und das Ungeregelte des polnischen[38] Lebens, ich möchte sagen, das Ueberkultivirte und das Unkultivirte in demselben, das Phantastische und Zügellose begannen ihn zu reizen und zu unterhalten. Eine verlarvte vornehme Dame zu entbinden, deren Kind ihm anvertraut wurde, die Conflikte mit durchzuleben, welche in manchen Fällen aus der Leibeigenschaft hervorgingen, die Sitten der polnischen Juden, des polnischen Adels, der Geistlichkeit zu beobachten, das waren Ereignisse und Gegenstände, die ihn in Anspruch nahmen, und gab es dazwischen einmal Nachtreisen durch weite einsame Schneefelder in der offenen Kibitka, Jagden und ähnlich anspannende und aufregende Vorgänge, so war er munter, freute sich seiner gelungenen Kuren, hatte noch mehr Befriedigung an dem menschlichen Vertrauen, das ihm von Seiten der Armen und Gedrückten entgegengebracht wurde, und bald hoffte er, sich für ein paar Jahre in Brest erträglich einleben, und Dank seiner sich bedeutend ausbreitenden Praxis so viel erübrigen zu können, um sein Fortkommen dann aus eigenen Mitteln auf neuen Bahnen zu suchen.

Indeß schon im ersten Winter überfiel ihn ein Nervenfieber, das ihn eine geraume Zeit gefesselt hielt. Er hatte im ersten Beginne desselben empfunden, daß er schwer erkranke, und noch die Kraft gehabt, seine Papiere und Briefschaften zu verbrennen, und einen kleinen Brief an die Eltern zu schreiben, in welchem er, eine Reise vorschützend, sie über ein mögliches Ausbleiben von Briefen im Voraus zu beruhigen versuchte. Dann hatte er sich hingelegt, und war lange ohne Bewußtsein der treuen[39] aufopfernden Pflege jener polnischen Jüdin und des alten Geistlichen anheim gefallen.

Als dann durch ihn selber die Kunde von seiner Krankheit mit der Kunde von seiner Genesung zu uns gelangte, war die Wirkung, welche sie auf meinen Vater machte, eine auffallend tiefe gewesen. Er hatte eine lebhafte Sehnsucht nach dem Sohne bekommen, und diese hatte sich bei dem sonst so gefaßten Manne zu einem Grade gesteigert, daß er sich einmal ganz plötzlich entschloß, ihn zu besuchen, und zu sehen, wie es ihm ergehe, wie er lebe, und was in Brest etwa für seine Zukunft zu erwarten sei.

Mein Bruder war im höchsten Grade von dem Wiedersehen erfreut, aber der Vater kehrte ohne sonderliche Hoffnungen zurück. Er konnte es, seiner eigenen Theorie entgegen, nicht über sich gewinnen, es sich und den Andern einzugestehen, daß man für Moritz etwas durchaus Unzweckmäßiges beschlossen, und daß man, wenn das Vernünftige geschehen solle, ihn zurückrufen müsse, um ihn auf's Neue beginnen zu lassen, oder daß er vorwärts gehen und sich nach dem Kriegsschauplatz wenden müsse, um geistig und materiell einen wirklichen Vortheil von seiner Entfernung aus dem Vaterlande zu haben.

Dieser innere Zwiespalt lastete in ganz ungewohnter Weise auf dem Vater, und es machte uns stutzig und besorgt, daß er nicht die gewohnte Kraft in sich fand, sich aus demselben zu befreien. Er verlor seine heitre Sicherheit, wir glaubten auch zu bemerken, daß seine äußere Frische nicht ganz dieselbe blieb. Eine leichte Entzündung des einen Auges fing an ihn zu belästigen, bald[40] darauf bekam er plötzlich einen Ausschlag auf der Stirne. Sich, wie er besorgte, durch denselben entstellt zu sehen, war ihm sehr zuwider; und da er, der bisher nicht gewußt hatte, »was Kopfschmerz sei« und wo »der Mensch sein Herz oder seinen Magen habe«, sich nebenher von mancherlei kleinen Unbequemlichkeiten belästigt fühlte, so wurde er zu einer Entziehungs-Kur genöthigt, die ihn zwar von den gegenwärtigen Uebeln befreite, ihn aber dergestalt angriff, daß es uns Alle im höchsten Grade beunruhigte. Zwar erholte er sich im Aeußern wieder bis zu einem gewissen Grade, aber die Energie seiner Natur war plötzlich nicht mehr ganz die alte. Er war leichter gerührt als sonst, er hatte nicht mehr die völlige Gleichheit der Stimmungen, nicht mehr die ungemeine Selbstbeherrschung, welche ihm bis dahin eigen gewesen war. Man konnte es ihm jetzt anmerken, wenn er Sorgen hatte, man durfte ihn darum fragen, er trat gleichsam aus seiner Unantastbarkeit, aus seiner Unnahbarkeit näher an uns Kinder heran, aber es vermochte sich Niemand darüber zu freuen. Jeder von uns sagte sich: wenn er auch nur um eines Zolles Breite nachgiebt oder weicht, so ist er müde! – Und der Gedanke, daß auch er müde werden könne, schnitt uns in das Herz.

Einer um den Andern wendete sich heimlich an den Arzt; indeß dieser nannte unsere Besorgniß grundlos, und da man sich in alle Zustände hineinlebt, so gewöhnten auch wir uns daran, daß der Vater nicht mehr so unumschränkt gebot als früher, daß er sich nicht mehr so gleichmäßig geistesfrei zeigte, als bisher. Wir trösteten uns damit, daß das Erstere durch unser Aelterwerden[41] natürlich sei, daß die wachsende Gefahr für meine Mutter ihn bekümmre, und allerdings hatte der Zustand derselben sich in einer Weise verschlimmert, die uns ihren Verlust voraussehen ließ.

Sie hatte im Herbste von einundvierzig bereits anderthalb Jahre vor dem Thore gewohnt, und nun der Winter wieder vor der Thüre stand, machte sich das Bedürfniß ihrer Rückkehr in die Stadt für alle Theile fühlbar. Wir fürchteten für des Vaters Auge den täglichen Weg in jeder Witterung, bei jedem Winde; wir sorgten uns, wie es mit der Mutter werden solle, da in der kleinen vorstädtischen Wohnung die ausreichende Pflege bei fortschreitender Krankheit nicht zu finden war, und es wurde also festgestellt, daß sie ihren bisherigen Aufenthalt verlassen und in unserm Hause für sie die Einrichtungen in einer sie zufriedenstellenden Weise gemacht werden sollten.

Damit dies möglich war, mußte unser treuer Hausgenosse, Rath Crelinger, sich von uns trennen. Seine Einnahmen und seine ganzen Verhältnisse hatten sich so glänzend geändert, daß die Wohnung in unserm Hause, und ihre bescheidene Einrichtung, denselben schon lange nicht mehr entsprachen. Aber Gewohnheit und Neigung für uns hatten ihn bisher in unserer Nähe festgehalten, und es war mit lebhaftem Bedauern von beiden Seiten, daß man auf das Allen liebgewordene Beisammensein verzichtete.

Rath Crelinger nahm eine größere Wohnung nicht fern von uns, und die Zimmer im ersten Stock, welche er bei uns zur Miethe gehabt hatte, wurden für die Bedürfnisse[42] meiner Mutter eingerichtet, welche sie im Herbste mit einer meiner Schwestern bezog. Das hatte den Vortheil, daß die Mutter bei uns war, daß wir sie täglich und stündlich sehen konnten, und daß sie in dem besondern Stockwerk doch zugleich die Ruhe und Absonderung genoß, die ihr erwünscht und nöthig waren. Wir Schwestern, von denen jetzt schon viere den Haushalt besorgten, wechselten in dieser Arbeit ab, so daß Jede nur drei Monate im Jahre damit beschäftigt war, und unsere Mutter, welche in dem Herbste ihr Zimmer nicht mehr verließ, hatte also die andern Töchter nach ihrer Wahl bei sich zur Pflege und zur Gesellschaft.

Wie das immer bei ihr der Fall gewesen, war ihre Nervenreizbarkeit in den Hintergrund getreten, seit sie kränker geworden. Sie war meist sehr ruhig, die Mitte des Tages verging ihr leicht, nur des Morgens hustete sie viel, und Abends stellte sich mit dem Husten ein Fieber ein, das sie furchtbar quälte. Indeß grade in diesem Herbste und in der Zeit ihrer schwersten Leiden traten die liebenswürdigen Eigenschaften ihrer Natur recht klar hervor. Sie gefiel sich in dem großen Wohnzimmer, das die Aussicht auf die Straße hatte, sie machte einige sehr behagliche Veränderungen darin, bewirthete uns mit allerlei Kleinigkeiten, die sie in ihrer Etage bereiten ließ und vorräthig hielt, und hatte, wie krank sie auch immer sein mochte, stets das Bestreben, dem Vater ihre Krankheit möglichst zu verbergen, und geschmackvoll und sauber gekleidet, und gut frisirt zu sein, wenn der Vater zu ihr kam. Ich glaube nicht, daß sie gegen ihn jemals irgend eine Besorgniß für ihr Leben oder eine Aeußerung über[43] ihren möglichen Tod gethan hat. Auch mit uns sprach sie äußerst selten und meist nur indirekt davon. Fühlte sie sich am Tage wohl, so machte sie Plane, im Sommer wieder ihr gewohntes Quartier vor dem Thore zu beziehen, und konnte sich darüber beunruhigen, daß der Contrakt darüber noch nicht gemacht worden sei. Abends jedoch, wenn die Fieberstunden kamen, geschah es wohl, daß sie im Hinblick auf unsere Sorge einmal sagte: »Wartet nur! im Sommer wird Alles besser sein!« oder: »Habt nur Geduld, achtzehnhundert zweiundvierzig wird gewiß leichter sein, als dieses letzte Jahr!« – Es war besonders ein heftiges Brennen der Hände, das sie in den Fieberanfällen belästigte, und man konnte sie dann erleichtern, oder ihr wenigstens ihre Pein erträglicher machen, wenn man ihr die Hände hielt. Einmal hatte unser Freund Crelinger, der um die Dämmerstunde immer noch zu uns zu kommen pflegte, ihr diesen Dienst geleistet. Sie hatte dabei die Bemerkung gemacht, daß dessen kühle Hände, und die Art, wie er die ihren gefaßt, ihr ganz besonders angenehm gewesen wären; und es hatte nur dieser Aeußerung bedurft, um den mit Arbeit überbürdeten, von Geschäften umdrängten Mann fast allabendlich um die Fieberstunden meiner Mutter zu uns zu führen. Er saß dann Stunden lang an ihrer Seite auf dem Sopha, hielt ihre heißen Hände in den seinen, erzählte ihr Dinge, von denen er wußte, daß sie sie unterhielten, sprach mit ihr von den einzigen Gegenständen, welche ein wirkliches Interesse für sie hatten, von ihrem Manne und von ihren Kindern, und verließ sie und uns in der Regel erst, wenn der Vater nach beendigten Geschäften[44] heraufkam, und der Mutter damit Alles gegeben war, was sie zu ihrem Troste bedurfte. Wir haben von diesem Freunde und von allen nähern Freunden unserer Familie viel Liebe und Treue erfahren, und es ist mir ein Glück, ihnen dieses aus der Ferne und zum Theil über ihr Grab hinaus dankend nachrühmen zu können.

Der Bestand unserer Häuslichkeit hatte sich inzwischen allmählig verringert. Moritz war schon über zwei Jahre in Rußland, mein anderer Bruder ging zu seinem juristischen Staatsexamen nach Berlin, Crelinger wohnte nicht mehr bei uns, die Mutter und eine der Schwestern mit ihr, aßen nicht mehr mit uns an demselben Tische, es standen vier Stuben im Hause leer: die Zimmer meiner Brüder und diejenigen, in welchen Rath Crelinger sein Büreau gehabt; und wie wir uns auch der Hoffnung hingeben mochten, das Leben meiner Mutter durch Pflege und Schonung noch zu fristen, so konnte sich doch Niemand darüber verblenden, daß ihre Tage gezählt waren, und ihr Verlust uns in drohender Nähe bevorstand.

Im Herbste, als die langen Abende kamen, hatte ich noch die Freude, meiner Mutter mein fertiges Manuscript vorlesen zu können. Sie hörte mir mit einer gewissen Verwunderung zu. So mochte ihr ungefähr zu Muthe gewesen sein, als sie zum ersten Male den Ton meiner Stimme vernommen hatte, und mir selber machte Alles, was ich geschrieben, einen fremdartigen Eindruck, als ich es laut vor der Mutter und den Schwestern auszusprechen hatte, als die von mir erschaffenen Personen mir gleichsam lebendig und selbstredend gegenüber traten.

Kaum hatte ich das Manuscript der Clementine abgesendet,[45] so hatte ich auch angefangen, an einem zweiten Roman zu arbeiten. Ich fühlte eine wahre Leidenschaft Alles zu sagen, was ich auf dem Herzen hatte, und nun ich mir die Seele von demjenigen freigeschrieben, was mich am persönlichsten und schwersten berührt hatte, nun ich gesagt, was ich von dem Grundsatz dachte, daß es eine Nothwendigkeit und eine Pflichterfüllung sei, sich zu verheirathen, auch ohne daß man den Mann liebt, mit dem man sich verbindet, nun ich meine Sache meinem Vater gegenüber dichtend vertreten und ein für alle Mal durchgefochten hatte, nun drängte es mich, einem andern Vorurtheile zu begegnen, einem Vorurtheile, unter dessen Last nicht ich allein geseufzt, sondern von welchem Hunderttausende mit mir zu leiden gehabt hatten – dem Judenhasse der Christen.

Ich kann es nicht oft genug wiederholen, welch' ein Glück das Arbeiten mir war, welch' einen Genuß das Schaffen mir gewährte. Wie mit einem Zauberschlage entrückte der Moment, in welchem ich mich an den Schreibtisch setzte und meine Hefte zur Hand nahm, mich allen meinen Sorgen, allen meinen Kümmernissen. Ich war froh, frei, mächtig und unverzagt, ich hatte fortwährend ein Gefühl meiner Kraft und auch ein gewisses Gefühl des Gelingens, und da ich die Stoffe, die ich behandelte, vollkommen beherrschte, da ich die Menschen und die Lagen, in welchen sie sich bewegten, bis in ihre kleinsten Einzelnheiten kannte, so hatte ich nur immer in das volle Menschenleben hineinzugreifen, um die rechten Gestalten und die rechten Farben für meine Zwecke gleich zur Hand zu haben und zu erfassen. Ich arbeitete dabei[46] nicht ängstlich nach aufgestellten Vorbildern, nicht nach dem Modell und vollends nicht nach oder mit dem Daguerreotyp; sondern es hatten sich mir aus der Masse des unwillkürlich Beobachteten eine solche Fülle von Typen ausgebildet, daß ich diese Typen individualisiren, das Allgemeine zum Besondern, das Gesammte zum persönlich bestimmten, das Charakteristische in einem Charakter zusammenfassen und umschaffen konnte. Und so, meine ich, muß man es machen, wenn lebenswahre Figuren entstehen und jene Portraitähnlichkeit erzeugt werden soll, welche den Menschen der verschiedensten Stände an verschiedenen Orten den Glauben giebt, die Originale zu den Geschöpfen des Dichters gekannt zu haben.

Der Stoff, den ich mir für die »Jenny« – dies war der Titel meines zweiten Romanes – gewählt hatte, war damals ein viel besprochener, denn es war unverkennbar, daß die Regierung, unter dem Vorgeben, die Verhältnisse der Juden selbstständig festzustellen, nur eine schärfere Absonderung derselben von den Christen beabsichtigte. Die Juden sahen das mit Besorgniß. Sie traten aller Orten mit Wort und Schrift für ihre Sache auf, und die Aufgeklärten aller Bekenntnisse stellten sich auf ihre Seite. Die Emancipation der Juden war von der einen Seite, die Unterdrückung derselben war von der andern ein Gegenstand lebhafter Erörterungen, und im Dichten, wie in dem damaligen Leben, blieb ich somit eigentlich immer in demselben Elemente.

Auch das erste Viertel dieses Romanes konnte ich meiner Mutter noch aus dem Manuscripte vorlesen, und es machte mehr Eindruck auf sie, als meine erste Arbeit.[47] Das Thema stand ihr näher und war ihr darum verständlicher. Was mich zum Schreiben der »Clementine« veranlaßt, lag außer ihrem Gefühlskreise und über ihrem Nachdenken, und der leidenschaftliche Ton der einzelnen Partien ist ihr sicherlich fremd geblieben. Aber weder sie noch mein Vater thaten irgend eine Aeußerung dagegen, und von dem Augenblicke an, in welchem mein Vater mir das Recht zuerkannt, mein Denken im Worte niederzulegen und der Oeffentlichkeit zu übergeben, habe ich, wie schon gesagt, von ihm nie einen Angriff gegen die von mir ausgesprochenen Ueberzeugungen, nie eine Mißbilligung über Meinungen und Schilderungen gehört, auch wenn er sie vielleicht anders gewünscht haben würde; und ich habe grade darin die Größe seines Verstandes und die Stärke und den Adel seines Charakters auf das Höchste bewundert. Von der Stunde ab, in welcher er mich als freie Persönlichkeit seiner natürlichen Zucht entlassen, hat er meine Freiheit und mein Recht auf Selbstbestimmung respektirt, wie er diesen Respekt für sich und seine Handlungen von jeher und von Jedem beanspruchte. Er hat an mir und meinen Arbeiten gelobt, was ihm des Lobes werth geschienen, und als er sich mit mir einmal nicht völlig im Einklange befand, begnügte er sich damit, mir zu sagen: »Du weißt, meine Ansicht ist das nicht; aber Du hast zu vertreten, was Du drucken lässest, und mußt wissen, was Du thust.« – Es war eben überall nichts Halbes in ihm, deshalb war es auch möglich, ihn zufrieden zu stellen; und weil er immer nur dasselbe wollte, konnte man allmählig dahin gelangen, sich nach seinen Ansichten zu bilden und zu erziehen.[48]

Ich war mitten im Rausche meiner Arbeitslust, als die Krankheit meiner Mutter plötzlich ganz unerwartet schnelle Fortschritte machte. Drei, vier Wochen lang, sahen wir an jedem Tage das immer schnellere Sinken ihrer Kräfte; in den Tagen, welche dem ersten Dezember folgten, glaubten wir mehrmals, uns vor ihrer letzten Stunde zu befinden.

Ihr Leiden war sehr groß, ihre Geduld war es nicht minder, ihr Bewußtsein blieb klar und hell. Für den vierten Dezember, den Geburtstag meiner ältesten Schwester, hatte sie dieser, welche zumeist um sie war, noch einen warmen Morgenrock und andere Kleinigkeiten selbst bestellt und übergeben, und verlangt, daß die gewohnten Geburtstagskuchen gebacken werden sollten – am Abend des sechsten Dezember, als es eben zehn Uhr geschlagen hatte, verloren wir sie.

Sie war nur fünfzig Jahre alt geworden.


»Sorgen Sie für Ihren Vater!« schrieb mir früh am Morgen unser Freund Crelinger, als er die Nachricht von dem Tode unserer armen Mutter erhalten hatte. »Sorgen Sie für Ihren Vater. Ich fürchte, der Schlag – obwohl vorbereitet – wird ihn hart treffen. Zwar kenne ich seine Kraft und seine Fassung – aber sie verlassen uns nur zu leicht am Grabe geliebter Wesen.«

Indeß der Vater, obschon er, wie es vorauszusehen gewesen, durch den Verlust der Mutter bis in das tiefste Leben getroffen worden war, behielt auch in diesen schweren Tagen seine Fassung und seine völlige Kraft.

Er küßte und umarmte uns, besonders seine jüngsten[49] Töchter, an der Leiche unserer Mutter unter heißen, stillen Thränen. Kein Laut wurde gehört, keine Klage aussprochen. Die Selbstbeherrschung, zu der wir von früh auf gewöhnt worden waren, kam jedem Einzelnen und damit Allen jetzt zu Hülfe. Wir saßen lange an dem Bette unserer Mutter beisammen. Gegen Mitternacht erhob sich der Vater aus seiner Versunkenheit.

»Es ist spät,« sagte er, »geht jetzt schlafen, lieben Kinder! Räumt aber erst die Zimmer auf, und bettet die Mutter zurecht. Sie hätte das auch gethan! Minna kann bei der Mutter wachen, ich werde hier auf dem Sopha schlafen. Ihr Andern legt Euch jetzt ruhig zu Bett! Morgen früh wollen wir den Brüdern schreiben!«[50]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 3, Berlin 1871, S. 37-51.
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