Fünftes Kapitel

[69] In den Spätherbst dieses Jahres fiel ein Ereigniß, dessen Folgen für das Schicksal unseres Freundes Crelinger das schon erwähnte französische Sprichwort: à quelque chose malheur est bon, welches er bei vorkommenden Widerwärtigkeiten gern zum Troste anzuführen pflegte, bewahrheiten sollten.

Bei der politischen Richtung, welche damals in Königsberg die vorwiegende war, hatte die, in jenen Jahren in Aufnahme gekommene politische Poesie dort große Verehrer gefunden. Die bedeutendsten unter den politischen Gedichten, Georg Herwegh's Gedichte eines Lebendigen, hatten daher ein großes Publikum bei uns gewonnen, und uns Alle, die wir uns als »Lebendige« betrachten zu können glaubten, auf das Lebhafteste ergriffen. Die rücksichtslose und immer zutreffende Kraft seines Ausdrucks, das Dithyrambisch-Rethorische in seiner Begeisterung, die schneidende Schärfe seines Spottes, und das unverkennbare Gepräge wahrer poetischer Kraft, das in der Mehrzahl seiner Gedichte sich kund gab, hatten etwas Hinreißendes gehabt, und daneben war die Diktion so schwungvoll und so leicht, der Rhythmus so energisch und so fortziehend, daß die Lieder sich dem Gedächtniß schnell[69] einprägten und sicher haften blieben. Man nahm ihre Aussprüche unwillkürlich in das Leben auf, und es erregte also lebhaften Antheil und große Freude, als man erfuhr, Herwegh, der sich eine Zeit lang in Berlin aufgehalten hatte, werde zu Anfang des Dezember nach Königsberg kommen. Seine Freunde bereiteten sich sofort darauf vor, ihm mit der Aufnahme, welche sie ihm angedeihen ließen, alle die Anerkennung zu beweisen, die sie ihm entgegenbrachten. Unsere nächsten Bekannten und Umgangsgenossen, Rath Crelinger an ihrer Spitze, empfingen ihn als einen persönlichen Gast, er wurde in verschiedenen Familien vorgestellt, seine Jugend, sein anziehendes Aeußere, seine Wohlredenheit nahmen in ungewöhnlichem Grade für ihn ein, und fast alle unsere Freunde, welche uns in den Tagen besuchten, hatten ihn kennen lernen und sprachen auf das Günstigste von ihm.

Um ihm eine Ehre zu erzeigen, und zugleich eine Demonstration zu machen, hatte man ein Festessen veranstaltet, dessen Held der junge Dichter war, und an welchem alle die Männer Theil nahmen, welche sich in Königsberg zu den Liberalen rechneten. Mein Vater, der sich von solchen öffentlichen Festgelagen, seiner Neigung nach, fast immer fern hielt, war nicht dabei zugegen, und wir Alle sahen Herwegh überhaupt nicht, weil wir eben damals während des Trauerjahres sehr eingezogen lebten; indeß wir vernahmen von dem Feste gleich an dem ihm folgenden Tage, und Jeder, der davon berichtete, wußte nicht genug zu sagen, wie hingerissen der Andere gewesen, und wie sich die Aufregung zündend von Geist zu Geist fortgepflanzt, wie man es endlich einmal empfunden habe,[70] was es mit der Begeisterung freier Männer auf sich habe. Man wiederholte die Reden und die Trinksprüche, welche man vernommen, es war viel Wahres, viel Gefühltes und viel Schönes darunter gewesen; aber für den Außenstehenden war es unverkennbar, daß man sich im Ehrgeiz des Enthusiasmus unwillkürlich überboten hatte, und daß manch Einer Aeußerungen gethan hatte, welche man in seinem Munde, wenn man ihn näher kannte, eben nur als poetische Licenzen aufzunehmen hatte.

Zu diesen Letztern hatte Rath Crelinger gehört. Er hatte Nichts gesprochen, was nicht der Sache nach seine volle Ueberzeugung gewesen wäre, aber die Form war eine von dem Augenblick bestimmte gewesen, und die Erregbarkeit seiner Phantasie hatte ihn so fortgerissen, sein beweglicher Geist hatte den Feuerschein von Herwegh's Worten so lebhaft reflektirt, daß der sonst so gemessene, formvolle und sich selbst in jeder seiner Aeußerungen rein wiedergebende Mann sich zu einer Rede voll poetischer Metaphern hatte verleiten lassen, die in seinem Munde jedem Besonnenen, jedem seiner genauern Bekannten fast komisch klingen mußten. Er hatte von »Thatendurst«, von Kampf und Sieg gesprochen, hatte des Augenblickes gedacht, in welchem er »das Schwert um seine Lenden gürten würde«, und wie groß mein Interesse an dem ganzen Vorgange auch damals war, konnte ich unsern Freund in den ersten Tagen nach dem Feste nicht ohne Lachen vor mir sehen. Es war eine Unmöglichkeit, sich den großen, magern, ziemlich weichlichen, an seine kleinen Luxusbequemlichkeiten hängenden Mann, an dessen stets schwarzer Kleidung und auf dessen eleganter Wäsche nie[71] ein Stäubchen zu sehen war, mit dem »Schwert um seine Lenden« zu denken, oder es sich vorzustellen, wie er mit den schmalen weißen Händen drein schlagen würde! In der Robe und der Perrücke des französischen Barreau, in dem Sammetrocke und den Spitzenmanschetten der Hoftracht, in dem Reisekostüm des vornehmen Engländers, im schwarzen Frack mit gelben Handschuhen, im Arbeitsrock, in jeder beliebigen friedlichen Kleidung konnte er sich gut und vortheilhaft darstellen; kampfgerüstet mußte er über alle Maßen lächerlich erscheinen, und da ich das Unglück hatte, ihn nun im Geiste immer mit einem der alten Schleppsäbel vor Augen zu sehen, die unsere Stadtsoldaten trugen, und deren Säbelgurt vorn mit zwei Löwenköpfen von Messing zugehakt wurde, so begegnete es mir in den Tagen oftmals, daß ich auf gut Glück zu lachen an fing, wenn er vor mir stand, und auf seine Frage, was ich habe? verfehlte ich nicht ihm die Wahrheit zu sagen. Auch der Vater sagte ihm: »Wie kann ein Mann wie Sie, so geschmacklos sein, lieber Crelinger?« – Indeß die Sache war einmal geschehen, und man kann in der Regel ein Unrecht leichter als eine Thorheit vergessen machen und vergüten.

Rath Crelinger wenigstens hatte das in seinem Falle zu erfahren. Schon wenig Wochen nach dem Feste wurde er wegen der von ihm gehaltenen Rede zur Untersuchung gezogen, und die genaue Kenntniß seines Charakters machte uns bei diesem Anlaß sehr besorgt für ihn. Es giebt hartnäckige Naturen, welche durch ihren Widerstand alle ihnen entgegentretenden Lebenslagen und Verhältnisse ihrer Individualität anzupassen wissen, und wieder andere,[72] welche sich, selbst ohne es zu wollen, nach den Verhältnissen ummodeln, in die sie sich versetzt finden. Zu diesen Letztern gehörte Crelinger bis zu einem gewissen Grade. Nicht daß er fähig gewesen wäre, seine Ueberzeugungen von Recht und Unrecht um irgend eines Vortheils willen im Entferntesten zu verläugnen, dazu war sein Rechtsgefühl zu ausgebildet, sein Ehrgefühl zu sicher. Aber der Hinblick auf Andere und eine gewisse Eitelkeit hätten ihn verleiten können, sich bis zu der höchsten Spitze einer Ansicht aufzuschwingen, zu der er sich nur zufällig und ohne innere Nothwendigkeit erhoben, und meinem Vater und mir lag also der Gedanke nahe, daß Crelinger sich leichter zu einem unnöthigen Märtyrerthume, als zu dem Eingeständniß einer begangenen Uebereilung verstehen könnte.

Wie die Stimmung in Königsberg in jenen Tagen war, steigerte die gegen Rath Crelinger eingeleitete Untersuchung in hohem Grade die Popularität, deren er ohnehin genoß, und grade diese Bemerkung bestimmte meinen Vater, den Freund zur Vorsicht zu ermahnen, und mich zu veranlassen, daß ich in gleichem Sinne an ihn schreiben sollte. Ich that das und Crelinger nahm dies auf, wie es gemeint war; er versicherte uns jedoch mündlich und schriftlich, daß er keineswegs gewillt sei aus Eitelkeit den Märtyrer zu machen, daß er sich zu der besonnensten Vertheidigung rüste, aber er hielt die ganze Angelegenheit für unbedeutend, und sah seine Freisprechung, obschon er sich auf Alles gefaßt machte, als nicht zu bezweifeln an.

Er hatte sich jedoch geirrt, und in seinen Berechnungen nicht vorausgesehen, daß und wie schnell man im[73] Verlaufe der nächsten Zeit auf dem Wege der Reaktion vorwärts schreiten und was auf diesem Wege möglich sein würde. Die Untersuchung – ich greife dem Gange der Ereignisse voraus, weil ich vielleicht nicht mehr darauf zurückkomme – schleppte sich eine Weile hin, und hatte zur Folge, daß man den Angeklagten zwar nicht seines Amtes entsetzte, aber man versetzte ihn, den angesehensten Advokaten Königberg's, einen Mann, dessen Einnahme eine glänzende, dessen gesellschaftliche Stellung eine sehr bevorzugte war, nach einem kleinen Landstädtchen in Westpreußen, das zur Hälfte von armen Juden, zur andern Hälfte von Ackerbürgern bewohnt wird, und von dem man sicher sein mußte, daß Crelinger es nicht zum Aufenthalte wählen würde. Das war eine chinesische oder türkische Exekutionsmaßregel. Man mochte den Mandarinen, den Pascha nicht hinrichten lassen, man schickte ihm also nur das Messer, die seidene Schnur, mit denen er sich selbst zu entleiben hatte; und die Berechnung war wohl gemacht.

Rath Crelinger nahm zum zweiten Male seine Entlassung aus dem Staatsdienste, da er sich unmöglich dazu verdammen konnte, in einem elenden kleinen Städtchen zu leben, und blieb amtlos in Königsberg, bis die lebhafter werdende politische Bewegung ihn nach Berlin lockte, wo er bald eben so, wie vorher in Königsberg, eine bedeutende rein konsultatorische Praxis gewann, ehe noch die Vertheidigung der polnischen Revolutionaire nach dem Aufstande von achtzehnhundert fünfundvierzig ihn wieder in die Oeffentlichkeit zurück führte, und sein glänzendes Rednertalent und seine tiefe Rechtskenntniß in gleichem Maße zur Geltung[74] brachten. Seine Lage, soweit sie sein Auskommen betraf, war in allen diesen Jahren immer eine günstige gewesen, und Berlin sagte seinen Neigungen so völlig zu, daß er oftmals auf den vorhin erwähnten Ausspruch von dem »glücklichen Unglück« gegen mich zurückkam. Aber erst das Jahr achtundvierzig und das Justizministerium Märcker setzten den bewährten Rechtsgelehrten, den geistvollsten Advokaten Preußens wieder in sein Amt ein. Ich hatte dabei die große Befriedigung, dem vielbewährten Freunde meiner Familie für seine Treue und Freundschaft dadurch zu danken, daß ein Schreiben, in welchem ich den Minister darauf aufmerksam gemacht, ob es nicht im Interesse eines liberalen Ministeriums läge, die von dem früheren Ministerium beeinträchtigten liberalen Männer zu restituiren und zu verwenden, ohne daß Rath Crelinger im Entferntesten von meinem Schritte wußte, den Anlaß zu seiner Rückberufung in den Staatsdienst, und zu seiner Anstellung als Rechtsanwalt bei dem Obertribunale gegeben hatte, in welchem Amte er bis zu seinem im Februar des Jahres achtzehnhundert dreiundfünfzig erfolgten, nur zu frühen Tode verblieb und wirkte.

Bald nachdem das Herwegh-Fest in Königsberg gefeiert worden, gleich im Beginn des Jahres dreiundvierzig, erhielt ich von Berlin durch meinen ältesten Bruder, welcher gefällig den Vermittler zwischen mir und dem Buchhändler machte, mein erstes gedrucktes Buch zugesendet, und noch immer erinnere ich mich der eigenartigen Wirkung, welche der Anblick desselben auf mich machte. Ich konnte gar nicht müde werden, es aufzuschlagen, nicht müde werden, den Umschlag zu betrachten. Ich las immer auf's Neue[75] das Motto: »Woman's love how strong in its weakness, how beautiful in its guilt!« obschon es gar nicht zu dem Romane paßte, in welchem keine Sünde begangen, sondern lauter pure Entsagung geübt wurde. Ich schlug das Buch bald hier bald dort auf, nicht um es zu lesen – denn ich konnte es auswendig von Anfang bis zu Ende, weil ich es ganz noch einmal abgeschrieben hatte – sondern um mich an dem schönen Papier, an den vornehmen großen schwarzen Lettern und an dem splendiden weitläufigen Drucke zu erfreuen. Ich hatte viel mehr Genuß und kam mir in dieser Gesondertheit meines Auftretens weit bedeutender vor, als bisher in den Gesellschaftsspalten der »Europa«. Aber so enge fühlte ich mich mit dem kleinen gedruckten Bande, der natürlich ohne Namen des Verfassers in das Publikum gekommen war, verbunden, daß ich erschrak, als unser Freund Crelinger ihn einmal in meinem Zimmer liegen fand, und wie er das mit jedem andern Buche eben so gethan haben würde, ihn zum Lesen mit sich nach Hause nahm. Ich meinte, er müsse meine Ansichten, meine Ausdrucksweise darin erkennen, und das Geheimniß meiner Autorschaft also gegen meines Vaters Willen errathen. Das geschah indessen nicht. Er sprach mit mir völlig arglos von der kleinen Dichtung, und ich hatte vor ihm die erste Probe der Komödie zu machen, welche ich in den nächsten Jahren oftmals zu spielen genöthigt wurde, wenn man sich mit mir von meinen eigenen Arbeiten, wie von denen eines Dritten unterhielt, und ich also in die Lage kam, die allerehrlichsten Urtheile über mich zu vernehmen.[76]

Das kleine Buch machte seinen Weg schnell genug, und zu meiner großen Belustigung wurde es, ich weiß nicht von wem zuerst, der greisen Verfasserin der »Agnes von Lilien«, der alten Frau von Wolzogen zugeschrieben. Daß man mich für eine alte Dame hielt, brachte mich auf den Einfall, ein paar Briefe einer Großtante an ihre Großnichte über die Erziehung der Kinder und einen Aufsatz über die Lage der weiblichen Dienstboten zu schreiben, die bei uns in Preußen zu jener Zeit noch erbarmenswerth und ganz aussichtslos war. Beides wurde durch meines Bruders Vermittlung in die, damals von einem Criminalrath Richter redigirten Ostpreußischen Provinzialblätter gebracht, und nebenher ging ich an das Durcharbeiten meines neuen Romans, das nun nach Anleitung meines Bruders, dem ich die fertige Dichtung nach Berlin geschickt, und der sie mir mit einem ganzen Hefte voll Anmerkungen, Bedenken und Rathschlägen zurückgesendet hatte, noch viel gründlicher und ernster als bei dem ersten Buche vorgenommen wurde. Denn der günstige Erfolg dieser meiner ersten Arbeit hatte meinen Ehrgeiz aufgeregt, die lebhafte Empfindung für das Schöne und Große, für ein Ideales, die mir durch meine ganze Umgebung eingeflößte Achtung vor dem Volke, vor den Menschen, denen ich meine Dichtungen als ein Etwas darbieten wollte, für das ich ihre Theilnahme in Anspruch nahm, und endlich jenes einfache bürgerliche Pflichtgefühl, das für gutes Geld nicht schlechte Waare liefern wollte, trieben mich zu immer größerm Ernste an. Und wie mir einmal Heinrich Simon geschrieben, daß die richterlichen Pflichten ihm ein Gefühl der Würde gäben, welches ihm bis[77] dahin in Beziehung auf sein Amt fremd gewesen sei, so wurde mir das Bewußtsein, daß ich als Schriftsteller lehrend und berathend vor den Menschen dastände, zu einem Antrieb der Selbsterziehung. Ich wollte mich und meine Werke in Einklang bringen, ich wollte Nichts lehren, was ich nicht in meinem Leben darzuthun und durch alle Wechselfälle zu behaupten im Stande wäre. Denn ich hatte niemals daran geglaubt, daß ein Werk größer sein könne, als sein Schöpfer. Jene Lehren der romantischen Schule, welche dem Dichter ein von seiner Arbeit getrenntes Dasein in Möglichkeit stellten, jene Ansicht, welche behauptete, daß Jemand ein unordentliches wüstes Leben führen, und Reines und Hohes schaffen könne, oder daß ein Mensch, der sein eignes Leben nicht zu ordnen wisse, der um sich Zank und Niedrigkeit und Schulden und ungeregelte Verhältnisse habe, mit seinen Schriften in Wahrheit veredelnd und versittlichend auf sein Volk wirken, und in seinen Dichtungen mehr liefern könne, als die Dekorations-Wände, hinter welchen Potemkin der Kaiserin Katharine das Elend des Landes verbarg, das sie durchreiste, sind mir immer als ein Trug erschienen. Und wie Wallenstein von sich aussagt: »Hab' ich des Menschen Kern erst untersucht, so kenn' ich auch sein Wollen und sein Handeln« – so habe ich für mein Theil nie wieder eine Zeile von einem Schriftsteller gelesen, vor dem ich als Mensch keine Achtung und keinen Respekt mehr hegte. Denn wie man sich auch stelle, es springt Niemand über seinen Schatten, und es kann Niemand in Wahrheit über sich hinaus!

Ich aber sollte, wenn auch nicht über mich selber[78] hinaus, so doch in die Welt hinaus. Mein Bruder Moritz hatte mir schon bei seiner Anwesenheit zu einem Luftwechsel und mehr noch zu einem Wechsel der Lebensweise gerathen. Ich hatte mich jedoch nicht entschließen können, die Meinen während des Trauerjahrs zu verlassen, und mich noch weniger entschließen können, meinem Vater die Ausgaben für eine neue Reise aufzubürden. Ich hatte schon zwei Reisen gemacht, meinen Schwestern war das Gleiche noch nicht zu Theil geworden, und mir wurde auch der Gedanke, mich von dem Vater zu trennen, da die Mutter todt, und keiner seiner Söhne im Hause war, jetzt viel schwerer als vorher.

Andererseits aber war ich in der That krank; und die Rücksicht auf die freiere Entwicklung meiner Schwestern, die früher bisweilen meine Entfernung von Hause wünschenswerth erscheinen lassen, waltete auch jetzt noch ob. Ich fühlte, daß ich nicht arbeiten dürfe, und zu Hause in ruhiger Muße die Tage hinzuleben, traute ich mir nicht die Festigkeit zu. Mein Vater wünschte daneben, daß ich Schönlein berathen solle, weil mein immer tieferes körperliches Herunterkommen ihn trotz aller Beruhigungen unseres sorgsamen Arztes ängstigte, und so entschloß ich mich denn im Hochsommer von dreiundvierzig, als ich mein erstes Honorar von Brockhaus erhielt, die Vaterstadt und meinen Vater wieder für eine Weile zu verlassen.

Ich hatte für die »Jenny« sechzig Friedrichsd'or bekommen, hatte den Ertrag von ein paar anderen kleinen Arbeiten und einen Theil meines ersparten Taschengeldes zurückgelegt, und kam mir mit einem Vermögen von circa vierhundert Thalern, zu denen das Garderobe-Geld von[79] vierundachtzig Thalern hinzukam, welches mein Vater mir gab, hinreichend aus gestattet vor, um ein Jahr davon außer dem Vaterhause leben zu können. Mein Vater neckte mich mit meinen Schätzen, hatte aber Freude daran, mich erwerbsfähig zu sehen, und so reiste ich denn am vierzehnten Juli wieder nach Berlin, ohne einen bestimmten Plan für meine nächste Zukunft zu haben.

Nachdem ich auf dem Gute Wogenab bei Elbing, auf welchem mein alter Religionslehrer, Consistorialrath Kähler, sich bei seinem Sohne, dem das Gut gehörte, zur Ruhe gesetzt hatte, eine Woche verweilt, und im Schooße der mir theuern Menschen schöne Stunden verlebt hatte, langte ich glücklich in Berlin an, und erregte meinem Bruder und meiner Schwester, welche sich damals dort befanden, ein wahres Erschrecken bei meinem Anblick. Das war, so sehr sie sich zusammen nahmen und mir es zu verbergen strebten, mir doch schmerzhaft, und in den nächsten Tagen hatte ich dasselbe immer wieder zu bestehen. Nahe befreundete Personen erkannten mich nicht, wenn ich sie auf der Straße grüßte, und konnten ihrer Verwunderung und ihres Bedauerns kein Ende finden, wenn sie sich endlich überzeugt hatten, daß ich es sei. Aber der Reiz der großen Stadt, die Ansehnlichkeit der Straßen, der edle Styl einzelner Gebäude wirkten erheiternd auf mich ein, und während alle Welt mich mit Besorgniß betrachtete, fühlte ich mich wohler und hoffnungsreicher als seit langer Zeit.

Es ist ein wahres Wort: die Lust macht eigen! aber eben so wahr ist's, daß die Enge oder Weite unserer Umgebung den Sinn befängt oder befreit.[80]

Hier ist Platz Etwas zu werden! Das war meine Empfindung, als ich an dem Abende, welcher meiner Ankunft folgte, von dem obern Balkon des Kranzler'schen Hauses, auf dem wir Eis gegessen hatten, die lange Straße der Linden, und die Friedrichsstraße hinunter sah. Zu Hause hatte ich oft die Empfindung gehabt, als fehle mir der Raum mich zu regen, als könne ich die Arme nicht aufheben ohne anzustoßen; als nehme mir das Zusehen der Andern die Fähigkeit der Bewegung. Hier in den breiten Straßen, in denen das Gaslicht so hell zwischen dem Grün der Bäume funkelte, hier, wo die Menge bei dem schönen Sommerwetter so lustig auf und nieder wogte, war mir's als athme ich leichter, als sei ein Druck von mir genommen. Ich freute mich an all den Menschen, nur weil sie mich nicht kannten, und wie man sich unter Verhältnissen in der Fremde mit Inbrunst nach dem Anblick eines bekannten Antlitzes sehnen kann, so genoß ich mit wahrer Wonne das Fremdsein in der großen Stadt. Nicht als hätten die Leute in Königsberg groß auf mich geachtet; aber wenn es unter Verhältnissen reizend ist, sich unter der Larve auf einem Maskenballe von der geistigen Anziehungskraft zu überzeugen, die man ausübt, so ist es unter gewissen Bedingungen noch reizender, ganz auf sich selbst gestellt, ohne herkömmlich mitgebrachte Gunst und Ungunst, sich in der Fremde und unter Fremden zu versuchen, und die Erfahrung zu machen, was man an sich selber werth sei.

Berlin fand ich in den drei Jahren, während welcher ich es nicht gesehen, ungemein verändert. Früher hatte sich das Leben vorzugsweise in der Königsstadt und in[81] dem Stadttheile bewegt, welcher das Schloß, die Linden und die zunächst liegenden Straßen umfaßte. Kam man achtzehnhundert vierzig nach den Stadttheilen in der Gegend des Potsdamer Thors, so war es dort einsam wie in Darmstadt oder Karlsruhe. Jetzt war das anders geworden. Die Anhalter Eisenbahn und die von Potsdam aus weiter eröffneten Schienenwege, zogen die Menschenmassen und den Verkehr nach dem Westende der Stadt. Es waren dort neue Straßen, wie die Anhalter Straße und der Askanische Platz entstanden; das ganze Viertel zwischen dem Askanischen Platze und der Potsdamer Straße befand sich im Bau. Rund um den Thiergarten erhoben sich neue Häuser, und zwar mit einem Aufwande und mit einem Geschmack, von welchem früher bei Privat-Bauten nicht entfernt die Rede gewesen war.

Der Luxus war überhaupt auffallend gestiegen. Der Geschmack des Hofes ist für die Residenzstädte überall maßgebend, und Friedrich Wilhelm der Vierte liebte die Pracht. Von den überaus prächtigen Uniformen der Garde-du-Corps, bis auf die Hofequipagen und Livréen war Alles glänzender geworden; und wenn man heute an diesen Luxus auch lange schon gewöhnt ist, so besprach man ihn damals doch sehr viel, und nicht eben, um ihn zu loben. Daneben lachte man noch über die Offiziere mit ihren mittelaltrigen Waffenröcken und den neuen Arimbiörn-Helmen, wenn sie dazu ein Lorgnon ins Auge gekniffen hatten; man lachte über das Stück Mittelalter, das den Uckermärkern und Cassuben mit der Pickelhaube auf den Kopf gestülpt worden war; man verglich die goldstrahlenden vier- und sechsspännigen Hof-Equipagen[82] mit ihren Vorreitern, Kutschern und Lakaien mit der zweisitzigen und zweispännigen Halbchaise, in welcher Friedrich Wilhelm der Dritte durch die Straßen gefahren war, und verglich die neuen bordürenstrotzenden Livréen mit den alten, welche damals die Fürstin von Liegnitz und der Hofstaat des Prinzen Wilhelm noch beibehalten hatten. – Ueberall fand man neue Magazine mit prächtigen Schaufenstern eröffnet, die »Etalage« war bei uns eingebürgert worden, und man bot in den Läden Waaren für Zimmereinrichtungen und Toilette zu Preisen feil, die vor wenig Jahren noch Niemand gezahlt haben würde.

Die Theilnahme für die bildenden Künste war gewachsen, dafür hatte die Theilnahme für das Theater abgenommen; einmal weil das Personal, das zum Theil noch heute in Thätigkeit ist, schon damals veraltet, und steif und träge geworden war, und zweitens weil die öffentlichen Zustände, weil die reactionäre Bewegung, welche sich bereits überall fühlbar machte, die Geister in Spannung hielt. Man sprach allerdings davon, wenn man heute die »Antigone« und morgen den »Sommernachtstraum« in Scene setzte, wenn man es heute mit der Antike und morgen mit der Romantik probirte; man strömte hin, es zu sehen, man erfreute sich auch an den Leistungen, sofern sie Erfreuliches boten, aber man erkannte darin bereits jenen Geist des unstäten Experimentirens, der es mit Allem, nur nicht mit dem Fortschritt, nur nicht mit dem frischen Leben der Gegenwart versuchen wollte; und wie groß man auch von Sophokles oder Shakespeare denken mochte, so gab es doch eine große Partei im Publikum, welche lieber die Trauerspiele Mosen's,[83] Minding's und anderer Zeitgenossen, welche den »Sohn des Fürsten«, »Andreas Hofer«, »Sixtus der Fünfte« und ähnliche Werke lieber als die antiken Dichtungen auf der Bühne gesehen haben würden, weil sie für den Augenblick mehr geeignet waren, den Geist des Volkes zu fesseln, und Kunst und Leben zur Wechselwirkung auf einander anzuregen.

Für's Erste blieb mir jedoch nicht lange Zeit, die geschehenen Veränderungen zu beobachten. Wenig Tage nach meiner Ankunft hatte ich Schönlein berathen müssen, und er hatte die Aussage unseres Arztes, daß meine Krankheit ein Nervenleiden sei, mit dem Zusatze bestätigt, daß ich die größte geistige Ruhe nöthig hätte, wenn ich mir nicht eine Herz-Erweiterung zuziehen wolle.

Da ich nun die Bestätigung erhalten, daß ich nicht arbeiten dürfe, so ging ich noch mit mir zu Rathe, was ich in Berlin mit mir beginnen solle, als sich mir eines Morgens eine Dame anmelden ließ, die ihren Namen nicht nennen wollte, und gleich darauf stand eine meiner Breslauer Consinen, eine der Schwestern Heinrich Simon's, vor mir.

Zehn Jahre waren vergangen seit wir einander nicht gesehen hatten. Sie war glücklich verheirathet, war jung und frisch geblieben, hatte mir ihre Neigung bewahrt, und wie es sie überraschte, mich so verändert zu finden, so erschütterte mich die plötzliche Begegnung auf das Heftigste, denn sie brachte mir, wie durch einen Zauber, den ganzen Inhalt dieser zehn Jahre in einem Augenblicke zur Empfindung.

Daß ich mit ihr gehen, mit ihr nach Breslau kommen[84] müsse, stand bei ihr fest, und wollte ich die Lieben einmal wiedersehen, welche ich dort zurückgelassen hatte, so konnte ich weder eine bessere Gelegenheit, noch einen mir passendern Zeitpunkt dafür finden, da sich zufällig mein Vetter Heinrich auf einer Ferienreise in der Schweiz befand. Ich entschloß mich also, ihren Vorschlag anzunehmen, und nachdem ich von Berlin bis Frankfurt meine erste größere Eisenbahnfahrt gemacht, fand ich mich gleichsam ohne mein Zuthun wieder in den Kreis der Menschen versetzt, von welchen ich einst so herzzerrissen geschieden war, konnte ich mir aus eigener Erfahrung die Worte Goethe's wiederholen: ach! und in demselben Flusse schwimmst du nicht zum zweiten Mal!

Sie waren noch Alle am Leben, Alle beisammen, sie hatten noch die alte unveränderte Liebe für mich im Hause meiner Tante. Nur der Eine war nicht da – und ich war nicht mehr dieselbe. Ich hatte nicht mehr die schwärmenden Hoffnungen, nicht mehr die verzweifelten Entmuthigungen, ich hatte an den Tagen Nichts, worauf ich wartete, in den Nächten Nichts, wovon ich träumte. Breslau war mir nicht mehr der Mittelpunkt der Welt, nicht mehr der einzige Ort, an welchem ich glücklich sein konnte. Es war eine Stadt, wie andere auch, und ich dachte nach wenig Tagen daran, nun ich einmal hier sei, auch ihre Merkwürdigkeiten, ihre Kirchen und Klöster in Augenschein zu nehmen. Vor zehn Jahren war mir das gar nicht eingefallen, ich hatte nicht Zeit gehabt daran zu denken. Jetzt hatte ich Zeit für Alles! vollauf Zeit!

Da meine Cousine mich nach Breslau gebracht, so sollte ich dann nun auch mit ihr und ihren Eltern und[85] nicht wie früher bei meinem Onkel Lewald wohnen, und das war um so zweckmäßiger, als die Simon'sche Familie sich in Scheitnig, nahe vor dem Thore, aufhielt, und ich Landluft nöthig hatte. Scheitnig ist aber ein melancholischer Ort und tief gelegen, das Jahr war regnerisch und kalt, man konnte also nur wenig im Freien sein, und wenn man auf Naturgenuß angewiesen, in seinen Zimmern leben muß, wird man, so zufrieden man sonst auch sein mag, das Unbehagen nicht los, welches jedes Mißlingen, jedes Nichterreichen eines Zweckes uns verursacht. Indeß der Sonnenschein der Liebe, der mich umgab, entschädigte mich für die Ungunst der Jahreszeit, und besonders meine Tante war für mich noch weicher, noch mütterlicher als zuvor.

Ich bemerkte es oft, wie besorgt ihre Blicke mir folgten, wenn ich unwohl war, und Ruhe suchen mußte; ich sah, wie sie ihr Auge oft auf mich gerichtet hielt, wenn sie mich anderweit beschäftigt glaubte, und wie es sie befriedigte, mich heiter zu sehen.

Einmal hatte es auch den ganzen Tag geregnet. Am Abend, als es sich aufhellte und die Kießwege einigermaßen abgetrocknet waren, ging die Tante in's Freie hinaus und forderte mich auf, ihr zu folgen. Sie nahm meinen Arm und ging langsam mit mir eine bestimmte Strecke auf und nieder, wie das ihre Weise war, denn größere Wege machte sie nur äußerst selten. Der Abend war sehr klar, der Himmel sah so hell, so abgeregnet aus, als könne nun auf lange hinaus keine Wolke ihn mehr trüben. Der leichte Wind kräuselte die Blätter der Bäume, daß hier und da noch ein paar zurückgebliebene[86] Tropfen auf uns herniedersprühten; nur auf dem Boden waren Gräser und Gewächse noch naß, und ein Kohlfeld mit seinen metallgrünen Blättern, in welchen das Wasser sich wie in Kelchen gesammelt und erhalten hatte, sah im letzten Sonnenscheine ganz farbenprächtig aus.

Die Tante hatte, wie ich, die Neigung, gerade das, was ihr zunächst lag und was sie am genauesten kannte, am liebsten zu betrachten, und wir sprachen davon, wie dabei eigentlich für die Beobachtung auch am meisten gewonnen werde, weil keine Ueberraschung durch das Fremde uns beirrt. »Ich glaube,« meinte sie darauf, »Du bist überhaupt ein guter Beobachter geworden!« – Sie rühmte darauf verschiedene Schriftsteller, und deren Beobachtungsgabe auf sinnlichem und geistigem Gebiete, und fragte mich dann, ob mir der Roman »Clementine« wohl vorgekommen sei?

Ich war die Frage nun schon gewohnt, aus dem Munde meiner Tante machte sie mir aber einen ganz andern Eindruck, und mit dem heftigen Herzklopfen, das mich bei der geringsten Gemüthsbewegung überfiel, bejahte ich die Frage. Sie blieb stehen, schien mir Etwas sagen zu wollen, besann sich dann aber und ging mit mir weiter. Sie mochte auf eine Mittheilung von mir warten, ich konnte sie ihr nach dem Versprechen, das ich meinem Vater gegeben hatte, nicht machen, und so schritten wir abermals unsern Weg hin und her, von diesem und jenem sprechend, bis die Tante plötzlich sagte: »Hast Du einen bestimmten Grund, es mir zu verschweigen, daß Du die »Clementine« geschrieben hast, so will ich nicht in Dich dringen, und mit Dir nicht davon sprechen, wie[87] ich auch zu Keinem der Meinen – sie betonte das bestimmt – davon geredet habe, denn,« fügte sie mit ihrem stillen Lächeln hinzu, »viel sprechen ist mein Fehler nicht; aber daß Du das Buch geschrieben hast, steht für mich fest.«

»Warst Du zufrieden?« fragte ich statt der Antwort. »Ja! durchweg zufrieden!« entgegnete sie mir, und wir wanderten weiter, immer auf und ab, und Jeder wußte, was der Andere bei sich dachte. Es liegt ein großes Glück in solch keuschem, schweigendem Verstehen, und wenn man neben einem Menschen im Schweigen Befriedigung empfindet, dann liebt man ihn sicher, und ist seiner Liebe und seines Verständnisses eben so gewiß.

Nach einer Pause wollte sie wissen, was mich bestimmt habe, die Arbeit ohne meinen Namen drucken zu lassen. Ich nannte ihr den Willen meines Vaters als den Grund, sie stimmte ihm nicht bei, fand es aber natürlich, daß ich mich unbedenklich füge, und versprach mir strengste Discretion. Ich sah jedoch, daß sie noch etwas Andres auf dem Herzen habe, und endlich hob sie nach kurzem Nachdenken noch einmal an und sagte: »Es ist sehr gut, daß Du endlich über Deine Begabung in's Klare gekommen bist und sie brauchen gelernt hast, Tochter! – so nannte sie mich bisweilen, wenn sie recht liebevoll war – aber Dein Vater hat sicher einen andern Lebensweg für Dich gewünscht. Er hat mir davon einmal geschrieben. Warum hast Du Dich nicht verheirathet? Der Mann soll gut und brav gewesen sein, und man kann sehr friedlich und in sehr würdiger Ehe mit einem Manne leben, auch ohne daß man eine besonders leidenschaftliche[88] Liebe für ihn hat.« – Ich wollte auffahren, denn grade von der Tante traten diese Worte mir, nach meinem Begriffe, ganz entschieden zu nahe. Ich nahm mich aber zusammen und entgegnete: »Alles, was sich für Deine und meines Vaters Ansicht sagen läßt, liebe Tante! habe ich der Tante in meinem Romane in den Mund gelegt. Du siehst also, daß ich es weiß; aber Du solltest dafür auch wissen, daß ich nicht thun kann, was vielleicht für manche Andre möglich wäre!« – Sie seufzte, legte ihre Hand auf die meine, und sprach sehr mild und sehr traurig: »Eben weil ich das weiß, wünsche ich lebhaft, daß es anders wäre. Du bist verändert, Fanny! bist nicht mehr gesund. Es würde mir eine Beruhigung, eine große Beruhigung sein, Dich noch einmal recht glücklich zu wissen – und nicht mir allein würde es ein Trost sein!« fügte sie mit einer großen Innigkeit hinzu.

Ich bat sie, sich nicht um mich zu sorgen, versicherte sie der Wahrheit gemäß, daß ich mich jetzt viel wohler befände, als vor einiger Zeit, und sie trug Verlangen, mir zu glauben. Als dann aber die übrigen Hausgenossen hinzukamen, und wir dadurch unterbrochen wurden, wiederholte sie mir: »Denke daran, Tochter! der Tag, an welchem ich Dich recht zufrieden und glücklich sähe, würde mir eine wahre Sorge vom Herzen nehmen, und wie gesagt, nicht mir allein!«

So scharfsehend meine Tante war, konnte sie nicht ermessen, was sie mir mit dieser einfachen Unterredung geleistet hatte. Wort und Ausspruch sind unter verschiedenen Umständen nicht dieselben, das rechte Wort und[89] der rechte Augenblick müssen zusammen treffen, um die rechte Wirkung zu erzeugen. Meine Geschwister und einzelne Freunde hatten mir häufig gesagt, daß meines Vetters Verhalten gegen mich kein fehlerfreies gewesen sei, ich hatte das selbst gefühlt und er selber hatte sich dessen angeklagt, aber ich wußte jetzt so gut und besser als er, was kein Anderer wissen konnte, wie viel Antheil meine eigene vorarbeitende Phantasie an meinen Schmerzen und Leiden gehabt, und jede von Dritten gewagte Anklage des geliebten Mannes war mir daher als ein Unrecht gegen ihn erschienen und hatte mich gereizt. Denn wer sich in dem Geliebten ein Ideal erschaffen, will lieber sich selbst beschuldigen, als den Geliebten beschuldigen lassen. Alle die langen Jahre, während welcher ich ihn nicht gesehen, während welcher ich mit ihm nur im Geiste beschäftigt gewesen, hatten ihn mir dem wirklichen Leben entrückt, und mich ihn, obschon ich wußte, daß er nicht mir gehörte, doch als mein Eigenthum und als mit mir verbunden betrachten lassen; ja grade in der Zeit, seit welcher ich aus Selbsterhaltungstrieb auf allen Zusammenhang mit ihm verzichtet, hatte sich mein Denken an das Ideal, zu dem ich ihn mir gemacht, nur gesteigert, und ich hatte mich, als ich nach Breslau und wieder in das Haus seiner Eltern gekommen war, Anfangs kaum darin finden können, von ihm, wenn auch mit großer Liebe, so doch mit der kühlen Besonnenheit der gesunden Vernunft reden und urtheilen zu hören.

Es lag etwas sehr Ernüchterndes darin, wenn man der Einrichtungen für seine Wohnung, seines Gehaltes, seiner amtlichen Verhältnisse, seiner geselligen Beziehungen[90] und seiner Aussichten für die Zukunft, ohne allen Hinblick auf mich gedachte, wenn man sich mit mir in der gleichmüthigsten Weise von sei nem Thun und Treiben unterhielt, oder mir seine Briefe zu lesen gab, deren heiterer Ernst, deren entschiedene Zufriedenheit mich neu und fremd bedünkten.

Jeder Tag, den ich in dem Hause meiner Tante verlebte, brachte mich solchergestalt mehr in die Wirklichkeit zurück; da aber der Weg aus einer Uebertreibung in die andre weit kürzer ist, als der Weg von der schwindelnden Höhe der Leidenschaft in die sichere Ebene der gesunden Vernunft, so war ich nun plötzlich sehr nahe daran, mich aller meiner heilig gehaltenen Qualen und Leiden, als einer wahren Verirrung zu schämen, über welche ich vor dem Geliebten selbst erröthen müsse, und in ein Mißtrauen gegen mich zu verfallen, das mir verderblicher geworden sein würde, als Alles, was ich bis dahin erlebt hatte. Mit einer Art ironischer Freude hatte ich mir, seit diese Anschauung sich meiner zu bemächtigen begonnen, jede mir theure Erinnerung als eine lächerliche Einbildung bezeichnet, und ich fing an irre zu werden an meinem Herzen, an meinem Verstande, an meinem Ehrgefühl, ich war nahe daran, in einen neuen Abgrund zu stürzen, als das Wort meiner Tante mir rettend zu Hülfe kam.

Die sanfte, nur andeutende Weise, in welcher sie ihre und ihres Sohnes Empfindung für mich in Eines verschmolz, die schonende Liebe, mit welcher sie mich ihm gegenüber in mein Recht einsetzte, die Feinheit des Herzens, in der sie nicht von einem Un recht ihres Sohnes,[91] sondern nur von seinem Wunsche sprach, es vergessen und vergütet zu wissen, stellten mich in meinen Augen völlig wieder her; denn es giebt gar manche Fälle im Leben jedes Einzelnen, in welchen seine Kraft ihn verläßt, so daß sein eigenes Rechtsbewußtsein ihm nicht mehr genügt, und er des fremden Urtheils nöthig hat, um vor sich selber bestehen und in sich selbst wieder zu Einklang und Frieden gelangen zu können. Darauf beruht die Bedeutung der Sündenvergebung in der katholischen Kirche.

Von dem Augenblicke, in welchem Heinrich's Mutter mir mein Urtheil sprach, war ich frei und mir selber in jedem Betrachte wiedergegeben. Ich fühlte mich als einen neuen Menschen. Ich hatte zu verzeihen, und hatte einem Manne doch nicht viel zu verzeihen, der sich eine Schwäche, welcher kaum Einer an seiner Stelle sich nicht schuldig gemacht haben würde, selber als ein Unrecht vorhielt, welches er bereute. Zum ersten Male begriff ich die Möglichkeit einer neuen Zukunft und eines neuen gesunden Zusammenhangs mit meinem Vetter. Ich konnte frei von ihm sprechen, freier an ihn denken, ich fing an mich ruhig und heiter zu fühlen in dem Zimmer, welches ich bewohnte, und – es war Heinrich's Zimmer.

Ich ging darin umher und nahm die Geräthschaften in die Hand, welche er benutzte, ich saß und schrieb an seinem Tische, ich stand und betrachtete seine Bücher. Es waren viele von seinen Arbeiten darunter. Schon gegen das Ende der dreißiger Jahre hatte Heinrich Simon neben seiner amtlichen Thätigkeit als praktischer Jurist, sich als Schriftsteller mit den preußischen Gesetzen und ihrer Bedeutung zu beschäftigen angefangen, und theils[92] allein, theils im Verein mit gleichdenkenden Freunden, eine Reihe von Werken veröffentlicht, welche sich mit der Kritik, mit der Erklärung und Erläuterung der preußischen Gesetzgebung beschäftigten. Wenn ich diese Reihe von Büchern in seinem Zimmer stehen sah, wenn ich ihre Titel auf dem Rücken der Bände las, so trat mir die ganze Thätigkeit des vielbeschäftigten Mannes wie im Bilde vor Augen, und ich nahm wohl hier und da einmal solch ein juristisches Werk in die Hand, und blätterte auf gut Glück darin herum, und freute mich an den klaren Auseinandersetzungen, und an den einzelnen schlagenden Worten und Sentenzen, die mir gelegentlich in die Augen fielen.

Vor Allem war es das Werk über die Gesetzgebung in Betreff der Juden, das meine Aufmerksamkeit auf sich zog; und daß wir Beide, ohne von einander zu wissen, mit demselben Gegenstande beschäftigt, für dieselbe gute Sache thätig gewesen waren, machte mir ein neues inniges Vergnügen. Während Simon das Recht der Juden auf staatliche Anerkennung und bürgerliche Gleichstellung, und das an ihnen begangene Unrecht durch die Rechtswissenschaft zu beweisen strebte, hatte ich in dem Gebiet der Dichtung ein Gleiches gethan, und wenn ich es auch in mir fest beschlossen hatte, Heinrich für's Erste noch nicht wiederzusehen, so mochte ich es mir doch nicht versagen, ihm aus der Ferne ein Zeichen zu geben, das ihn beschäftigen, ihn interessiren sollte, wenn schon es ihn nicht direkt an mich erinnern konnte.

Man hatte mir, als ich von Berlin fortgegangen war, die letzten Bogen der »Jenny« zur Revision gesendet.[93] Nur der Titel des Buches war noch zu drucken, und ich hatte es mir vorbehalten, noch ein Motto für dasselbe zu bestimmen. Ich hatte lange nach einem solchen gesucht, hatte bald dieses, bald jenes gewählt, und war endlich bei einem Ausspruch Börne's stehen geblieben, als ich zufällig eines Tags noch einmal Simon's Werk über »die Verhältnisse der Juden in Preußen« in die Hand nahm, und folgende Stelle in demselben traf: »Ein Stamm, aus dem der Erlöser, die Madonna, die Apostel hervorgegangen, der nach tausendjähriger Verfolgung dem Glauben und den Sitten seiner Väter treu geblieben, nach tausendjährigem Drucke noch hervorragende Größen für Wissenschaft und Kunst erzeugt, muß jedem andern ebenbürtig sein!«

Solch ein Wort hatte ich gesucht, nun hatte ich es gefunden! Und mit diesem Motto ging denn mein zweiter Roman, ebenfalls ohne meinen Namen, in die Welt. Das Motto als Schleife und Erkennungszeichen für den Freund an dem verhüllenden Domino der Anonymität.[94]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 3, Berlin 1871, S. 69-95.
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