Neuntes Kapitel

[176] Mein Vater verweilte acht, neun Tage bei uns, und da ich ihn so genau kannte, merkte ich, daß er sich immer in einer gewissen Verwunderung über uns befand. Unsere beginnende Unabhängigkeit war ihm etwas Fremdes, und auch uns war es sonderbar, daß wir in Umgangskreisen lebten, welche nicht die seinen waren, daß wir ihn in denselben vorzustellen hatten, daß wir in Berlin heimischer waren als er, daß wir ihm zuweilen Fingerzeige und Rath zu geben hatten, ja daß er diesen von uns forderte.

Er sah sich unser häusliches Leben an, und es fiel ihm auf, daß wir uns in Verhältnissen behaglich fühlen konnten, welche uns so wenig von demjenigen gewährten, das er uns dargeboten hatte. Wir waren leichtlebiger, muthiger und doch ernster geworden, als zuvor; wir waren nach seiner Meinung nicht mehr ganz Dieselben, als welche er uns entlassen hatte. Sein Empfinden mochte den Gefühlen gleichen, welche Leopold Schefer in den Worten ausdrückt:


»Du hast den Sohn noch, aber mehr kein Kind


Und in gewissem Sinne ging es uns eben so. Wir waren so sehr gewohnt, uns dem Vater in jedem Betrachte[176] unterzuordnen, Alles von ihm und durch ihn zu empfangen, daß wir im ersten Augenblicke nahe daran waren, uns unserer ersehnten und endlich errungenen Unabhängigkeit vor ihm zu schämen.

Indeß unser gegenseitiges Verhältniß war ein zu gesundes, als daß eine solche Stimmung mehr als eine vorübergehende hätte sein können. Wir hatten uns nach wenig Tagen völlig zurecht gefunden, und verlebten die freien Stunden, welche unsere Arbeit und des Vaters Geschäfte uns und ihm übrig ließen, sehr heiter und zufrieden miteinander. Da der Bruder die ganzen Morgen- und Mittagsstunden durch sein Amt gefesselt war, so begleiteten ich und die Schwester den Vater, wenn er irgend welche Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen wünschte, und es war ihm dabei eigentlich nur um dasjenige zu thun, was ihm neue Anschauungen gewähren konnte.

Er hatte z.B. nie ein Fresko-Gemälde gesehen; wir erbaten also die Erlaubniß, die damals noch nicht enthüllten Fresken des Museums besichtigen zu dürfen; wir gingen in die Raczynskische Gallerie, und mehrmals in die Bildergallerie des Museums, in welcher ich nun schon heimischer geworden war und den Cicerone machen konnte. Der Vater hatte durch die seit einigen Jahren auch in Königsberg eingeführten Kunstausstellungen Freude an der Malerei gewonnen, während die Plastik ihm immer ein fremdes Element blieb. Er fand die Farblosigkeit derselben kalt, und die Zahl der Motive war ihm zu beschränkt. »Immer dieselben Gestalten!« rief er aus, »und wenn sie noch etwas Andres als Götter oder[177] Soldaten machten! Ich weiß damit ein für alle Mal gar Nichts anzufangen.« – Er war in einer Zeit und unter Verhältnissen erzogen, in welchen von Kunst kaum die Rede war, und in welchen ihm sicher kein Kunstwerk zu Gesicht gekommen ist. Das jetzt heranwachsende Geschlecht kann sich davon kaum noch eine Vorstellung machen, wie gänzlich einst alle Kunst aus dem Leben entschwunden war, und wie unsere Jugend, und vollends die Jugend unserer Eltern ohne irgend einen Zusammenhang mit dem Kunstschönen hingegangen ist.

Ich war zwanzig Jahre alt, als ich das erste moderne Oelgemälde, eine Gestalt aus dem Ossianschen Sagenkreise, von Julius Moser, sah, und einundzwanzig, als ich, wie ich in diesen Memoiren erzählt, die ersten Statuen erblickte. Gipsabgüsse nach guten antiken oder modernen Originalen gab es vor dreißig Jahren innerhalb des Bereiches der bürgerlichen Verhältnisse noch nicht. Was wir an Gipsfiguren zu sehen bekamen, das trugen die herumziehenden Italiener auf ihren Köpfen umher. Es waren kleine Büsten des Königs und des Fürsten Blücher, kleine Statuetten des alten Fritz und Napoleons, es waren grün und roth angestrichne Papageien und mit dem Kopfe wackelnde Kaninchen; und als dann später die Büsten von Schiller und Goethe in halber Lebensgröße, und die lesenden und schreibenden Kinder und ein paar Adler nach Rauch an die Reihe kamen, waren das Besitzstücke, welche unser Einer lange aus der Ferne anzustaunen hatte, weil sie Anfangs so theuer waren, daß man an ihre Erwerbung noch nicht denken konnte. Ein Kupferstich war eine Seltenheit! Selbst Lithographien kamen[178] in den bürgerlichen Wohnungen nur ausnahmsweise vor, und wie wir in unserer Jugend uns mit Erstaunen umgesehen haben würden, hätte man uns in eines der mit Bildern und Statuetten geschmückten Zimmer versetzt, wie man deren jetzt in allen nicht ganz unbemittelten Familien findet, so würden unsere Kinder äußerst verwundert sein, wenn sie der gänzlichen Schmucklosigkeit gegenüber ständen, die früher selbst in den Häusern wohlhabender Leute gar nicht auffiel. Man war es durchaus gewohnt, die glatten vier Wände anzusehen, denn außer einigen schlechten Familienportraits besaß kaum Jemand einen Wandschmuck, wenn er nicht reich und besonders gebildet war; und daß wir in meinem Vaterhause in früherer Zeit eine Reihe von Kupferstichen gehabt hatten, das war ein auffallender Luxus gewesen.

Von all' dem Schönen, Erfreulichen und Bedeutenden, welches jetzt selbst dem bettelnden Kinde an den Fenstern der Buch- und Kunsthandlungen zur Ansicht geboten wird, war in meiner Jugend in Königsberg noch keine Spur zu finden. Ich meine, es wird nicht vor der Mitte der dreißiger Jahre gewesen sein, daß bei uns in der Altstädtischen Langgasse Herr Voigt auf den Gedanken kam, seine Papier- und Cartonnagen-Handlung allmählig in eine Kunsthandlung umzuwandeln, welche Anfangs dürftig genug ausgestattet war; und es vergingen dann noch Jahre, ehe er das schöne Lokal in der Junkerstraße eröffnete, das sich, als ich achtzehnhundert fünfundvierzig zum letzten Male meine Vaterstadt besuchte, wohl sehen lassen konnte; das aber freilich damals noch immer als das einzige derartige Institut in Königsberg dastand.[179] Kleine Lehrjungen, armer Leute Kinder hören jetzt hier in Berlin, wenn sie an dem Schaufenster einer Kunsthandlung oder vor den nun schon zahlreichen Statuen und Monumenten in den Straßen stehen, mehr und verständiger über Kunst urtheilen, als es mir in meiner Jugend zu Theil geworden ist; und es ist nicht hoch genug anzuschlagen, daß die jetzt heranwachsende Generation ihre Empfindung für das Schöne durch Anschauung ausbildet, ehe sie den abstrakten Begriff des Schönen fassen lernt. Ich z.B. kannte die Namen der großen Künstler aller Zeiten, hatte von ihren Werken gelesen, wußte diese Werke zu nennen, aber ich hatte so gut wie Nichts davon gesehen, bis ich mit siebzehn oder achtzehn Jahren in der Wohnung meines Zeichenlehrers Kupferstiche nach den besten Meistern kennen lernte. – Man hörte und las von den Künsten, deren Erzeugnisse gesehen werden müssen, wenn man über sie nicht wie der Blinde von der Farbe urtheilen soll; und eine ganze Seite der menschlichen Fähigkeiten, welche die jetzige Generation, ohne es gewahr zu werden, von ihrer ersten Kindheit an in sich entwickelt und ausbildet, lag in uns und in unsern Vätern und Müttern in der Regel völlig brach, wenn man nicht etwa auf Reisen es so glücklich getroffen hatte, daß man eine oder die andere der öffentlichen Gallerien einmal hatte ansehen können, die fast durchweg nur an einzelnen Tagen in der Woche und nicht ohne mancherlei Weitläufigkeiten und Kosten besucht werden konnten.

Neben den Gemäldegallerien sahen wir mit dem Vater das ägyptische Museum an, das damals noch in den Gartengebäuden des Schlosses Monbijou befindlich und[180] sehr unzweckmäßig aufgestellt war; dann fuhren wir nach verschiedenen Fabriken, an denen der Vater und ich ein gleich lebhaftes Interesse nahmen. Dazwischen arbeitete ich nothgedrungen mehrere Stunden des Tages, und manche Stunde verging in ernsten Gesprächen und Berathungen über die Zukunft der einzelnen Familienmitglieder. Mein Vater dachte bisweilen doch mit Bedauern daran, daß ein Geschäft aufgegeben und aufgelöst werden sollte, welchem er alle seine Kräfte gewidmet, das ihm die Möglichkeit gegeben hatte, eine so große Familie wie die unsere anständig aufzuerziehen, ein gewisses Vermögen dabei zu erübrigen, und das ohne Frage einer bedeutenden Ausdehnung fähig war, wenn eine junge und frische Kraft dasselbe nach den Bedingungen der jetzigen Zeit zu betreiben unternahm. Er hatte oftmals den Wunsch gehegt, daß unser ältester Bruder, dessen rascher und klarer Verstand und dessen organisatorisches Talent ihm vielversprechend für den Beruf des Kaufmannes zu sein schienen, seine juristische Carrière aufgeben und dafür in das väterliche Geschäft eintreten möge, und es war einmal nahe daran gewesen, daß der Sohn aus Rücksicht auf den Vater sich zu dem Opfer entschlossen hätte. In frühern Zeiten hatte meine Mutter, aus Vorliebe für den sicheren Erwerb des Beamten, und aus Scheu vor den großen Wechselfällen, denen das Leben des Kaufmanns unterworfen ist, bei Mann und Sohn dahin gewirkt, jenen Plan nicht zur Ausführung kommen zu lassen; und jetzt, da unser Vater wieder auf seinen Vorschlag zurückkam, war ich es, welche in den Bruder drang, nicht darauf einzugehen, obschon ich die größte Vorliebe für den Stand[181] des Kaufmanns hegte, und obschon wir sahen, daß dem Vater viel daran gelegen war.

Mein Bruder liebte seinen Beruf, der allen seinen Anlagen in jedem Betrachte entsprach; es hatten sich ihm in demselben durch seinen Fleiß und seine Kenntnisse schnell günstige Aussichten eröffnet, er liebte auch das Leben in der Hauptstadt, und sollte das Alles aufgeben, um mit dem Geschäfte in Königsberg, an welchem Orte er nicht so gern war, als in Berlin, die Sorge für das Vermögen seiner sechs damals noch sämmtlich unverheiratheten Schwestern zu übernehmen, das zum Betrieb des Geschäftes nothwendig in demselben hätte bleiben müssen, wenn der Tod uns den Vater einmal entriß. Je mehr die Zukunft seiner Töchter dem Vater Sorge machte, je weniger er den Gedanken fassen konnte, daß sie einmal auf sich selbst gestellt und vielleicht genöthigt werden könnten, ihr Brod unter Fremden zu suchen, wenn das Vermögen, das er uns hinterließ, nicht ausreichend sein sollte, uns Alle, wie der Ausdruck lautet, standesmäßig zu unterhalten, um so lebhafter hing er an dem Gedanken, den Sohn an seiner Stelle als Versorger der Töchter eintreten zu sehen, und ich fühlte, wie hart es dem Erstern ankam, auf solch eine Probe zwischen seiner eigenen Neigung und Einsicht, und zwischen den Wünschen und Beruhigungen des Vaters gestellt zu sein. Ich sah es daher als meine Aufgabe an, nach beiden Seiten darauf hinzuwirken, daß dies Opfer nicht positiv gefordert und nicht dargebracht wurde; und hätte ich nicht schon lange vorher es eingesehen, wie verkehrt die Erziehung und die Stellung sind, welche man den Mädchen in den bürgerlichen Kreisen[182] anweist, so würde mir diese Erkenntniß bei den peinlichen Erörterungen wohl gekommen sein, welche jene Tage mit sich brachten, und welche mir völlig unaushaltbar gewesen sein würden, hätte ich mich noch zu der Zahl derjenigen rechnen müssen, deren Zukunft meinen Vater beunruhigte, deren Hilflosigkeit und Abhängigkeit der Mann, welcher sie erzeugt, damit als eine lebenslängliche und unabweisliche anerkannte. Wie Eltern bei der Geburt einer Tochter nicht erschrecken, wenn sie dieselbe als ein durch ihr Geschlecht zu ewiger Abhängigkeit und Unterstützung bestimmtes Wesen betrachten, ist mir immerdar ein Räthsel geblieben. Wäre es nicht so ernsthaft und so traurig, so könnte man es äußerst komisch finden, daß der Vater, an dem Tage, an welchem die neugeborene Tochter ihm in die Arme gelegt wird, nach dem jetzigen Stande der Dinge, wenn er nicht sehr reich ist, stillschweigend darauf rechnet, es werde sich wohl einmal ein Andrer finden, der ihm die Pflichten und die Sorge für dieses Wesen abnimmt; nur daß er dabei nicht auf den heiligen Vincenz von Paula und auf ein Hospital zum heiligen Geiste, sondern auf irgend einen redlichen Erdensohn und auf dessen Haus und Arbeit spekulirt.

Es gelang uns denn auch, unseres Vaters Plane mehr und mehr auf ein Zusammenleben mit uns in Berlin hinzulenken, und da ich inzwischen meine Novelle beendet und abgeliefert hatte, und die Zeit herangekommen war, in welcher meine Tante ihre Badekur zu machen hatte, so verließ ich Berlin an demselben Tage, an welchem mein Vater weiter gen Westen ging, und ich schied von ihm sehr erquickt durch unser Beisammensein, völlig[183] beruhigt über sein Befinden, und mit der Hoffnung, uns im Hochsommer wiederzusehen, denn ich dachte nach der Reise mit meiner Tante, für längere Zeit in die Heimath und zu meinem Vater zurück zu kehren.

Da die Arbeit und die Anwesenheit desselben mich in den letzten Tagen völlig in Anspruch genommen hatten, so kam ich erst in der Einsamkeit des Eisenbahncoupés und des Postwagens, mit welchem man damals noch den halben Weg nach Breslau zurückzulegen hatte, zur Ruhe und zur Sammlung, und der Gedanke, daß ich am nächsten Tage in Breslau sein würde und Heinrich Simon wiedersehen solle, trat nun erst wieder in den Vorgrund meiner Gedanken.

Ich hatte mir durch eilf Jahre diesen Augenblick in den wechselndsten Stimmungen, unter den verschiedensten Umständen zu vergegenwärtigen gesucht, hatte ihn mit der Sehnsucht glühender Leidenschaft und mit der Zerknirschung und Verzagtheit gänzlicher Hoffnungslosigkeit in's Auge gefaßt. Nun stand ich nahe davor, und kannte mich kaum wieder, in der Ruhe und Stille, welche in meiner Seele herrschten. Ich wollte mich dieses Zustandes erfreuen, aber ich vermochte es nicht, denn unwillkürlich fiel mir ein Wort aus einem Briefe des Prinzen Louis Ferdinand an seine Geliebte, Pauline Wiesel, ein, welches ich im Laufe des Winters hatte citiren hören. Es lautete: »Wo sind die schönen Tage hin, in welchen wir so unglücklich waren!« Das hatte mich schon damals, als man es vor mir aussprach, sehr gerührt und ergriffen; nun befand ich mich in der Lage, es mit innerer Bewegung auf mich selber anzuwenden. Wo waren die schönen Tage hin, in welchen ich so unglücklich war?[184]

Wie in einem magischen Doppelbilde hatte ich mich und mein Leben beständig vor Augen. Ich sah mich, wie ich im Schneetreiben jener Märznacht an meines Vaters Seite von Breslau abgefahren war, das Herz voll Verzweiflung, die Seele verdüstert, den Sinn aussichtslos; dabei jung, leidlich gesund, leidlich sorgenfrei, und doch ohne alle Hoffnung. Jetzt war ich dreiunddreißig Jahre, also für ein Mädchen alt, meine Jugend lag hinter mir, ich war nicht gesund, ich hatte auch kein Liebesglück, auf das ich mich getröstete, aber ich fühlte mich reich, ich fühlte mich jung, ich hatte die Seele voll Hoffnung, ich liebte das Leben, denn ich hatte ein schönes Ziel im Auge, ich hoffte Gutes und Schönes zu leisten, ich hatte Arbeit, die mich freute, ich hatte Selbständigkeit, ich hatte Freiheit! Ja selbst jene Abhängigkeit, die ich sonst immer dem geliebten Manne gegenüber empfunden hatte, fühlte ich nicht mehr.

Ich sah dem Zusammentreffen mit ihm in ruhiger Freude entgegen. Ich dachte nicht mehr ausschließlich: wie wird er dich finden? ich fragte mich ebenso: was wird er geworden sein? Und das Gefühl der Gleichberechtigung, das ich neben ihm empfand, machte ihn mir nur werther.

Am Abende vor meiner Abreise von Berlin hatte ich ihm geschrieben, daß ich nach Breslau kommen würde, und daß ich mich darauf freute, ihn nach so langen Jahren in Ruhe und Herzensfreiheit wiederzusehen.

Es war gegen die Nacht hin, als ich in Breslau anlangte. Mein Onkel Lewald empfing mich auf der Post, ich war sehr heimisch in seinem Hause und in Breslau. In meinem Zimmer erwartete mich ein Willkomms-Gruß[185] von Heinrich. Eine augenblickliche Spannung mit unserm Onkel Lewald, durch politische Meinungsverschiedenheit erzeugt, hatte ihn abgehalten, selbst zu mir zu kommen.

Am nächsten Tage sahen wir uns in Gegenwart seiner Eltern und Geschwister wieder. Wir waren Beide sehr ergriffen, Beide sehr ruhig, die Andern schienen fast bewegter als ich und er.

Eilf Jahre sind eine lange Zeit! Eilf Jahre verändern an dem Menschen viel, aber man hat sich über den Vergang der Zeit nicht zu beklagen, wenn sie uns vorwärts gebracht hat.

Heinrich Simon war in jedem Sinn fortgeschritten, er war der ernste, in sich gefestete und von keiner Schwäche zu beugende Mann geworden, als welcher er gelebt hat bis zu seinem Tode. Seine Gesundheit, welche früher den Seinen hier und da Besorgniß eingeflößt, hatte sich zu ausdauernder Tüchtigkeit gekräftigt. Er war breitbrüstig geworden, seine Haltung und sein Gang noch aufrechter und noch stolzer. Der Zug von Melancholie in seinem Antlitz hatte sich verloren, sein Ausdruck war ruhig bis zur Kälte, wenn er sich selber überlassen war; begeistert und leuchtend, wenn ein großer Gedanke ihn mächtig ergriff; freundlich und voll lachender Anmuth, wenn er mit Menschen verkehrte, die er liebte, und vollends wenn er Kinder um sich hatte, für die er eine ungewöhnliche Zärtlichkeit und, man möchte sagen, jene Achtung besaß, die in ihnen die künftigen Menschen zu respektiren weiß. Kinder hingen ihm deshalb auch mit großer Liebe an.

Da wir uns, wo wir auch sein mochten, von einer[186] großen Familie umgeben fanden, vergingen ein paar Tage, ohne daß wir zu einem Alleinsein und einem ruhigen Gespräch gelangten, und doch hatten wir ein solches nöthig, obschon jede allgemeine Unterhaltung es uns darthat, wie unsere Entwicklung und geistige Befreiung nach derselben Richtung vor sich gegangen war.

Als ich meinen Vetter in unserer Jugend kennen gelernt, hatte er selbst noch starke Vorurtheile gehabt, und war darum abhängig von fremdem Vorurtheil gewesen. Weil man die Juden mißachtete, hatte er große Scheu davor getragen, an seine jüdische Abkunft erinnert zu werden. Er hatte vielleicht grade um deßhalb die Beamtenkarrière erwählt, und seinen Ehrgeiz auf ein rasches Fortschreiten im Staatsdienst gerichtet gehabt. Jetzt war das Alles anders geworden. Weit davon entfernt, sich wie früher seiner Abstammung nicht gern erinnern zu mögen, hatte er in ihr einen Beruf zum Kampfe gegen jedes Vorurtheil gefunden; und da der ernste Mensch nicht in sich geht, ohne bis auf den Grund seines Wesens zu kommen, so hatte Heinrich Simon endlich in seinem Herzen den wahren Kern und Gehalt seiner eigenen Natur gefunden und erkannt: den Drang und die Nothwendigkeit, für das Recht einzustehen, wo es verdunkelt oder wo demselben zu nahe getreten wurde. Der Jurist, der Rechtsgelehrte, war ein Mann des Rechtes, ein Rechtsvertreter geworden.

Alle seine Arbeiten hatten diesem einen Ziele gegolten. Die Rechtskenntniß zu fördern hatte er den Plan zu einer systematischen Quellendarstellung der Gesetzgebung über das öffentliche Recht des preußischen Staates gefaßt,[187] und mit seinem Freunde, dem Präsidenten von Rönne, ein großes Werk: »die Verfassung und Gesetzgebung des preußischen Staates« herausgegeben. Aehnliche und eben so bedeutende Arbeiten waren, da ihre Zusammenstellung die Kraft eines Einzelnen überschritt, in Gemeinschaft mit andern Freunden unternommen worden; und während Simon selbst als Richter in Breslau thätig war, hatte er grade in dem Zeitpunkt, in welchem ich ihn wiedersah, seine Polemik gegen die im März des Jahres vierundvierzig von der preußischen Regierung neu erlassenen Gesetze begonnen, welche nach seiner Meinung die Unabhängigkeit des preußischen Richterstandes antasteten.

Die Beschäftigung des Menschen ist sein wesentlichster Erzieher, wenn die Zeit für ihn vorüber ist, in welcher er der Erziehung durch Eltern und Lehrer theilhaftig wird. Wer sich mit kleinlichen Dingen beschäftigt, verkleinert allmählig sein Interesse und damit auch sich selbst; wer seine Thätigkeit auf große und würdige Gegenstände richtet, kann nicht anders als an sich selbst einen großen Maßstab legen, und muß danach trachten, in sich dasjenige so weit als möglich heranzubilden, was er mit seiner Thätigkeit für Andere als ein Ideales darzustellen unternimmt. So hatte denn auch Heinrich Simon seinen ganzen Menschen zu einer harmonischen Einigkeit herausgebildet. Was er in der Theorie für recht erkannte, das trachtete er im Leben zu verwirklichen; Richter zu bleiben, wenn die geistige Freiheit desselben durch Gesetze angetastet wurde oder doch in den Augen des Volkes als angetastet und dem Zweifel unterworfen erscheinen konnte, hielt er für unmöglich.[188]

Seine Eltern, welche große Hoffnungen auf die Zukunft dieses Sohnes gebaut hatten, waren unzufrieden damit, daß er sich mit dem Ministerium, welchem er untergeordnet war, in einen Conflikt gebracht, der voraussichtlich mit des Sohnes Austritt aus dem Staatsdienst enden mußte. Die ganze oppositionelle Thätigkeit, in welche er gerathen war, sagte seinen Eltern nicht mehr zu. Sie waren Beide nicht mehr jung, und die Mutter, welche später den Bestrebungen ihres Sohnes mit ganzem Herzen folgte, welche eine zweite Jugend, eine neue Kraft des Geistes gefunden zu haben schien, als die preußische Revolution sich in den Jahren sechs- und siebenundvierzig anzukündigen begann, und welche unverzagten Herzens blieb, als der Sieg der Reaktionspartei ihren Sohn in das Exil zu gehen nöthigte, war damals krank – und Krankheit entmuthigt. Heinrich hatte die Mutter zu beruhigen, sich mit dem Vater in das Gleiche zu setzen, er sah auch selbst nicht ohne Schmerz auf die Nothwendigkeit hin, einem Berufe zu entsagen, dessen Würde und veredelnde Kraft er von jeher empfunden und hoch angeschlagen hatte; aber diese Würdigkeit hörte mit der Freiheit auf, und er trug das alte biblische Wort als Leitstern in seinem Herzen: was hülf's dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und nähme doch Schaden an seiner Seele.

Er war viel ernster geworden, aber seine frühere Schwermuth hatte ihn verlassen. Er war fertig geworden mit der unfruchtbaren Reue über den im Duelle begangenen Mord, seit er seinem Vorsatz nachgekommen, sein Leben für das Allgemeine zu verwenden; und wie[189] der Geist die Welt »am Zeichen hält«, hatte ein zufälliges Ereigniß dazu beigetragen, ihn einen Abschluß mit der Vergangenheit machen zu lassen.

Er hatte sich eines Abends in einem öffentlichen Garten oder in einem Weinhause befunden, und war, ohne es zu wollen, Hörer eines Gespräches geworden, das sich ausführlich über ein für den nächsten Morgen zwischen zwei jungen Männern festgesetztes Duell erging. Dies hören war Eines gewesen mit dem Vorsatze, das Duell, wenn es irgend möglich, zu verhindern; und obschon von der größten persönlichen Zurückhaltung und jeder Einmischung in fremde Angelegenheiten im hohen Grade abgeneigt, war er an die ihm ganz fremden jungen Leute herangetreten, hatte ihnen gesagt, wie er eben jetzt zufällig von ihrem Vorhaben eines Schußduelles gehört habe, und es von ihnen erbeten, man möge ihn den Vermittler zwischen den Betheiligten machen lassen. Der Bestürzung, der Befremdung, welche ein solch unbefugtes Dazwischentreten hervorgerufen, hatte der Adel seiner Persönlichkeit und eine kurze Mittheilung über sein früheres Erlebniß ein Ende gemacht. Sein männlich ernster Freimuth hatte den jungen Männern Zutrauen eingeflößt, er hatte von ihnen den Namen der beiden Duellanten und Sekundanten erfahren; und in der Nacht, von Einem zu dem Andern hin und hergehend, vorstellend, überredend, vermittelnd, hatte er eine Ausgleichung des Streites, eine Versöhnung der Streitenden zu Wege gebracht. Durch diese Verhinderung eines Verbrechens, wie er selbst es falschem Ehrgefühl und elenden Vorurtheilen zu Liebe, einst gegen sein besseres Wissen begangen, hatte er symbolisch[190] den letzten Abschluß mit den schmerzlichen Erinnerungen an seine eigene Vergangenheit gemacht.

Ich erfuhr alle diese Dinge in den ersten Tagen durch gelegentliche Mittheilungen der Seinen, ich sah ihn täglich, besuchte ihn mit seinen Schwestern, in der Wohnung, welche er sich eingerichtet hatte, und die er mit seinem Vetter, dem jetzigen Rechtsanwalt Max Simon, gemeinsam inne hatte. Auch sie trug das Gepräge des Ernstes und der Arbeit. Große Bücherschränke, einfache, zweckmäßige Möbel von edler Form, keine Verweichlichung in der Wahl derselben, kein unnützer Zierrath irgend einer Art. Dafür enthielt sie eine große und reiche Bibliothek, einige alte gute Oelbilder, Blumen, deren Pflege nicht viel Zeit erfordert, verschiedene gute Waffenstücke und Gewehre, und endlich schloß sich an die zu ebner Erde gelegene Wohnung ein Stückchen Gartenland an, das zu bebauen und selbst zu bearbeiten ihm Erholung und Genuß war. Von der tiefsinnigsten Rechtsdeduktion konnte er mit großer Befriedigung zum Spaten greifen. Da es ihm in jenen Zeiten nicht vergönnt war, seiner großen Liebe zur Natur durch einen Aufenthalt in schöner Gegend zu genügen, so erquickte es ihn, dem Stückchen Erde, das ihm zunächst lag, mit eigner Hand die größte Pflege angedeihen zu lassen; und kein reicher Gutsbesitzer und kein König können von dem Ertrag ihrer Besitzungen und Länder mehr Genuß haben, als Heinrich offenbar empfand, wenn er uns mit einer Schüssel Salat aus seinem Garten, oder die Kinder seiner Geschwister mit einem Teller voll Erdbeeren aus demselben bewirthen konnte. Die ganze Güte, die ganze Liebe und Liebenswürdigkeit seiner Natur[191] traten dann mit seinem hellen Lachen herzerquickend hervor, und wenn man sah, wie er für das Vergnügen der kleinsten Kinder, wie er für das Behagen der Erwachsenen mit einer fast weiblichen Achtsamkeit Sorge trug, so hätte man meinen sollen, er habe eben gar nichts Weiteres zu thun und im Sinne. Man hätte nicht glauben sollen, daß man hier einen Mann vor Augen sehe, den ernste persönliche Sorgen, schwere Arbeit, und leidenschaftliche Theilnahme an dem Gang des öffentlichen Lebens beschäftigten.

Es hatte, als ich nach Breslau gekommen, in dem Plane meiner Tante Lewald gelegen, nach wenig Tagen abzureisen, indeß mancherlei Hindernisse hielten uns in ihrem Hause noch zurück, ich sah meinen Vetter täglich, und wir hatten Freude an einander. Meine Heiterkeit, mein Lebensmuth machten uns einander ähnlich, aber es fiel ihm auf, daß ich mich noch gänzlich an meine alten Gewohnheiten anklammerte, daß ich mich für verpflichtet hielt, eine Menge von Handarbeiten zu verrichten, weil es früher meine Aufgabe gewesen war, sie zu machen, um keine unnöthige Ausgabe zu veranlassen. Er lachte mich aus, wenn er mich nähend, meine Sachen ausbessernd fand. Er lachte mich aus, wenn ich mir einbildete, dahin oder dorthin nicht allein gehen, ein Museum, ein Theater nicht allein besuchen, eine Reise nicht ohne Begleitung machen zu können, falls es sich dabei um mehr, als um einen Transport von einem Orte nach dem andern handelte; und während ich mir ein Bewußtsein daraus machte, so wenig als möglich von den Gewohnheiten und Vorschriften des Vaterhauses abzugehen, während ich, an Abhängigkeit und Unterordnung mehr gewöhnt als ich[192] es selber wußte, meine literarische Beschäftigung immer noch wie ein mir Zugestandenes, gleichsam auf Widerruf Erlaubtes, ansah und betrieb, rief er mir fast an jedem Tage zu: »Nimm Deine Position doch ganz und voll! Nähe nicht, sondern lies und lerne! Gehe, wohin Du willst! lebe, wie Du magst! stelle die geistige Unabhängigkeit, die Du vertheidigst, vor allen Dingen in Dir selber dar! vereinfache Dein Leben und Deine Bedürfnisse so sehr Du kannst, denn die Frauen bleiben unfrei durch die tausend Kinkerlitzchen, aus denen sie ihr Dasein zusammen setzen, frage nur Dich selbst um Rath bei Deinem Thun und Lassen; nimm Dir Freiheit, so frei zu sein, als Du es bist.«

Eines Abends, den wir im Hause seines Bruders zugebracht hatten, und an welchem fast alle jüngern Familienmitglieder beisammen gewesen waren, standen wir nach dem Nachtessen an einem der geöffneten Fenster, und sahen über die weite Fläche des Bahnhofs hinaus, denn mein jüngerer Vetter wohnte, als Beamter der Oberschlesischen Bahn, auch in einem der Bahnhofsgebäude, und ich machte die Bemerkung, wie schwer es für die Phantasie sei, sich in einer Gegend zurecht zu finden, welche man unbebaut gekannt hat, und die man mit einer Reihe von Straßen durchschnitten, durch neue Wege verändert, ihrer Bäume beraubt, mit einem Worte, gänzlich umgestaltet wiederfindet, wie die Partien vor dem Schweidnitzer Thore verwandelt worden waren, seit ich sie zum ersten Male gesehen hatte.

»Mich dünkt,« sagte ich, »wenn wir früher zum Schweidnitzer Thore hinauskamen, hatten wir an der alten[193] kleinen Kirche vorüber zu gehen, um nach dem Garten zu kommen, in welchem Deine Eltern damals wohnten; und selbst der Garten sieht mir völlig anders aus als zu jener Zeit. Ich kannte ihn, als ich vor dem Jahre hier war, kaum noch wieder, und heute noch sind mir alle Stege und Wege hier draußen förmlich fremd.«

»Und wir sind sie doch manch liebes Mal gegangen!« versetzte er als ganz natürliche Antwort. Aber es begegnet gar oft, daß unsere einfach gesprochenen Worte eine Bedeutung in sich tragen, die wir nicht hineinzulegen meinen, und die uns selber überrascht, weil sie, gegen unsere Absicht, uns und dem Andern unsere letzten innern Gedanken offenbart. So mochte es Heinrich in dem Augenblick gegangen sein, denn er wiederholte wie in Nachdenken versunken: »manch liebes Mal!«

Er hatte meine Hand gefaßt, wir standen still am Fenster neben einander. »Komm!« rief er nach einer Weile, »wir haben uns eigentlich noch gar nicht gesprochen, und eilf Jahre sind eine halbe Ewigkeit! Wir sind ja noch viel umgewandelter als hier die Wege und Stege, und müssen einander klar werden ein für alle Mal. Laß uns hinunter gehen!«

»Wir Beide allein? hier von allen Andern fort?« fragte ich mit gewohnter Zaghaftigkeit.

»Kind!« rief er mit leichtem Spott, aber er wendete sich zu den Uebrigen, und that den Vorschlag, bei dem schönen Wetter noch einen Gang in das Freie zu thun. Das waren Alle gern zufrieden. Man bedurfte keiner Vorkehrungen, die Gegend war einsam und es war spät. Die Paare und Gruppen fanden sich schnell zusammen,[194] ich ging an Heinrich's Arm. Eine Weile blieben Alle vereint, dann trennte die Ungleichheit des Schrittes Diesen und Jenen von der Gesammtheit, und bald waren wir allein.

Die Nacht war wunderschön, kein Wölkchen am Himmel. Wir befanden uns in den letzten Tagen des Mai, der Mond stand voll am Horizonte und schwebte leicht und frei in der Luft. Auf den Wällen war es still, die Promenade breitete sich ruhig längs dem Stadtgraben hin. Aus den Boskets, aus den Gärten duftete der Flieder hervor, in allen Büschen sangen die Nachtigallen, und zwischen den Aesten der Bäume hindurch streute der Vollmond goldene Lichter über unsern Weg. Hie und da sah hellbeschienen ein Gartenhaus mit seinen weißen Wänden zu uns hinüber, hier und da begegneten uns noch ein paar Leute, schlug aus irgend einem Zimmer Musik an unser Ohr. Allmählig aber hörte das Alles auf. Die Fenster in den Häusern wurden dunkel, die Musik verstummte, kein Mensch begegnete uns mehr. Der Himmel und der Mond, der Blüthenduft und die Kühle der Nacht, der Sang der Nachtigallen und das Glitzern des Mondes auf dem Wasser, das leise Rauschen und Flüstern der Bäume waren nur für uns da, gehörten nur uns allein.

Und wir gingen und gingen, und setzten uns nieder, und gingen wieder, und erzählten einander in Stunden den Inhalt langer, langer Jahre; und mit dem Thau, der erfrischend durch die Luft zu ziehen begann, floß manche Thräne der Erinnerung auf die Wange hernieder, und unter dem hellen Mondlicht hellte sich Alles, Alles auf, was dunkel zwischen uns gewesen war, und wie der[195] Mond hinab sank, sank auch die ganze Vergangenheit mit ihren Trübungen und Irrthümern, mit ihrem Verschulden und Erleiden für immer, und ganz und gar in die Nacht hinab; und ein heller Tag der Neigung und des festen Vertrauens stieg daraus empor, der uns zu Freunden machte, und uns geleuchtet, nicht mir und dem Geliebten meiner Jugend allein, sondern Allen denen, die das spätere Leben ihm und mir zu eigen gegeben, in ungetrübter Klarheit, bis zu der Stunde, da wir Alle den theuren Mann verloren haben.

Es dämmerte schon der Morgen herauf, als Heinrich mich an die Thüre meines Hauses geleitete.

»Wann werdet Ihr reisen?« fragte er mich.

»Wir gehen übermorgen.«

»Bleibt Ihr lange in Teplitz?«

»Vier bis sechs Wochen.«

»Ich habe Zeit,« sagte er, »willst Du, daß ich Euch dort aufsuche und eine Weile bei Euch bleibe?«

»Nein! thue das nicht!« bat ich ihn, »wir treffen uns wohl bald einmal auch ohne das. Aber schreibe mir jetzt wieder und schreibe bald!«

»Als ob sich das nicht von selbst verstände!« entgegnete er. Wir gaben und schüttelten einander die Hände. Wir waren einander jetzt unverlierbar für alle Zeit.

»Rechne auf mich, wie ich auf Dich rechne für jeden Fall!« sagte er noch einmal, »und wenn Du mich brauchst, rufe mich, und ich werde da sein!«

»Das weiß ich!« versicherte ich ihm – und so trennten wir uns.
[196]

Im Laufe des Tages sahen wir uns noch bei seiner Mutter. Sie hatte das Fieber, wir saßen gegen den Abend, als der Anfall vorüber war, eine Weile an ihrem Bette.

»Du hast Dich recht erholt seit dem vorigen Jahre!« sprach sie, mich mit ihrem sanften Blicke still betrachtend.

Ich sagte ihr, daß es mir auch besser gehe, daß ich mir von der Reise und dem Aufenthalt in freier Luft völlige Herstellung erhoffe, und drückte ihr meine Freude darüber aus, daß ich Dresden und die sächsische Schweiz, Prag und Böhmen, und überhaupt und vor Allem wieder ein Stück schöner Natur zu sehen bekommen würde.

Sie hörte mir zu, hörte, daß Heinrich mir Briefe an einige Bekannte von ihm anbot, welche ich auf unserm Wege zu treffen Aussicht hatte, und mit ihrer feinen Seele fühlte sie mir und ihrem Sohne die freie Heiterkeit wohl an, welche seit gestern über uns gekommen war. Aber sie fragte Nichts. Nur als sie mich einmal hell und fröhlich lachen hörte, sagte sie: »Ich bin recht glücklich darüber, Fanny! daß Du die Heiterkeit Deiner Jugend wiedergefunden hast. Mache es doch möglich, nach Deiner Rückkehr eine Weile bei uns zu bleiben, Deine Frische ist eine solche Erquickung für mich.«

Sie reichte mir die Hand, ich küßte sie ihr, der Sohn küßte ihre andere Hand: »Da muß ich auch dabei sein!« sagte er scherzend. Sie lachte und drückte uns Beiden die Hände ohne ein Wort zu sprechen; aber man muß sie gekannt haben, um zu wissen, was ihre Blicke Demjenigen zu sagen vermochten, der sie zu verstehen gelernt[197] hatte. Ich besaß an ihr eine Mutter, an ihrem Sohne einen Freund auf jede Probe.


Und wie die Dankbarkeit des Volkes, für dessen Recht und Freiheit Heinrich Simon gestritten und gelitten, ihm am Wallensee, der ihn in der Fülle seiner Kraft begraben, das Denkmal errichtet hat, welches den vorüberziehenden Deutschen an einen der muthigsten und besten Söhne seines Vaterlandes mahnt, so mögen auch diese letzten Blätter, welche liebevolle Erinnerung an einander reihte, seinem theuern Andenken gewidmet sein.[198]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 3, Berlin 1871, S. 176-199.
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Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

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