Zehntes Kapitel

[153] Im Laufe des Jahres verließen wir das Haus in der Brodbänkenstraße, das wir durch sieben Jahre inne gehabt hatten. Es hatte tausend Gulden preußisch (dreihundert dreiunddreißig Thaler) Miethe gekostet. Das war für jene Zeit in Königsberg eine große Summe, und weit mehr als der Vater in jenem Augenblick auf unsere Wohnung verwenden durfte.

Von unsern Handlungsgehilfen waren nur zwei und ein Lehrling im Hause geblieben, auch die alten Dienstboten verließen uns. Die Kinderfrau war entbehrlich geworden durch den Tod der beiden jüngsten Kinder, sie und die andern Mädchen waren an hohen Lohn und an gutes Leben gewöhnt, und da die größten Einschränkungen zur Pflicht geworden waren, meinte die Mutter mit Recht, dieselben mit den alten Dienstboten nicht so wie es nothwendig war, durchführen zu können.

Es war im Herbste, als wir in die Vorstadt hinauszogen, und da die Häuser dort alle erst nach dem Brande aufgebaut und also neu waren, wohnten wir in der Vorstadt nicht nur viel billiger, sondern eigentlich auch besser als in der Stadt. Die Straße ist eine der breitesten und hell und luftig. Auch die Häuser sind dort[153] breiter, haben wie das, in welches wir einzogen, meist Seitenflügel, und wir hatten also in der einen Etage, welche der Vater gemiethet, eben so viel Zimmer als in dem alten Hause, die großen Erkerstuben des obern Stockes gar nicht mitgerechnet. Aber das alte dunkle Haus war uns wärmer und behaglicher vorgekommen, die hellen großen Zimmer des neuen schienen uns Allen Anfangs kalt und frostig, die zusammenhängenden Stuben ließen in den einzelnen Gemächern nicht die gewohnte frühere Ruhe. Meine Mutter empfand es schwer, daß der Vater sein Comptoir nun in der Stadt hatte, und also theilweis außer dem Hause leben mußte, und wir Kinder hatten mit den uns vertrauten alten Dienstboten auch die alte Nachbarschaft und, was uns sehr zu Herzen ging, das Doppelfenster in der Kinderstube verloren, hinter dem wir in jedem Winter eine Anzahl von Rothkehlchen, Zeisigen und Meisen gehegt und zu Spielgefährten gehabt hatten. Auch die Kupferstiche aus dem Entree, die mir sehr lieb gewesen, kamen nicht mit in die neue Wohnung hinüber. Man sagte, es sei für sie kein rechter Platz. Ich vermuthe aber, daß sie, weil sie werthvoll waren, verkauft worden sind, obschon wir sonst unsern ganzen Besitz von Möbeln und Geräthen behalten und mitgenommen hatten.

Das ganze häusliche Leben wurde nun auf einen andern Fuß eingerichtet. Sonst hatten die stattliche Kinderfrau oder der Hausknecht mich nach der Schule gebracht, damit ich den schweren Pompadour voll Bücher nicht zu tragen brauchte, jetzt mußte ich den zweimal so weiten Weg allein machen. Die Kost im Hause wurde[154] verändert, der Mittagstisch auf das einfachste eingerichtet, die Abendmahlzeit regelmäßig mit einer Wassersuppe oder mit einem sehr billigen Kartoffelgericht gemacht, und alles was wir mit der Zeit von neuen Kleidern erhielten, war viel geringer an Werth, als dasjenige, was wir bis dahin getragen hatten. Auch meine Mutter beschränkte ihre ohnehin bescheidene Weise, sich zu kleiden, noch viel mehr, mein Vater ließ die damals noch üblichen Jabothemden eingehen und behalf sich mit Chemisetts, die seidenen Taschentücher machten allmählig den bunten Leinwandtüchern Platz, und jede solche Beschränkung, für welche Kinder, weil ihre Welt die Welt des Kleinen ist, vielleicht noch mehr Auge haben als die Erwachsenen, machte mir Kummer, weil sie mir in das Gedächtniß rief, was beide Eltern mir gesagt hatten, daß sie große Sorge hätten, daß es ihnen schwer werde uns zu erziehen, und daß wir also alles Mögliche thun müßten, ihnen ihre Sorge durch unsern Fleiß zu lohnen, und recht rasch vorwärts zu kommen.

Solche Eindrücke, so nachhaltig sie auf die Entwickelung eines Kindes wirken, sind aber doch nicht dauernd in demselben lebendig. Mit nothwendigem Selbsterhaltungstriebe sucht das Kind nach Freude, und die große Liebe unserer Eltern wußte uns auch in den beschränkteren Verhältnissen Freude und eine glückliche Kindheit zu bereiten, wie bisher. Dazu drückten uns Kinder die Einschränkungen eigentlich nicht persönlich. Daß ich jetzt allein in die Schule gehen mußte, kam mir bald als ein Zeichen der Erwachsenheit und als eine mir angenehme Freiheit vor. Die veränderte Kost ist Kindern, wenn sie[155] nur satt werden, und wenn man sie nicht überhaupt gewöhnt hat, auf die Art der Speise mehr Werth zu legen als es recht ist, meist sehr gleichgültig. Daß wir auch mit geringen Mitteln wohl gekleidet waren, dafür sorgte der feine Geschmack der Mutter, und für manches Andre, was jetzt nicht mehr so war als früher, entschädigten uns der weite Hof und besonders der kleine Garten, die wir am Hause hatten.

Dieser Garten, ein Raum von vielleicht zwölf Schritten im Geviert, war ein eingezäunter verwilderter Fleck, als wir das Haus bezogen. Er hatte eine Art von Laube, die aus Latten zusammengeschlagen und oben bedacht war, so daß sich über ihr ein kleiner Balkon erhob, der nach dem leeren, wüsten Jahrmarktsplatze hinaussah. Aber schon die Idee, einen Garten zu haben, beglückte uns, und als der Vater dann einen alten verarmten Gartenarbeiter kommen ließ, der einige Pappeln an den Balkon und Stachelbeerhecken um den Zaun pflanzte, der die Erde ganz umgrub, Beete abtheilte, diese mit einigen geringen Pflanzen besetzte, und uns die Anweisung gab, wie wir dieselben zu warten hätten bis er wiederkommen werde, da hatten wir nicht nur das alte Haus in der Stadt schnell vergessen, sondern fanden sogar, daß es in der Vorstadt viel schöner wäre, wie sie denn thatsächlich für uns Kinder auch ein weit gesunderer Aufenthaltsort wurde.

Grade als wir in die Vorstadt gezogen waren, hatte man mich in der Schule in die zweite Klasse versetzt, und ich brauche keinen zu starken Ausdruck, wenn ich sage, daß das Lernen, je weiter wir vorwärts schritten,[156] mich immer glücklicher machte. Wir lebten damals sehr eingezogen, die Eltern hatten den Grundsatz, daß man Kinder, und namentlich Mädchen, früh an Häuslichkeit gewöhnen müsse. Fremde kamen nicht mehr in das Haus; wenn also nicht der Geburtstag irgend einer Schulfreundin oder der Besuch bei einer meiner Tanten eine Ausnahme machten, war ich regelmäßig zu Hause, und in meinen Abendstunden nach Herzenslust zu lesen, meine beste Freude.

Mein Vater gab mir viel Reisebeschreibungen und Geschichtswerke, in Bearbeitungen für Kinder, aber er ließ mich auch, als die Mährchenwelt allein mir nicht mehr genügen wollte, viel Poetisches lesen, für das ich eine besondere Vorliebe hatte, und in dem oftmals der Klang der Sprache mich noch mehr entzückte als die Gedanken selbst.

Die erste Poesie, die an das Kind herantritt, ist gemeinhin das Lied, und da die Mutter, wie ich schon früher bemerkt habe, eine sehr angenehme Stimme hatte, sind die Lieder, die ich von ihr gehört habe, die ersten poetischen und musikalischen Eindrücke gewesen, welche ich empfangen habe. Das Lied aber, soweit es ein Volkslied wird, hängt immer mehr oder weniger mit den Ereignissen der Zeit zusammen, und die ersten Lieder bieten also dem Kinde auch gewissermaßen seine ersten politischen oder socialen Anhaltepunkte und Begriffe. Danach hat man den Werth des Volksliedes und die hohe Bedeutung desselben auf die Bildung des Volkes zu ermessen.

Die ersten Lieder, deren ich mich entsinne, waren jenes Lied von Jean Grillon, das ich schon mit zwei[157] Jahren gekannt, und ein andres sehr anmuthiges Wiegenlied, das auch aus dem Französischen übersetzt und ursprünglich für den König von Rom gedichtet sein sollte. Die Melodie mit der Stimme meiner Mutter hatte ich vollständig behalten, von dem Texte war mir Nichts geblieben, als die Verse:


Schlafe mein Prinzchen schlaf ein!

Küche und Keller sind Dein.


und dann wieder:


Dort in der Zofe Gemach

Klagt noch ein einsames Ach!


wie sich denn mitunter solche Brocken räthselhaft in unserem Kopfe festsetzen.

Später aber, als die erste Auflage dieser Lebensgeschichte erschienen war und sich Theilnahme erworben hatte, wurde mir von verschiedenen Seiten, durch mir unbekannte Zeit- und Altersgenossen, die Ergänzung jenes Liedes zugeschickt, und ich setze sie hierher, weil ein aufbewahrtes, anmuthiges Liedchen immer eine Bereicherung für die Poesie, und weil dieses für die Zeit seiner Entstehung sehr charakteristisch ist. Es lautet in seiner Vollständigkeit:


Schlafe mein Prinzchen! es ruhn

Schäfchen und Vögelchen nun,

Gärten und Wiesen verstummt;

Auch nicht ein Bienchen mehr summt.

Luna mit silbernem Schein

Leuchtet zum Fenster hinein.

Schlummre beim silbernen Schein,

Schlafe mein Prinzchen schlaf ein!


Auch in dem Schlosse schon liegt

Alles in Schlummer gewiegt,[158]

Reget kein Mäuschen sich mehr,

Küche und Keller sind leer.

Nur in der Zofe Gemach

Tönet ein schmelzendes Ach!

Was für ein Ach! mag das sein? –

Schlafe mein Prinzchen! schlaf ein!


Wer ist beglückter als Du?

Nichts als Vergnügen und Ruh!

Zucker und Spielwerk vollauf

Und noch Karessen in' Kauf.

Alles besorgt und bereit,

Daß nur mein Prinzchen nicht schreit.

Was wird das künftig erst sein? –

Schlafe mein Prinzchen! schlaf ein!


Die Mehrzahl der Lieder aber, welche die Mutter sang, waren aus der Zeit der Freiheitskriege, und bei Spaziergängen oder bei den damals äußerst seltenen Spazierfahrten, bei denen wir mit einem Stellwagen vom Thore aus auf irgend ein nahes Dorf fuhren, und dann wieder vom Thore ab zu Fuß zurückkehrten, wurden von uns »der treue Tod« von Körner, mit der auf des Dichters eigenen Tod hinzugefügten Schlußstrophe, das Körnersche Schwertlied, Lützow's wilde Jagd, dann das Volkslied von der Flasche, mit dem Refrain: »mein König trank daraus,« gesungen. Da zwischen kam auch das Lied des Kosacken, die sogenannte »schöne Minka« vor, und diese Lieder waren von einer solchen Wirkung, von einer solchen belebenden Kraft nicht nur auf mich, sondern auf alle meine Geschwister, daß sie uns immer wieder erschütterten und erhoben, und wir einen wirklichen Genuß davon hatten, sie mitzusingen. Weit weniger machten wir uns aus den komponirten Gedichten[159] von Goethe oder aus andern kleinen lyrischen Sachen. – »Damon saß und blies die Flöte« – »An dem reinsten Frühlingsmorgen,« – und das damals noch beliebte Liedchen »Freut Euch des Lebens!« das man überall hörte, waren mir immer Geduldproben, nach denen ich nur um so dringlicher nach meinen beiden Lieblingsstücken verlangte, nach dem Reiterlied aus Wallensteins Lager und nach dem prachtvollen Schubertschen:


Auf, auf! Ich Brüder und seid stark,

Der Abschiedstag ist da.

Schwer liegt er auf der Seele, schwer,

Wir müssen über Land und Meer

In's heiße Afrika!


Der Ursprung und die Bedeutung aller dieser Lieder waren uns bekannt, weil wir eben gewohnt waren, Nichts zu hören, ohne es uns durch Fragen verständlich zu machen, und so habe ich oft auf einem elenden Stuhlwagen, manchmal neben fremden Menschen geringen Standes sitzend, im Halbdunkel einer Heimfahrt durch nebliges Wiesenland, an kleinen verkrüppelten Weiden vorüber, Momente einer Erhebung und Begeisterung empfunden, wie sie mir kein Opernsaal in London oder Paris später in ähnlicher Weise geboten hat. Namentlich das Schubertsche Lied, bei dem Text und Melodie gleich mächtig sind und einander vollkommen decken, während der unterdrückte Schmerzensschrei über ein schweres Schicksal überall daraus hervorklingt, ist mir in diesem Betrachte ewig unvergeßlich.

Nur mit einem Liede, das man für ein höchst patriotisches hielt, und das sehr im Brauch war, mit »des[160] Deutschen Vaterland« von Arndt konnte ich mich nie befreunden. Die trockne Länderaufzählung und der wunderliche Refrain: »o nein! o nein! mein Vaterland muß größer sein!« hatten für mich etwas unwiderstehlich Komisches. Ich fing immer dabei zu lachen an, wenn das »Geographielied«, wie ich es nannte, gesungen wurde, bis ich einmal derb für mein Lachen und Spotten gescholten, in Thränen ausbrach, und nun erst vollends einen Widerwillen dagegen faßte, der mir auch redlich geblieben ist. Damals war meine Unlust an dem Liede instinktiv; jetzt weiß ich, worin der große Mißgriff besteht, den der treffliche Arndt in dem Liede begangen hat. Das Negative ist nämlich nicht erhebend, sondern niederschlagend, und ein niederschlagendes Vaterlandslied ist eine betrübte Sache, deren mißliche Wirkung nicht aufgehoben wird, selbst wenn die letzte Strophe ein Positives als zu erreichendes Ziel hinsetzt.

Außer dieser gesungenen Poesie lernte ich aber auch frühzeitig die Schiller'schen und Goethe'schen Balladen kennen, und wählte sie, je länger sie waren, um so lieber zu meinen Deklamationsübungen. Ich hatte damals ein ungemeines Wortgedächtniß, das indeß geschwunden ist, je stärker mein sachliches Gedächtniß sich entwickelte, eine Erscheinung, die sich bei lebhaften Kindern fast regelmäßig wiederholt. Als ich zehn, eilf Jahre war, konnte ich die meisten Schiller'schen und Goethe'schen Balladen auswendig, und lernte einmal, da mein Vater mit einem unserer Bekannten darauf gewettet hatte, in zwei und einer halben Stunde die ganze Glocke von Schiller fehlerlos auswendig. Rhythmus, Klang und Reim waren[161] mir so genußreich, daß ich es wie erfrischende Luft in mich aufnahm.

Das erste Drama, das ich gelesen habe, war der Correggio von Oehlenschläger. Ich hatte es in der Genesung nach dem Scharlachfieber in meiner Krankenstube erwischt, wo der Vater es liegen lassen, und ich hatte, als man es mir fortnehmen wollte, so lange betheuert, daß ich es verstände und schön fände, bis man sich herbeiließ, meine Geschichtserzählung anzuhören, und mir das Buch nun für längere Zeit zu täglicher Lektüre zu vergönnen. Auch die Mehrzahl der Schiller'schen und der Goethe'schen Dramen, den Götz, den Egmont, die Iphigenie, die natürliche Tochter und den Tasso lernte ich sehr früh, ich meine bald nach meinem eilften Jahre kennen, während ich gar keine Romane in die Hände bekam, und nur selten Gelegenheit hatte, das Theater zu besuchen.

Meinen ersten Theaterbesuch hatte ich mir verdient, als ich den ersten Komödienzettel geläufig lesen konnte. Es war die Ankündigung von Aschenbrödel gewesen, und ich hatte, da das Mährchen von Aschenbrödel mir altvertraut war, an dem Anschauen eines lebendigen Aschenbrödels so viel Vergnügen gehabt, daß man mir an dem bald darauf folgenden Weihnachtsfeste einen kleinen Aschenbrödelanzug gemacht hatte, den ich mit Wonne trug. Dann nahm man mich später mit meinem Bruder zusammen einmal in die Zauberflöte mit, und wir spazierten danach eine lange Zeit immer zwischen zwei Stuhlreihen als Tamino und Pamina durch Feuer und Wasser; und das sind auch meine einzigen theatralischen[162] Erinnerungen aus jenen Tagen, mit Ausnahme einer äußerst komischen, die sich an eine der größten Tragödien und an eine der größten tragischen Künstlerinnen, an die Medea und an Sophie Schröder knüpft.

Ich mag etwa sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, als die Schröder in Königsberg gastirte. Meine Eltern waren in die Medea gegangen, und da Königsberg damals noch eben so schlecht gepflastert, als schlecht beleuchtet war, hatte man die Gewohnheit, sich, wenn man keinen Wagen hatte, von dem Hausknecht mit einer großen Laterne, in der drei Lichte brannten, bei dem Wege zum und vom Theater, wie überhaupt am Abende, vorleuchten zu lassen. Als Herrmann, so hieß der Hausknecht, in die Kinderstube kam, um sich einen Shawl geben zu lassen, den er der Mutter für die Rückkehr nachzubringen Befehl erhalten hatte, fiel mir es ein, ihn zu bitten, daß er mich mitnehmen solle, ich wolle die Eltern auch abholen gehen. Das war nie geschehen, war gegen alle Hausordnung, aber mein dringendes Bitten, und Herrmanns Glauben, daß die Eltern es als einen Spaß nicht übel nehmen würden, bewogen ihn und die Kinderfrau mir nachzugeben. Man zog mir also einen Pelz an, setzte mir die pelzverbrämte Sammetkappe auf, Herrmann nahm mich auf den Arm, seine Laterne in die andere Hand, und so gingen wir aus dem Kneiphof den Berg in die Höhe und nach dem Theater.

Ob wir dort zu früh angekommen sind, ob mein Vater zufällig heraustrat und mich mit in das Theater hinein nahm, das weiß ich Alles nicht mehr. Nur des Weges erinnere mich, und des Augenblickes, in dem ich,[163] dicht am Orchester, wo der Vater einen Platz hatte, – die Mutter saß anderwärts, – plötzlich die Schauspieler in der befremdlichen Nähe vor mir erblickte. Sie sahen mir groß und furchtbar wie Riesen, und Alle mit ihren geschminkten Gesichtern abscheulich häßlich aus. Auch ihre lauten Stimmen klangen mir widrig, und ich wurde über den Schrecken erst Herr, als die Schröder in ihrem Prachtgewande auftrat, und Etwas deklamirte, was mich fesselte. Es waren sicherlich auch wieder nur der Klang und die Pracht der Sprache, die mich beherrschten, und ich starrte die berühmte Frau voll Verwunderung an, als sie mit einem Male mit einer sehr mächtigen tragischen Bewegung bis hart an den Souffleurkasten herantrat, und ihr Gesicht in die Hände verhüllte. Alles war athemlos, ich ganz benommen. Plötzlich hebt sie die Hände kaum merklich vor dem Munde auf, neigt sich wie unter der Last des Schmerzes hernieder, die Worte: »Esel! soufflir Er!« – dringen leise aber ganz vernehmlich in mein Ohr, – und aus allen meinen Himmeln geworfen, überfällt mich wieder der kaum überwundene Schrecken vor den Schauspielern.

Daß ich nicht aufgeschrieen habe, ist mir nur durch meinen großen Schreck erklärlich. Mein Vater, der den Ausruf der Schröder eben so vernommen hatte wie ich, lachte darüber. – Komödianten! sagte er mit wegwerfendem Tone zu seinem Nachbar, aber mir war alle Lust am Theater vergangen. Ich hatte ein gewisses Grauen davor, und da in den folgenden Jahren alle unnützen Ausgaben von den Eltern vermieden wurden, so bin ich durch lange Zeit nicht wieder in das Theater[164] gekommen, und hatte volle Muße, den mir so widerwärtigen Eindruck zu überwinden.

Im Ganzen aber, glaube ich, gehört das Theater zu denjenigen Vergnügungen, welche man die Kinder und die Jugend zeitig und mit Vortheil genießen lassen kann, wenn man die Stücke passend auswählt, in welche man sie führt; und man irrt entschieden, wenn man glaubt, der Eindruck, welchen das Theater machen soll, werde erhöht, wenn man ihn dem Menschen aufspart, bis er reifer geworden ist. Zweimal in meinem Leben bin ich zufällig Zeuge davon gewesen, als sechszehn Jahre alte Mädchen zum ersten Male einer dramatischen Aufführung beiwohnten. Es waren die Töchter einer sehr gebildeten Familie, sehr unterrichtete und für das Schöne empfängliche Mädchen. Die Eine sah den Don Karlos, die andere die Stumme von Portici als erstes Experiment, aber Beide hatten, ich weiß dafür keinen andern Ausdruck zu finden, nicht mit Illusion sehen lernen, und das Conventionelle, was die Schauspielkunst und die Bühne als ein Nothwendiges in sich tragen, kam ihnen lächerlich und störend vor. Der erhöhte Sprechton, die Costüme, die Bewegung der Coulissen, der Wechsel der Scenen, das Behaben der Diener, welche mit den Requisiten hin und her gingen, die Chorgesänge, die Trikots, kurz alle jene Dinge, die man als Voraussetzungen hinnehmen muß, waren ihnen anstößig; und als sie dieses Mißgefühl dann überwunden hatten, war ihr Verhältniß zu dem Theater durchaus kein höheres oder idealeres als das unsere, die wir uns von jeher gewöhnt hatten, von[165] der Bühne herab Anregung zu den verschiedensten Empfindungen zu erhalten.

Zauberopern wie das Aschenbrödel, der Freischütz, das alte Donauweibchen und selbst die Zauberflöte, Stücke wie der Verschwender von Raimund, machen einen durchaus guten und reinen Eindruck auf Kinder, und ihnen in jedem Winter einen oder ein Paar solcher Eindrücke zu bereiten, ist gewiß nicht schädlich. Es wird ihnen plastisch gemacht, was sie annähernd aus ihren Büchern kennen, ihrem Nachahmungstriebe wird Stoff geboten, ihr Bedürfniß zum Erzählen in einer ganz besondern Weise befriedigt, und sie lernen, wie gesagt, sich in die Bedingungen des Theaters finden, so daß sie dann später nur befähigter sind, die großen Meisterwerke ohne Zerstreuung und Verwirrung auf sich wirken zu lassen. Aber die Kinder, wie es in Berlin nur zu sehr Sitte ist, an das Niedrigkomische zu gewöhnen, sie in Lokalpossen mitzunehmen, in denen sich mehr oder weniger doch ein gut Theil Gemeinheit breit macht, das ist ein wirkliches Verbrechen, und es kommt mir ein Grauen an, wenn ich gelegentlich von zehn-, zwölfjährigen Jungen die Verse nachsingen und die Witze erzählen höre, mit denen der Komiker Helmerding sein Publikum belustigt. Man versündigt sich an der Kindheit, wenn man das Geringe als gut genug und als belustigend für dieselbe ansieht. Nur das Beste, innerhalb der Sphäre seines Verständnisses, ist dem Kinde angemessen. Es hat, wenn es nicht verdorben ist, einen Zug zu dem Erhabenen, zu dem Wunderbaren, zu dem Rührenden, wie das Volk, das große Kind, für den ihm die Befriedigung[166] von außen geboten werden muß. Seiner Lust am Komischen weiß es dagegen selbst ein Genügen zu schaffen. Die Familie, die Schule, die Lehrer und die Mitschüler bieten ihm dafür den Stoff. Wer sich seiner Schulzeit erinnert, wird mir darin Recht geben, daß man es nicht nöthig hat, den Hang zur Satire in den Kindern besonders anzuregen, und etwas Spottlustigeres als eine Mädchenschule ist gewiß nicht zu finden.

Auch in unserer Schule, so streng die Disciplin war, hat es uns nie an Stoff zum Lachen gefehlt. Da hatten wir den jüngern etwas schielenden Herrn Ulrich, den wir mit dem Vorgeben in Unruhe zu versetzen wußten, daß sein Bruder examiniren kommen werde; da hatten wir den alten, dicken und sehr unbehilflichen Zeichenlehrer Herrn Weidner, der noch ein Zöpfchen, steif wie ein Rattenschwanz, in dem breiten Kragen seines ewigen grauen Rockes verborgen trug, und den wir auf alle ersinnliche Weise zu irgend welchen heftigen Bewegungen zu veranlassen suchten, bei denen das Zöpfchen dann plötzlich aus dem Rockkragen hervorsprang. Es war ein Festtag in der Klasse, wenn der Zopf nun einmal draußen war, und sein Eigenthümer ohne es zu merken mit jeder Wendung seines Körpers den Zopf zu unserm Vergnügen mitbewegte; und im Herausfinden des Komischen suchte ich meines Gleichen.

Meine Mutter beobachtete fein und hatte ein großes Nachahmungstalent, das sie aber bei ihrer Gutmüthigkeit niemals zum Spott benutzte. Ich hatte das Auffassen des Komischen von ihr geerbt, konnte es jedoch an mir selbst durchaus nicht wiedergeben, und besaß dafür nur[167] die gefährliche Fähigkeit, es mit schnellem Witzwort zu charakterisiren. In der Schule, wo ich ohnehin beständig die Jüngste unter ältern Gefährtinnen war, fanden meine Mitschülerinnen das ganz reizend; zu Hause jedoch durfte ich davon Nichts erzählen, denn mein Vater verwies mir solche Aeußerungen jedesmal, und kam dann doch hie und da irgend eine zum Vorschein, so brachte mich ein schweigendes Winken mit dem Kopfe von Seiten meines Vaters augenblicklich auch zum Schweigen. Ueberhaupt fand ich mich bald von lauter Repressivmaaßregeln umgeben, denn mein Fortschreiten war den Eltern zu schnell, und ich sollte durchaus noch ein Kind bleiben, da ich es wirklich noch war.

Meinem Verkehr mit den ältern Mädchen wurden Schranken gesetzt. Man lud sie mir nicht ein. Zu den Tanten wurde ich, wenn Gesellschaft dort war, nicht mehr mitgenommen wie sonst, und besuchten mich die Cousinen und eine kleine Freundin, die, nur ein Jahr älter als ich, in den Klassen mit mir Schritt hielt, so wurden mir alle möglichen Lappen und Zeugreste geschenkt, damit wir für die Puppen schneidern, d.h. spielen und uns als Kinder empfinden sollten.

All solcher Zwang hindert und fördert aber wenig. Gegen die Nähereien für die Puppen hatte ich kein Widerstreben, denn es kam dabei doch Etwas zu Stande, woran wir als an einem Selbstgemachten wirklich Freude hatten; aber mit dem Spielen war es vorbei, und selbst jenes Erfinden von Geschichten, in die wir uns einlebten und in denen wir abwechselnd die Handelnden machten, hielt nicht lange vor. Wir wurden es bald müde, unsere[168] auswärtigen Onkel und Tanten vorzustellen und uns von Dingen zu unterhalten, die uns im Grunde gleichgültig waren und über die wir uns doch immer erst verständigen mußten, wenn nur so viel gesunder Menschenverstand hinein kommen sollte, als wir selber hatten. Wir kehrten, und das ist gewiß das Gesundeste, immer bald wieder zu uns selbst zurück, und brachten die nächsten Jahre hin, ohne selbst recht zu wissen wie. Die Zeit von meinem neunten bis zu meinem eilften Jahre ist auch diejenige, von der ich die geringsten Erinnerungen habe.

Nur meine ersten bewußten Freuden an gewissen Natureindrücken fallen in den Zeitraum. Sie bezogen sich jedoch meist nur auf ein Wohlgefallen an dem Wechsel der Jahreszeiten, und so wenig sind Kinder im Ganzen der Abstraktion fähig, daß mir niemals einfiel, ich hätte Freude an der Natur, oder ich freute mich auf den Frühling oder auf den Winter. Die Jahreszeiten und die angenehmen Empfindungen, welche sie mir erregten, verkörperten sich mir, wie einem Wilden, in gewissen Vorgängen, welche mit den Jahreszeiten zusammenhingen. Ich meinte mich auf die Schlittbahn, auf den ersten Fischfang, auf die Kornblumen oder auf die Aepfelkähne zu freuen, während alle diese Dinge mir nur Zeichen für die Natureindrücke waren, mit denen sie zusammenhingen.

Bei uns in Preußen, wo der Winter so lang und so furchtbar kalt ist, daß man den nach der Schule gehenden Kindern wohl die Weisung giebt, von Zeit zu Zeit Nase und Ohren anzufassen, um sich zu überzeugen,[169] daß sie nicht erfroren sind, und wo es vorkommt, daß man einem Vorübergehenden zuruft, es sei ihm ein Glied erfroren, – bei uns ist der Beginn des Frühlings noch viel wohlthuender als in einem südlichen Klima. In unsern strengen Wintern hört der Wechsel von winterlichen und herbstlichen Tagen vollkommen auf. Wenn die helle Kälte einmal eingetreten, wenn der Pregel und das Haff einmal zugefroren sind, so bleibt es Winter durch Monate und Monate. Alle Flüsse und alle Seen, ja das frische und das kuhrische Haff werden zu Bahnen für den schnellsten Landverkehr. Von allen Theilen der Provinz kommen die kleinen ein- oder zweispännigen Schlitten, mit Getreide und andern Landesprodukten beladen, auf den Markt, daß die engen Straßen vor Zufuhr schwer zu passiren sind. Auf jedem Schlitten sitzt, in seinen Schaafpelz eingemummt, die Pelzmütze oder die litthauische blaue Tuchkappe auf dem Kopf, welche Nacken, Brust und Gesicht bedeckt und nur die Augen frei läßt, der kutschirende Bauer oder Knecht. Masuren, Lithauer und Kuhren welschen ihre Dialekte auf den Märkten durcheinander, und die polnischen Juden, in ihren schwarzen kaftanartigen Pelzen mit den spitzen pelzverbrämten, noch ganz assyrischen Sammetmützen und den assyrisch gedrehten Locken an den Schläfen, tragen dazu bei, das winterliche Bild zu vollenden. Alles eilt in den Straßen, daß der rauchende Athem hinter ihm herfliegt; aus allen Schornsteinen steigen Rauchsäulen in die Höhe, die ganze Stadt wird zur Schlittbahn. Wer es ermöglichen kann, fährt im offenen Schlitten spazieren. Den ganzen Tag knallen die Schlittenpeitschen der[170] Studenten durch die Straßen, die Mehrzahl der Wagen, die Posten selbst, werden auf Schlitten gesetzt. Man friert furchtbar in den Straßen, aber man will doch zum Vergnügen draußen sein, und die Nothwendigkeit, sich zu erwärmen, macht die Menschen beweglich und munter. Hier steht ein Arbeiter, der gewaltsam die Arme über die Brust zusammenschlägt, dort springt ein Eckensteher von einem Beine auf das andre, weiterhin kauern sich Holzarbeiter um ein warmes Essen zusammen. Ueberall wird Holz und Brennmaterial gefahren, überall sind die Fenster dick befroren. Der Schnee liegt fest wie ein Parket auf dem Boden, Wochen hindurch, Monate hindurch; das Eis wird ein Paar Fuß dick auf dem Pregel. Schwere Frachtwagen fahren zwischen den Schlittschuhläufern und Spaziergängern auf dem Eise. Der Luxus an Schlitten und Pelzen gewährt einen lustigen Anblick. Und dazu ist der Himmel von einer unwandelbaren Klarheit, die Sonne funkelt auf dem weißen Schnee, die Sterne flimmern in den Nächten auf ihrem schwarzen Grunde. Man hört es aus den Zimmern, wie die Räder der Wagen schneidend schleifen auf dem Boden der Straße, alle Schlitten klingeln – es ist Winter! Es ist Winter in einer Weise, die zu ertragen ich jetzt für ein Unglück halten würde, die mir damals aber schön erschien, denn wir Kinder litten nicht sehr davon. Wir waren ziemlich abgehärtet. Auf den kalten Fluren und Treppen, in den kalten Küchen und Kammern hatten wir nicht viel zu suchen, und für die Straße weiß man sich bei uns in Preußen wohl zu versehen. Pelze, gesteppte und mit Pelz besetzte Kappen, Filzschuhe[171] und Pelzkragen hielten uns warm, und das Gefühl bei der Heimkehr von der Nachmittagsschule, aus dem Dunkel der Straße in das Licht der heimischen Wohnstube, aus der Eiseskälte in das warme Zimmer zu treten und den für die ganze Familie gedeckten Kaffeetisch auf sich warten zu finden, war gar zu köstlich.

Hatte das dann bis in den März und April hin gedauert, kam der heftige Thauwind, daß das Eis auf den Flüssen sich löste und auf den Straßen zerschmolz, so begannen als Frühlingsboten das Schaufeln des Schnees von den Dächern, das auch im Winter oftmals besorgt werden mußte, um die Last nicht zu groß werden zu lassen, und das Aufeisen der Straßen, dem zuzusehen ich stundenlang, am Fenster stehend, nicht müde werden konnte. Endlich nach vielen Monaten hörte man wieder die Räder auf dem Steinpflaster rollen. Die gewohnte Winterpromenade auf dem gefrornen Pregel war vorüber, man fing wieder an, gegen Abend am Bollwerk, das heißt am Kai des Hafens spazieren zu gehen. Dann kam ein milderer Wind, das Eis setzte sich in Bewegung, am letzten Ende des Bollwerks warfen die Fischer ihre Netze zum Stintfang aus, und um die Fischer her, deren hohe Lederstiefel von Wasser trieften, deren Hände roth geschwollen von dem kalten Wasser waren, zappelten und glitzerten Millionen der kleinen silbernen Fischchen in den Böten, und nicht lange währte es, so setzten im Philosophendamm sich die Wassermühlen in Bewegung, um die Wiesen zu entwässern.

Nun war es Frühling! In den Gärten der Gemüsezüchter begann das Graben. Ich roch den unvergleichlich[172] erquickenden Duft der frischen Erdscholle, ich sah die Regenwürmer ihre langen röthlich braunen Leiber darin langsam bewegen. Die grauen pelzigen Palmen erschienen, an den Weiden wuchsen wieder die gelben Schäfchen, unsere Pappeln im Garten bekamen harzduftige Knospen, und die Schneeglöckchen drängten sich aus der Erde hervor. Nun war es Frühling!

Wir konnten wieder nach einem bestimmten Platze am Wall hin gehen, auf welchem Vogelkräuter und Mandelblümchen wuchsen, und je älter wir wurden, je mehr wurden wir in der Umgegend der Stadt heimisch. Was zu Fuß erreicht werden konnte, die Hufen, die neue Bleiche, der Sprind, Böttchershöfchen, die Kose am Pregel gelegen, und die Dörfer vor den Thoren, nach denen man mit den billigen Stellwagen gelangen konnte, wurden oft besucht. Man hätte auch Schöneres erreichen können, aber meines Vaters Geschäfte ließen ihm nur die spätern Abendstunden frei, meine Mutter war für weite Wege nicht stark genug. Wir waren in der Kindheit und in der ersten Jugend also schlechte Fußgänger geblieben, und Wagen für größere Ausflüge zu nehmen, hatten wir kein Geld. Aber einen Genuß bot der Sommer uns dar, den wir über alle andern schätzten: man konnte auf dem Schloßteich, auf dem Pregel, man konnte auf dem Wasser fahren. Wenn ich einmal auf dem Wasser gefahren war, wenn ich einmal einen Kornblumenkranz von selbstgepflückten Blumen auf dem Hut getragen, und Rosen von einer Mitschülerin geschenkt bekommen hatte, deren Eltern einen großen Garten besaßen, dann war es Sommer! und in der größten Hitze in die[173] Schule zu gehen, war mir ein Vergnügen, weil mir das die sommerliche Empfindung steigerte. Irgend eines Gefühls, das man ein poetisches oder lyrisches hätte nennen können, irgend einer Empfindung oder eines Gedankens, der von den Dingen selbst absah, bin ich mir nicht bewußt. Es freute mich das Grün der Bäume, es freuten mich die Blumen, das Singen der Vögel, die Wölkchen am Himmel, die Strahlen des Mondes in dem Wasser. Ich liebte die Stille der Nacht, wenn ich einmal dazu gelangte, spät zu wachen, und die in Ostpreußen lange dauernde Helle der Sommernächte zu gewahren. Aber es fiel mir dabei nicht ein, an die Natur zu denken und daß sie schön sei, oder gar an Gott, der sie geschaffen haben sollte. Mein Genuß war ohne alle Reflexion, das heißt rein sinnlich, und ich glaube grade darum prägte sich mir Alles so fest und deutlich ein, daß ich im Stande bin, mir in jedem Augenblicke alle jene Zustände und Lufttöne, ja ich kann sagen den Duft der Jahreszeiten deutlich in das Gedächtniß zu rufen.

Im Herbste, der bei uns in Preußen damals auch in den Haushaltungen noch Anlaß zu wirklichem Einherbsten gab, waren die klaren Morgen mit ihrer frischen, scharfen Luft mir eine wahre Wonne. Mit meinem großen Büchersack in die Schule zu gehen, wenn die Marktwagen in die Stadt fuhren, war mir eine Lust. Der Duft der grünen Aepfel von den Wagen, das Schnattern der Gänse, von denen man ebenfalls ganze Leiterwagen voll zum Verkaufe brachte, der starke Geruch der Küchenkräuter, die man zum Einkellern in die verschiedenen Häuser fuhr, das Alles mahnte mich[174] an die Traulichkeit des Winters, an des Vaters Geburtstag, der im November war, an das kommende Weihnachtsfest, und heute noch ruft mir der Geruch frischer Gemüse regelmäßig jene Herbstmorgen zurück, in denen ich die Vorstadt entlang zur Schule wanderte; denn der Geruch ist der stärkste Vermittler der Erinnerung.[175]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 1, Berlin 1871, S. 153-176.
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Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

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