Neuntes Kapitel

[137] Durch die nächsten Jahre ging mein Leben ruhig hin. In der Schule kam ich vorwärts, im Hause blieb Alles sich gleich, nur daß uns im Jahre achtzehnhundert achtzehn ein neuer Bruder, eben jener kleine Heinrich geboren wurde, den mein Vater mich beauftragt hatte zu küssen. Das Dazukommen eines neuen Kindes macht aber, wenn ihrer schon ein Häufchen beisammen ist, keinen großen Eindruck auf die Andern, und so lieb wir den lebhaften kleinen Jungen auch hatten, der mit seinen großen Augen dem Vater sehr ähnlich sah, so blieben ich und meine beiden ältesten Brüder doch einzig und allein auf uns selber angewiesen, und ich habe nie andere Spielkameraden unter meinen Geschwistern gehabt als sie.

Aus dieser Epoche sind mir jedoch drei Ereignisse besonders deutlich geblieben. Zuerst die Erinnerung an ein lebensgefährliches Scharlachfieber, die einzige schwere Krankheit, welche ich je gehabt habe. Von den Schmerzen und Leiden der Krankheit, die mich im siebenten Jahre befiel und mehr als zwei Monate währte, weiß ich gar Nichts. Es war aber, weil ich allein im Hause von der schweren Epidemie befallen worden war, und man mich also sorgfältig von den andern Kindern abgesperrt[137] hatte, die erste Trennung, welche ich von meinen Geschwistern erlitt, und sie fiel mir äußerst schwer. Zum Unglück hatte eine meiner Tanten, welche mich besuchte, an meinem Bette von dem Tode eines mir gleichaltrigen Schulkameraden gesprochen, der das Scharlachfieber bekommen hatte, während ich selbst mich noch gesund und in der Schule befand. Ganz plötzlich war mir dabei die Vorstellung gekommen, daß meine Brüder auch gestorben sein, und daß man mir dies eben so verheimlichen könne, wie den Tod jenes Knaben, und da ich aus dem Bereich meiner Bettschirme nicht heraus konnte, da man die Geschwister nicht zu mir lassen wollte, und keines von ihnen damals schreiben konnte, mir ein Zeichen zu geben, so war es von früh bis spät meine Frage, ob sie auch wirklich lebten, und was sie thäten, und was sie mir sagen ließen? Es war die erste Trennung und die erste schwere Sehnsucht, die ich erlitt, und sie war allmählig so heftig geworden, daß man mich, als ich nur das Bett verlassen konnte, in Pelze und Tücher gepackt bis an die geschlossene Stubenthüre führte, durch die ich meine Geschwister sehen konnte, und durch deren Glasscheiben wir einander küssen konnten, als sie ihre Köpfchen an dieselbe herandrängten. Kinder sind viel lebhafterer Schmerzen und Freuden fähig als man glaubt. Ich habe das Entzücken, mit welchem ich mich nach meiner ersten Ausfahrt wieder unter meinen Geschwistern und mit ihnen spielend befand, nie vergessen. Sie waren Alle so groß geworden, sie waren Alle so gut! Besonders die Zärtlichkeit meiner Brüder war so rührend, denn es war, als wäre ich ihnen fremd und neu und[138] lieber noch geworden! Und meine Eltern weinten Beide, als sie uns wieder beisammen sahen, als sie sahen, wie ihre Liebe unter uns fortwucherte.

Die beiden andern Erinnerungen sind allgemeinerer Art. Sie beziehen sich auf die im Jahre achtzehnhundertneunzehn erfolgte Ermordung Kotzebues, und auf die, in dem gleichen Jahre durch ganz Deutschland gehende Judenverfolgung.

Kotzebue hatte, nachdem er Rußland verlassen, längere Zeit in Königsberg gelebt, und mein Onkel, Doktor Assur, war sein Hausarzt gewesen. Dieser hatte mich, ehe ich in die Schule ging, häufig in seinem Wagen mitgenommen, wenn er seine Kranken besuchte, und da er bei dem Etatsrath – diesen Titel gab man Kotzebue – meist des Plauderns halber lange verweilte, so hatte er mich dann mit aussteigen lassen, und ich war freundlich aufgenommen und mit Näschereien, die dort immer auf einem Tische standen, beschenkt worden. Als ich dann einmal durch die Unvorsichtigkeit unseres Hausmädchens eine nicht unbedeutende Verwundung erlitt, deren mein Onkel, eben weil man mich dort kannte, im Kotzebue'schen Hause erwähnte, hatte mir der Etatsrath eine schöne Puppe geschickt, und ich war, als mein Nasenbein wieder geheilt worden, mit dem Onkel hingefahren, mich zu bedanken.

Alle meine Erinnerungen an den Mann waren also angenehm. Die Einrichtung des schönen Hauses, das er auf dem Königsgarten, nahe bei dem Theater, bewohnte, hatte eine gewisse Vornehmheit gehabt, die mir aufgefallen war, ohne daß ich gewußt hätte, warum sie mir[139] aufgefallen. Auch der Etatsrath, wie er mir in der Erinnerung lebt, eine nicht große feine Figur, hatte mir mit seinen schwarzen Escarpins und seidenen Strümpfen, mit seinem Jabot und seinen Manschetten, sehr gefallen, und nun war der mit einem Male ermordet worden, und es gab Personen, welche sagten, es sei ihm Recht geschehen, er sei ein Verräther gewesen, und Sand sei ein Held, dessen Namen auf die Nachwelt kommen werde, wie die Namen anderer Märtyrer und Heroen.

Die eifrigsten unter diesen Vertheidigern von Sand waren in unsrem Hause ein Dichter und ein Musiker: Raphael Bock und Gustav Wiebe. Sie waren Beide Hausfreunde meiner Eltern, und, wie ich es jetzt beurtheile, beide entschiedene Romantiker, wenn auch Jeder in anderer Weise. Bock hatte studirt und bekleidete später den Posten eines Custos an der Wallenrodt'schen Bibliothek, den er bis zu seinem Tode behalten hat. Er war eine große, magere, nach vorn gebeugte Gestalt, mit einem blassen Gesichte, dessen eingefallene dunkle Augen düster aus dem langen, schwarzen Haar seines Kopfes hervorsahen. Er hatte ein nahes Freundschaftsverhältniß zu Zacharias Werner gehabt, für dessen Schriften mein Vater ebenfalls eine gewisse Vorliebe besaß, und Bock gehörte, nebst dem später berühmt und berüchtigt gewordenen Professor Ludwig Sachs, zu den Jugendgenossen meines Vaters, mit denen er, so zu sagen, die Romantik der Zeit absolvirt hatte. Mein Vater war aber darüber lange hinausgekommen, nur die Neigung für Werner hatte er von Bock zum Erbe, die Schriften von Jakob Böhme als Geschenk von Sachs, und die Theilnahme[140] für diese Freunde als Andenken an seinen Romanticismus behalten. Er störte Bock auch niemals, wenn dieser den hingerichteten Sand als einen Helden pries, und dessen That als den Beginn der Wiedergeburt des deutschen Vaterlandes verkündete. Er ließ ihn durchaus gewähren, wie man einen Gemüthskranken gewähren läßt, und Bock hatte in der That die überspannte Schwärmerei eines solchen. Nur als Herr Wiebe, mein Musiklehrer, ein junger, schöner, blonder Mensch, sich einmal auch in die Begeisterung für Sand versetzte, sagte mein Vater abwehrend: »sein Sie doch kein Narr! Sand's That war eine Kopflosigkeit, Nichts weiter, und der arme Teufel verliert dafür den Kopf!« – Solch einzelne Aeußerungen setzten sich in den Kindern am leichtesten und sichersten fest.

Gegen den Onkel Doktor aber, der weil er Kotzebue persönlich nahe gestanden hatte, voll leidenschaftlicher Erbitterung gegen Sand war, entschuldigte mein Vater diesen Letzteren, und klagte Kotzebue an, und ich stand da, und wußte nicht, was ich denken sollte. Die Begriffe einer begeisterten Vaterlandsliebe, die Vorstellung eines Verraths am Vaterlande und eines Opfertodes für das Vaterland waren mir sehr geläufig, und die Thaten des Mutius Scävola, des Horatius Kokles und des Harmodios und Aristogiton hatten mir schon erhebende Empfindungen eingeflößt. Aber ich konnte mir das Alles doch nur in der römischen Toga vorstellen, und daß der Etatsrath, der mir nur Gutes gethan hatte, der wie alle meine Bekannten ausgesehen, ein Vaterlandsverräther sein sollte, daß ein junger Mensch, der auch nichts Andres[141] war als ein gewöhnlicher Student, wie deren Hunderte in unsern Straßen umhergingen, das Vaterland gerettet haben könnte, indem er den Etatsrath und sich selbst ermordete, das ging über mein Fassungsvermögen. Abgesehen davon, daß die Idee des Meuchelmordes, die Gedanken an eine Hinrichtung mir schrecklich waren, überraschte es mich, daß mein Vater sich über die That von Sand in dem einen Falle tadelnd, in dem andern entschuldigend ausgesprochen, und daß er mir auf meine desfallsigen Fragen abweisend erwidert hatte, ich verstände von der Sache Nichts und solle sie mir aus dem Sinn schlagen, ich könne an etwas Besseres denken. Das war aber leichter gesagt als gethan! Denn wohin man sah, fand man die Bilder von Sand. Auf den einen war er in dem Augenblicke dargestellt, in welchem er die That vollbrachte, und Kotzebue, sich auf die Stuhllehne stützend, zusammenbrach, während Frauen in das Zimmer stürzten; auf andern sah man ihn im Moment der Hinrichtung. Sein Portrait fand man an jedem Ladenfenster auf Pfeifenköpfen, Tabacksdosen, Tassen, kurz überall, wo es sich anbringen ließ, und die Erinnerung an das Ereigniß blieb mir deshalb lange und verwirrend gegenwärtig.

Stärker noch wirkte die Judenverfolgung auf mich ein. Je älter ich geworden war, je mehr hatte ich es gemerkt, wie sorgfältig die Meinen, die Eltern und alle ihre Verwandten, es vermieden, davon zu sprechen, daß wir Juden wären. Einzelne, fremdklingende Worte, von denen ich wußte, daß es jüdische waren, wurden zwischen ihnen hie und da einmal als Verständigung gebraucht, wenn man uns Kindern eine Mitwissenschaft entziehen[142] wollte, aber man sah es nicht gern, wenn wir diese Worte gehört hatten; in Gegenwart der Dienstboten oder fremder Personen bediente man sich ihrer nie, und allen den darauf bezüglichen Fragen wich man jetzt wie früher aus. In der Schule hingegen wurde es mir immer fühlbarer gemacht, daß ich nicht der Allgemeinheit angehörte.

Der Religionslehrer der oberen Klassen, der später so unglücklich bekannt gewordene Prediger Ebel, hatte mir, als ich etwa sieben Jahre alt war, und man mich bei einer Prüfung belobt hatte, einmal in Gegenwart der andern Kinder die Hände auf den Kopf gelegt, und mich dabei »du fromme Tochter Israels!« genannt, was mich und meine Mitschülerinnen lachen machte, weil es von uns in direkte Verbindung mit dem Erzvater gebracht wurde, und uns also höchst komisch erschien. Aber Kinder, und namentlich kleine Mädchen, sind neugierig wie junge Katzen. Einmal auf eine Fährte gebracht, bringt man sie nicht wieder davon ab. Ein Paar Tage neckten sie mich, und amüsirten sie sich mit der Ebel'schen Bezeichnung, dann aber wollten sie ergründen, was sie eigentlich wußten, daß ich keine Christin sei. Ich sollte sagen, bei wem ich getauft sei? und bei wem meine Eltern in die Kirche gingen? und bei wem ich den Confirmanden-Unterricht erhalten würde? – Ich antwortete der Wahrheit nach, und da es lauter gute und wohlgeartete Kinder waren, und wir einander lieb hatten, kamen sie auch bald von ihrer Neugier ab, weil sie sehen mochten, daß sie mich quälten. Mir aber blieb ein Stachel davon in der Seele zurück, und dieser verschärfte sich[143] daran, daß ich zu einigen Mädchen der Klasse, die ich am liebsten hatte, und die mich am liebsten hatten, nicht eingeladen wurde, wenn man ihnen Kindergesellschaft einlud. Zwei von ihnen, ein liebenswürdiges Zwillingspaar, dessen Geburtstag immer in ihrem Elternhause sehr gefeiert wurde, sagten es mir einmal mit Thränen, sie dürften mich nicht einladen und dürften auch nicht zu mir kommen, weil ihre Eltern nicht erlaubten, daß sie mit Juden Umgang hätten. Wir waren alle drei darüber sehr gerührt, und ich sehr unglücklich. Eine ganze Last von Kummer, von Schmerz, von Kränkung lag auf meinem armen achtjährigen Herzen, und ich hätte mich nicht überwinden können, zu Hause ein Wort davon zu sagen. Ich schämte mich und hatte das Gefühl, den Eltern nicht solch ein Herzeleid anthun zu wollen, wie ich es empfand.

Indeß bei der nächsten kleinen Gesellschaft, die man mir einlud, kam die Sache doch zur Sprache. Die Eltern schwiegen, als ich ihnen mein Erlebniß erzählte, aber ich konnte sehen, wie unangenehm es ihnen war, und wenn ich auch sonst aus der Schule und aus der Familie, und an den beiden Töchtern einer englischen Familie, die neben uns wohnte, Spielgenossen genug hatte, so verschmerzte ich meine Lieblinge doch nicht, und die Vorgänge in der Stadt trugen dazu bei, mich immer daran zu erinnern, daß es schlimm sei, ein Jude zu sein.

Wo sich in jener Zeit einzelne Juden oder jüdische Familien sehen ließen, rief man ihnen spottend in den Straßen nach. Gerüchte von Feindseligkeiten, welche in Süddeutschland gegen die Juden verübt worden waren,[144] cirkulirten wohin ich in der Familie kam, und wenn die Eltern sich auch hüteten, uns zu Hause Etwas davon hören zu lassen, so sprach man bei den Tanten und Onkeln um so mehr und um so besorgter davon. Ich vernahm es, wie man in Frankfurt am Main und in Würzburg den Juden die Fenster eingeworfen und ihre Häuser geplündert haben sollte, wie angesehene Männer auf der Straße beschimpft und mißhandelt worden wären, und man war in großer Angst um die in Hamburg lebenden Geschwister meiner Mutter, weil dort der Judenhaß auch sehr groß, und der Pöbel sehr roh sein sollte. Da solche Epochen der Verwirrung in den Geistern der Völker aber epidemisch sind, und sich mittheilen man weiß nicht wie, so waren auch unsere Dienstboten von der Kunde erreicht worden, und der Glaube, daß an irgend einem Tage in Königsberg etwas Unerhörtes gegen die Juden unternommen werden würde, war aus der Kinderstube in mich gekommen. Mein Vater, meine Mutter versicherten, das sei Thorheit, es wäre Nichts von alle dem wahr, was man fable, aber ich erfuhr doch, daß man in der Langgasse eines Abends einem reichen Kaufmann die Fenster eingeworfen habe, und daß dies wahr sein müsse, merkte ich daran, daß man uns Kinder Abends nicht mehr wie sonst, auf den Fenstertritten sitzen ließ, wenn wir bei meinen Tanten waren, die in der Langgasse wohnten, und deren Wohnzimmer nach der Straße gelegen waren.

Von da ab hatte ich den vollständigen Begriff von der Unterdrückung der Juden, von der Ungerechtigkeit, welche man gegen sie beging. Auch das Bewußtsein der[145] gebildeten Juden, aufgeklärter und besser zu sein, als ihre Verfolger, hatte bereits angefangen sich auf mich zu übertragen, und die Juden hatten damals ihr stolzes Selbstgefühl, das man ihnen so oft als Anmaßung und Arroganz vorgeworfen hat, sehr nöthig, wenn sie selbst sich aufrecht erhalten und ihre Kinder tüchtig machen wollten, an der allmähligen Emancipation des Volkes mitzuarbeiten. Viele, welche später in diesem Kampfe am meisten gewirkt, sind in jener Zeit der Judenverfolgung nicht viel älter gewesen als ich, und werden sich ihrer wohl auch erinnert haben. Dem Unterdrückten ist aber sein Selbstgefühl der beste Schild und die sicherste Waffe. Eine Nation und Menschen überhaupt, welche ungerechte Unterdrückung ohne stolze Empörung annehmen und ertragen, sprechen sich selbst ihr Urtheil und gehen an der feigen Demuth vor ihren Verächtern in Ehrlosigkeit unter.

In Königsberg aber ging die Epidemie der Judenverfolgung ziemlich gelind vorüber. Es blieb bei den spottenden Nachrufen, und als man sich damit genug gethan hatte, fand man sich von beiden Seiten äußerlich wieder zurecht. Es kehrte alles in das alte Gleis zurück, und auch wir lebten bis in das Jahr achtzehnhundertzwanzig ganz in der alten Weise fort. Es kamen freilich nicht mehr so viel auswärtige Gäste in das Haus, als in den ersten Jahren deren ich mich zu erinnern wußte, aber im Hause blieb die alte reichliche Lebensweise sich gleich, und nur die Besorgniß um den ältesten Bruder meines Vaters, dessen Kränklichkeit zu einem Lungenleiden geworden war, beunruhigte die Familie.[146]

Er wohnte in dem Hause seiner Schwester Johanna, die ihn auf das sorgfältigste pflegte, und wenn wir deren Kinder besuchen gingen, so wurden wir auch zu dem Onkel gebracht, der sehr blaß aussah, immer magerer wurde, viel hustete, und den ich mir gerade in dieser Zeit am deutlichsten vorstellen kann, wie er in einem braunen Ueberrocke in seinem Zimmer umherging, und die goldene Tabacksdose in der Hand hielt, aus der er häufig schnupfte.

Man fing an von seinem möglichen Tode zu sprechen, in das Comptoir kam er gar nicht mehr, und da er nicht mehr wie sonst nach Warschau und nach Rußland reisen konnte, war mein Vater öfter abwesend. Zuweilen besuchte der Onkel uns noch, aber er war nicht mehr so heiter wie sonst, es kam eine Art von Trübniß über das Haus, die ich schon empfand, ohne jedoch recht zu wissen, was eigentlich um mich her vorging. Der Vater arbeitete am Ende des Jahres bis tief in den Abend hinein mit seinen Leuten im Comptoir; das war aber immer zur Zeit des Jahresschlusses geschehen, und für uns war er immer der Alte. Trotzdem war Etwas anders im Hause geworden, und als zu Anfang des Jahres einundzwanzig im Februar unser kleiner Bruder Heinrich schwer erkrankte, wurde es vollends still. Er war nun beinahe zwei Jahre alt, und die letzten Zähne wollten bei ihm durchbrechen. Davon hatte er ein Paar Mal Krämpfe bekommen, so daß man ihn, um uns den Anblick zu entziehen, von uns getrennt hatte, und während man ihn mit der Kinderfrau in ein sonst unbenutztes Stübchen gebettet hatte, richtete man unten das Wohnzimmer[147] zur Wochenstube für meine Mutter ein, die ihre sechste Niederkunft erwartete.

In der Nacht zum sechszehnten Februar wurde meine Mutter von einem Knaben entbunden. Sie hatte unsern kleinen Heinrich in seinen furchtbaren Krämpfen verlassen müssen, am Morgen nach ihrer Entbindung starb das arme Kind.

Uns seinen Tod zu verheimlichen war nicht möglich, aber man ließ uns ohne das nicht in das Zimmer der Mutter hinein, und auch den todten Bruder bekamen wir nicht zu sehen. Man sagte uns, er sähe sehr entstellt aus, und versuchte uns in unsern bittern Thränen damit zu trösten, daß wir ja einen neuen Bruder bekommen hätten, der uns den Heinrich ersetzen würde.

Das half uns aber gar Nichts. Der Vater sah todtenblaß aus, das ganze Haus war uns unheimlich. Fremde Männer, alles Juden, alle schwarz gekleidet, kamen in Heinrich's Stube, die Todtengebete zu halten. Durch das Thürfenster der Kinderstube konnten wir sehen, daß in der gegenüberliegenden Stube, in der die kleine Leiche stand, am Abend ein Licht brannte, und daß ein fremder Mann neben dem Lager saß. Wir erinnerten uns, wie der kleine Bruder drollig mit dem Stock geschlagen, wir machten ihm nach, wie er »Hund« geschimpft, wenn er böse gewesen war, und so nahte sich der dritte Tag, an dem er beerdigt werden sollte.

Es war früh am Vormittag als die Wagen vor die Thüre fuhren. Wir standen oben, zwei Treppen hoch, in der Kinderstube am Fenster, als die Schritte der schwarzen Männer auf der Treppe verhallten, die man[148] mit Decken belegt hatte, damit meine Mutter kein ungewöhnliches Geräusch vernehmen sollte. Wir sahen den Vater in den Trauerwagen steigen, sahen den Wagen mit dem Brüderchen fortfahren, und aufgelöst in Schmerz, wie wir es Alle waren, lief einer meiner Brüder, da die Kinderfrau, selbst weinend, uns nicht beachtete, aus dem Zimmer, hinunter zu meiner Mutter, und stürzte sich mit dem Ausruf: Mutter! Mutter! jetzt fahren sie mit unserm Heinrich fort! über das Bett derselben.

Meine Mutter erkrankte von dem Augenblicke ab auf das gefährlichste. Unser kleiner Neugeborner, den sie selbst nährte, wurde das Opfer ihres Schreckens. Er starb an seinem achten Lebenstage, und man trug ihn in seiner Wiege in dasselbe Zimmer, in welchem eben erst die andere kleine Leiche gestanden hatte. Er sah mit seinen runden Bäckchen und den geschlossenen Augen wie ein schönes Wachsbild aus; aber die Kälte seiner Hände und seiner Wangen flößte mir ein unaussprechliches Entsetzen ein. Es war der erste Todte, den ich sah.

Man begrub auch ihn am dritten Tage. Am vierundzwanzigsten Februar, am Hochzeitstage meiner Eltern, starb der Onkel. Mein Vater war in dem Zeitraum von acht Tagen dreimal auf dem Kirchhofe, er begrub in einer Woche seinen ältesten Bruder, zwei von seinen Söhnen, und die Frau, an der sein ganzes Herz hing, lag auf den Tod darnieder. »Bleibt Ihr mir nur leben!« sagte er, indem er uns mit schwerem Seufzer küßte, als er das letzte Mal vom Kirchhof kam. Ich empfand seine Klage, seinen Schmerz und unsere Verluste ganz vollkommen.[149]

Meiner Mutter Zustand war durch einige Wochen hoffnungslos, meines Vaters Lage furchtbar. Schon seit Monaten hatte der Bankerott einiger russischen Häuser, mit denen er in Verbindung stand, seinen eigenen Fall in Aussicht gestellt, und nur mit Mühe war es ihm möglich gewesen, das Hereinbrechen dieses Mißgeschicks hinauszuschieben, so lange sein Bruder lebte. Länger ließ es sich nicht verbergen, daß er zahlungsunfähig sei, er mußte sich bankerott erklären, und auch er verlor, bei der damals weit verbreiteten Handelskrise, sein Vermögen.

Wir Kinder, ich und mein ältester Bruder, gingen in die Schule wie sonst, es waren auch die gewohnten Personen, die uns bedienten, aber es war nicht mehr dasselbe Haus. Fremde Aerzte und Krankenwärterinnen gingen darin umher, wir aßen unten in dem kleinen Entree, in dem es viel zu eng war, und der Vater sah nicht kenntlich aus. Eines Abends, als wir Kinder schon in den Betten lagen, und mein Vater uns schlafend glaubte, kam er in die Kinderstube herein, und hatte einige Kleidungsstücke von sich über den Arm gehängt, die er unserer alten Anne hinreichte. »Trage Sie das morgen zum Schneider,« sagte er kurz, »er soll alles vier Finger breit enger machen. Es hängt mir auf dem Leibe und ich will nicht, daß Madame es sieht!« –

Er ging hinaus, nachdem er uns noch der Reihe nach betrachtet hatte, ich lag ganz still, und weinte bitterlich bis ich einschlief.

Meiner Mutter Krankenlager währte vier Monate. Der Schreck hatte ihr die Milch in den Körper zurückgetrieben,[150] es bildeten sich Geschwüre, ein Paar Mal wurden Operationen nöthig, und als sie endlich im Sommer auferstand, war ihr linker Arm steif und gekrümmt, und blieb es fast das ganze Jahr hindurch.

Am vierundzwanzigsten März, an meinem neunten Geburtstage, war meine Mutter noch gefährlich krank. Sie hatte in allen ihren Leiden aber doch an den Tag gedacht. Man hatte mir in der Kinderstube einen Kuchen und ein Paar andere Dinge bescheert und aufgebaut, und ich war wie immer an diesem Tage nicht in die Schule gegangen. Gegen Mittag ließ sie mich in ihre Stube kommen, wie sie sich die Kinder immer holen ließ, wenn die Schmerzen ihr nur irgend ein Bewußtsein gestatteten. Das Zimmer war sehr verdunkelt, hinter grünen Schirmen stand ihr Bett.

Sie winkte der Krankenwärterin fort zu gehen, und ließ mich auf ihr Bett sitzen, wobei sie mir die Hände hielt. Ich war unbeschreiblich traurig. Nach einer Weile nahm sie von dem Tischchen, das ihr zur Seite stand, ein Papier. Es lagen ein Paar goldene Ohrringe darin, die sie mir gab, und die ich mir einziehen mußte. »Die sollst Du nun immer,« sagte sie, »zu meinem Andenken tragen. Und wenn ich sterbe, – Du bist die Aelteste, sei nur recht gut zu den Kindern und zum Vater!«

Es fiel wie ein Schlag auf mich hernieder. So krank die Mutter war, so sehr ich Alle in Sorgen um sie gesehen hatte, an ihren Tod hatte ich zwar gedacht, aber ich hatte nicht an denselben geglaubt. Nun stand die entsetzliche Möglichkeit plötzlich vor mir, als müßte sie[151] gleich eine Wahrheit werden, und lähmte mich in dem Augenblicke völlig. Ich konnte Nichts sagen, ich konnte auch nicht weinen, bis die Mutter mich zu sich zog und küßte und ich in solches Schluchzen ausbrach, daß die Wärterin mich hinausführte.

Von der Stunde ab, so froh ich später auch noch spielen konnte, war ich doch kein Kind mehr. Ich hatte einen neuen Zusammenhang mit den Meinen, und für meine Vorstellung ein neues Verhältniß zu ihnen bekommen. Ein gutes Beispiel für meine Geschwister zu sein, hatte man mich immer ermahnt; jetzt kam mir der Begriff, daß eine älteste Tochter die Stütze der Familie sein müsse. Ich gewann dadurch eine Bedeutung für mich, und der Vorsatz, gut und wo möglich auch recht brauchbar zu werden, faßte selbstständig Wurzel in mir.[152]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 1, Berlin 1871, S. 137-153.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Meine Lebensgeschichte
Meine Lebensgeschichte (1; V. 3); Von Fanny Lewald
Meine Lebensgeschichte (2-3); Von Fanny Lewald
Meine Lebensgeschichte (1)

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Ein Spätgeborner / Die Freiherren von Gemperlein. Zwei Erzählungen

Ein Spätgeborner / Die Freiherren von Gemperlein. Zwei Erzählungen

Die beiden »Freiherren von Gemperlein« machen reichlich komplizierte Pläne, in den Stand der Ehe zu treten und verlieben sich schließlich beide in dieselbe Frau, die zu allem Überfluss auch noch verheiratet ist. Die 1875 erschienene Künstlernovelle »Ein Spätgeborener« ist der erste Prosatext mit dem die Autorin jedenfalls eine gewisse Öffentlichkeit erreicht.

78 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon