Dreizehntes Kapitel

[234] Einige Wochen nach meinem vierzehnten Geburtstage wurde meinen Eltern ihr letztes Kind geboren, und dieses Ereigniß machte zugleich den Merkstein für meinen Eintritt in das praktische Leben.

Bei den frühern Entbindungen meiner Mutter hatte man eine Haushälterin angenommen, diesmal sollte ich das Amt einer solchen verrichten, und ich übernahm es mit Zagen. Meine Mutter hatte mich in der vorhergehenden Zeit zu dem Nothwendigen angewiesen, aber sie hatte immer gefürchtet, daß ich nicht mit meinen Obliegenheiten zurechtkommen würde, und es war mir daher in doppeltem Sinne sehr bange, als sie sich eines Morgens niederlegen ging, und ich nun dastand mit der Angst um sie, mitten in einer großen Familie, mitten in einem Hause, in welchem Jeder an die Sicherheit und Erfahrung einer reifen Frau gewöhnt war, und in dem jetzt Alle plötzlich auf mich allein angewiesen sein sollten.

Mein Vater brachte mir aus der Schlafstube der Eltern den Schlüsselkorb meiner Mutter heraus, und während ihm selbst gewiß nicht leicht um's Herz war, sagte er freundlich ermuthigend: »habe nur Courage! wem Gott ein Amt giebt, dem giebt er auch Verstand. Vor Allem halte die Kinder ruhig!« – Er küßte mich dabei[234] auf die Stirne, und mir kam damit die Zuversicht, daß es gehen werde, weil es gehen müsse. Und es ging auch, obschon die Leitung eines solchen Hauswesens damals keine leichte Aufgabe für mich war.

Unser Hausstand umschloß in jenem Augenblicke siebzehn Menschen: die Eltern, acht Kinder, von denen die vier jüngsten einander fast Jahr auf Jahr gefolgt, und also noch alle völlig hilfsbedürftig waren, drei Commis, einen Lehrling, eine Köchin, die alte Kinderfrau, welche zur Wartung der kleinen Schwestern wieder zu uns zurückgekehrt war, und endlich eine Amme. Das war ein Personal, welches eine Menge von Bedürfnissen hatte, und das um so schwerer zu versorgen war, als man damals in den bürgerlichen Haushaltungen, die sich wie wir einzuschränken und genau über ihre Ausgaben zu wachen hatten, noch eine Art von Wirthschaft führte, die in großen Städten nicht anwendbar ist, und auch in Königsberg vielleicht jetzt nicht mehr üblich sein mag. Sie war insofern sehr vernünftig, als sie den Grundsatz festhielt, daß es vortheilhaft sei, im Großen und Ganzen zu kaufen, wo die Billigkeit des Raumes Aufspeicherung gestattet; aber man hegte daneben das unzweckmäßige Verlangen, Alles, was irgend möglich war, im Hause selbst zu fabriziren. Man richtete sich ein, als lebte man auf dem Lande, und nahm alle Mühen über sich, welche die Entfernung von der Stadt der Landwirthin auferlegt, während man die Dienstboten und Lebensmittel mit städtischen Preisen bezahlen mußte.

Freilich waren der Lohn der Dienstboten und die Preise der Lebensmittel damals verhältnißmäßig noch sehr[235] gering. Eine Köchin erhielt je nach ihren Leistungen achtzehn bis vierundzwanzig, ein Stubenmädchen nicht über zwanzig Thaler Gehalt, und daß die Eltern der Kinderfrau, um sie für ihre langjährigen Dienste zu belohnen, und sich die treue und verläßliche Person für die Kinder zu sichern, dreißig Thaler zahlten, das wurde von der Familie als eine in unsern Verhältnissen fast unerhörte Ausgabe betrachtet. War das Jahr gut, so zahlte man für den Scheffel Kartoffeln zehn Silbergroschen, hatten wir Theurung, so konnte er bis zu vierzehn steigen. Kaufte man ein fettes halbes Kalb, so galt das Pfund im Durchschnitt ein zwei drittel, bis zwei ein halb Groschen, der Werth der übrigen Fleischarten war entsprechend. Ein Huhn bezahlte man mit fünf bis sieben ein halb Groschen, junge Hühner im Sommer, wenn man sie noch eine Weile füttern wollte, mit zwei ein halb, Gänse mit vierzehn Groschen. Zum Preise von zwei ein halb Groschen konnte man durch die Sommerzeit auch eine Mandel Eier haben, ein Pfund Butter galt fünf Groschen und die Fische und das Obst waren sehr billig. – So allein war es aber auch möglich, daß ein Hausstand wie der unsere durch das ganze Jahr mit siebenzig Thalern monatlich, welche mein Vater dafür ausgesetzt hatte, seinen völligen Bedarf an Lebensmitteln und Beleuchtung, den Zucker abgerechnet, bestreiten konnte, während doch ab und zu Gäste in das Haus kamen, und noch eine Menge kleiner Ausgaben und Reparaturen von der ausgesetzten Summe gedeckt werden mußten.

Eine ordentliche Königsberger Familie legte sich also im Herbste ihre zehn, zwanzig Scheffel Kartoffeln in den[236] Keller. Einige Scheffel Obst wurden im Sommer geschält und aufgereiht und bei dem Bäcker getrocknet, Pflaumen- und Kirschmus im Hause gekocht. Von allen Gemüsearten wurde der nöthige Vorrath im Herbste für das ganze Jahr angeschafft, und in Beeten von grobem Sand, je nach ihrer Art, in den Kellern untergebracht, was man Einkellern nannte. In gleicher Weise wurden ganze Fässer voll Sauerkohl und Gurken, Töpfe voll rother Rüben und marinirter Häringe eingemacht, der feineren Früchte und der für Krankheitsfälle nöthigen Gelees und Fruchtsäfte nicht erst zu gedenken. Selbst Kamillen, Hollunder und Kalmus wurden für vorkommende Fälle im Sommer von den Kräuterleserinnen gekauft und als Vorrath für den Winter aufbewahrt.

Aber das genügte noch nicht. Allwöchentlich wurde das Roggenbrod zu Hause angeteigt, mußte zu Hause säuern und besonders bei dem Bäcker gebacken werden. Gab es einen Geburtstag oder ein Fest, so wurde der Kuchen im Hause gebacken. Die Milch kaufte man, wie sie von der Kuh kam, um selbst die Sahne abzuschöpfen, das Bier ließ man in Fässern kommen und füllte es selbst auf Flaschen. Wurst wurde, wenn man es haben konnte, wenigstens einmal im Jahre im Hause gemacht, Schinken und alle Pöckel- und Rauchfleischwaaren galten für besser, wenn sie nicht vom Schlächter besorgt waren. Um sich vortheilhafter einzurichten, kaufte man je nach der Jahreszeit halbe Hämmel, halbe Kälber und halbe Schweine. Daß bei solchen Ansichten alles Federvieh im Hause gemästct, im Hause gerupft wurde, daß man die Federn sammelte und sie schleißen ließ, und daß also[237] natürlich auch Alles was irgend möglich war, im Hause gestrickt, genäht und geschneidert wurde, braucht nicht erst erwähnt zu werden. Die Grille der Selbstfabrikation ging so weit, daß man die Töchter nicht nur im Schneidern und Putzmachen unterrichten ließ, was insofern sehr vernünftig war, als es uns geschickt und unabhängig machte, sondern man ließ eine Zeit hindurch auch Schuhmacher in die Familien kommen, um das Schuhmachen zu lernen, um die Damen- und Kinderschuhe im Hause verfertigen zu können.

Wahr ist's, solch ein Haushalten im Großen und Ganzen hatte seine Reize. Es lag ein Vergnügen in dem weiten Voraussorgen, wenn man die Mittel hatte, ihm zu entsprechen. Die gefüllten Speisekammern und Keller mit ihren Steintöpfen, Fässern, Kasten und Schiebladen waren hübsch anzusehen. Das Backobst auf den Schnüren, der Majoran und die Zwiebeln verliehen, im Verein mit den Gewürzen, der Speisekammer einen prächtigen Duft, das aussprossende Gemüse in den Kellern roch vortrefflich. Man hatte ein Gefühl des Behagens, wenn nun Alles beisammen war. Nun konnte der Winter in Gottes Namen kommen! Der Besuch eines unerwarteten Gastes genirte auch nicht im Geringsten. Wie überall, wo man aus dem Vollen wirthschaftet, war man eher geneigt, einmal Etwas daraufgehen zu lassen; und für die Kinder gab es bei all dem Backen und Obsttrocknen, Einkellern, Einkochen und Wurstmachen vielerlei Vergnügen, auf das man sich im Voraus freute. Die Männer bezahlten in vielen Fällen diese Art der Wirthschaft nur mit mehr Geld als nöthig, die Frauen mit[238] einem Aufwande von Kraft, der oft weit über ihr Vermögen ging, und zu irgend einem nicht auf den Haushalt und die Familie bezüglichen Gedanken blieb Denjenigen, die wie wir bei Allem selbst Hand anlegen mußten, wenn ihr Sinn nicht entschieden auf Höheres gerichtet war, kaum noch Zeit übrig. –

Daß nach diesen Angaben eine Königsberger Familie viel Raum haben mußte, daß Keller, Boden, Kammern und ein Hof unerläßlich, daß mehr Dienstboten dafür nöthig waren, versteht sich von selbst. Rechnet man nun noch die fanatische Reinlichkeit meiner Landsmänninnen dazu, für die es damals ein Dogma war, alle Zimmer wöchentlich einmal scheuern zu lassen, eine Gunst, welche den Fluren und Treppen zweimal in der Woche widerfuhr; rechnet man dazu, daß die Spiegel und sogar die Fenster, so lange die Kälte dies bei den Letztern nicht unmöglich machte, wöchentlich geputzt, die Stuben jeden Morgen feucht aufgewischt, und nach dem Mittagessen, wo es thunlich war, noch einmal gekehrt und abgestäubt wurden, so entstanden mit dem nothwendigen Reinhalten der Küche, der Kammern und des vielen für alle diese Vorräthe nöthigen Geschirres, eine nicht endende Arbeit und Unruhe, und eine Atmosphäre feuchter Reinlichkeit, in welcher Orchideen und Wasservögel, je nach der Jahreszeit, eigentlich besser an ihrem Platze gewesen wären, als wir armen Menschenkinder.

Rastlos wie die Frauen es auf diese Weise wurden, waren es die weiblichen Dienstboten noch viel mehr, und alle Theile klagten gelegentlich darüber. Indeß wer es den damaligen Hausfrauen – ich spreche von einer Zeit,[239] die über ein Menschenalter hinter uns liegt – zugemuthet hätte, irgend einer ihrer wirthschaftlichen Gewohnheiten zu entsagen, wer ihnen zugemuthet hätte, ihr Brod vom Bäcker, ihr Backobst vom Kaufmann, ihren Bedarf an eingesalzenem Fleische von einem Schlächter zu beziehen, den hätten sie als einen Ketzer angesehen, als einen Frevler, der ihre hausfraulichen Pflichten beschränken wolle, um ihrer Würde und Bedeutung damit Abbruch zu thun, und so das Glück der Ehen und der Familien allmählig zu untergraben.

Sie gaben zu bedenken – und dies mit einem Schein von Recht – daß außer dem Hause Alles schlechter und theurer sei als in dem Hause, aber sie brachten dabei die Kosten der großen Wohnung, des Dienstpersonals, der Feuerung, und den Werth der Zeit nicht im Detail in Anschlag, die im Hause auf die fraglichen Gegenstände gewendet worden waren. Sie vergaßen ferner, daß ihre Vorurtheile es den Verkäufern unmöglich machten, sich auf einen Verkauf im Großen einzurichten, und daß keine Konkurrenz den Preis der Waare ermäßigen kann, wo man entschlossen ist, keine Nachfrage nach Waare zu machen. Erleben wir doch jetzt nach dreißig weitern Jahren ganz dasselbe, wenn man es der Mehrzahl der Frauen begreiflich machen will, daß es für den Unbemittelten nicht zweckmäßig sei, an ein spärliches Mittagbrod ein eigenes Feuer und die Arbeit eines besonders dafür bezahlten Mädchens zu wenden, und – war ich doch selbst, so lange ich in meinem Vaterhause haushielt, von dem Glauben an die nicht zu übertreffende Zweckmäßigkeit unserer Königsberger Einrichtungen überzeugt.[240] Es giebt aber freilich auf der Welt nichts Beschränkteres, und also auch nichts Eigensinnigeres als die Frauen, wenn sie, statt sich ihrer Vernunft zu bedienen, sich hinter die Schranken der geheiligten Gewohnheit zurückziehen. Sie machen dann die Gewohnheit zur Sache der Empfindung und des Herzens, ihre Vorurtheile zum Symbol des Familienglückes, ja zum Palladium der ganzen socialen Lebensordnung; und so lieb mir auch heute das hausfrauliche Walten und Sorgen im eigenen Hause und am eigenen Heerde ist, weil unsere Vermögenslage mir gestattet, einen Theil meiner Zeit dafür zu verwenden, so bin ich doch froh darüber, daß der häusliche Heerd mir nicht mehr ein wesentlicher Bestandtheil des Familienglückes, und der Kochlöffel in der Hand der Hausfrau nicht mehr als das Symbol ihrer Würde, oder gar als das Scepter erscheint, mit welchem bewaffnet das Weib allein seine Stelle als Gattin, Mutter und Hausfrau behaupten und seine Pflichten erfüllen kann. Es ist aber keine Frage, daß die Frauen ihren Pflichten auch genügen können werden, wenn wir einmal zu guten und allein vernunftgemäßen allgemeinen Kochanstalten kommen sollten, wie wir ja zu den Bäckern, Brauern, Conditoren u.s.w. schon gelangt sind.

Ich habe mein Leben hindurch eine Lust darin gefunden, Schwierigkeiten zu bekämpfen, denen ich mich gewachsen glaubte. Ehrgeiz und Thätigkeitstrieb kamen mir dann zu Hilfe, und ich fühlte mich dabei munter und zuversichtlich. Zu dieser Stimmung, welche sich bei mir einstellte, nachdem meine jüngste Schwester geboren, und die Noth und Gefahr für meine arme Mutter überstanden[241] war, gesellte sich damals die Freude, für die Mutter zu sorgen, dem Vater, den Geschwistern und den Hausgenossen es an keinem Nothwendigen fehlen zu lassen, und die Genugthuung, es den Eltern beweisen zu können, daß ich nicht unpraktisch und nicht unnütz sei.

Ich war mit Bangen und mit Zagen an mein Amt gegangen, nach den ersten acht Tagen aber fühlte ich mich bei der Arbeit frischer und glücklicher als je zuvor, obschon sie mir sowohl körperlich als geistig schwer fiel. Mein Vater hat mich in spätern Tagen gern damit geneckt, daß er mich eines Tages in stillen Thränen vor dem großen Wäschschrank gefunden, weil ich, auf einem Stuhle stehend, mit dem Heben der schweren Tischgedecke nicht fertig werden konnte, und doch Niemand rufen wollte, um meine Schwäche und mein Ungeschick nicht den mir untergebenen Dienstboten zu verrathen. Ich war vierzehn Jahre alt.

Aber die Kraft übte sich allmählig, ich war dazu plötzlich meinen trocknen Stundenplan los geworden, meine Mutter war mit mir zufrieden, mein Vater hatte sichtliche Freude an meinem Gelingen, und meine kleinen Schwestern, die mir bis dahin, trotz aller meiner Liebe für sie, doch oft recht unbequem gewesen, wuchsen mir anders als vorher in's Herz, seit sie die Gegenstände meiner Sorge und Mühe waren.

Dazu war es Frühjahr, das Wasser floß funkelnd unter unsern Fenstern hin, und warf seine Reflexe an die Decke unserer Zimmer, Schiffe kamen und gingen, die ersten gelben Glockenblumen und Himmelschlüsselchen konnten meiner Mutter in ihre Wochenstube getragen werden, mit dem ersten kleingeschnittenen Kalmus, mit[242] den ersten frischen Tannensprossen konnten wir ihr, die diesen Duft liebte, Guirlanden um die Schränke und Tische legen, das Kind in der Wiege trug das Häubchen und das Jäckchen, das ich vor seiner Geburt für dasselbe gemacht, und wie oft ich an jenes Frühjahr denke, immer erscheint es mir als ein besonders angenehmes. Das hat aber seinen guten Grund: ich genoß in demselben zum ersten Male die Freuden einer werkthätigen Liebe, zum ersten Male die Kräftigung, welche selbstständiges Handeln uns mit seiner Verantwortlichkeit auferlegt.

Dadurch fühlte ich mich aber auch als ein erwachsenes Frauenzimmer, und als nähmen mit diesem Bewußtsein meine körperlichen Kräfte ebenmäßig zu, so fing ich an schnell zu wachsen, wurde stärker, bekam Farbe, und sah, wie man das bei uns mit dem Volksausdruck bezeichnet, bald so vollständig aus, daß es nicht mehr möglich war, mir die Rolle eines halberwachsenen Mädchens aufzudringen, die mir, wie alle Halbheit, immer unbequem gewesen war.

Auch der Sommer, welcher diesem Frühjahr folgte, ist mir in der Erinnerung lieb geblieben. Die mir zusagende Thätigkeit im Hause hörte zwar mit der Genesung meiner Mutter fast gänzlich auf, obschon mein Vater sie mir zu belassen wünschte, und obschon dies für die Mutter, die ihre Kräfte sehr zu schonen, und für mich, welche die ihren zu entwickeln und zu verarbeiten nöthig hatte, gleich vortheilhaft gewesen wäre. Indeß die Mutter, welche in der Bewältigung des Haushaltes ihre eigentliche Stärke und ihr eigentliches Element besaß, konnte den Gedanken nicht ertragen, daß sie, wenn sie mich die Wirthschaft weiter selbstständig fortführen ließ, ihre Ueberlegenheit[243] über mich auch in diesem Punkte allmählig verlieren könnte. Sobald sie es daher im Stande war, nahm sie mir das Regiment wieder ab, und da sie obenein die Gewohnheit hatte, Alles, was Andere in ihrem Auftrage gemacht hatten, der Sicherheit wegen noch einmal nachzusehen, so verdarb sie mir die Lust, irgend Etwas zu thun, weil ich mich des Gedankens nicht erwehren konnte, daß sie es auf diese Weise eben so gut hätte selbst machen können. Dies ängstliche Mißtrauen in die Leistungen Anderer ist aber sowohl bei Männern als bei Frauen ein sehr gewöhnlicher Fehler, dem natürlich der Glaube an die unerreichbare Vortrefflichkeit der eigenen Leistungen zum Grunde liegt. Alle jene Klagen über die Unanstelligkeit und Unzuverlässigkeit von Untergebenen, denen man in so vielen Verhältnissen begegnet, sind in der Regel darauf zurückzuführen. Bestimmt zu befehlen, sich auf die Ausrichtung der Untergeordneten zu verlassen, und diese verantwortlich zu machen für das Versäumte und Fehlende, scheint etwas so Natürliches für Jeden zu sein, der einer Gesammtheit vorzustehen hat, und doch verstehen dies so Wenige, weil eben in den meisten Fällen – die Eifersucht sie verhindert, sich für ersetzbar anzusehen.

Hätte ich mit vierzehn Jahren die Einsicht und die Duldsamkeit gehabt, welche ich zwanzig Jahre später besaß, so würde ich überall bereitwillig geholfen haben, wo meine Hilfe irgend etwas nützen konnte, ohne eine Anerkennung dafür zu begehren. Aber ich hielt damals meine kleinen Hilfsleistungen, die auch wirklich nur Handlangerdienste waren, für einen Zeitverderb. Ich wollte, wie schon gesagt, Nichts thun »wobei Nichts herauskam«, und weil[244] ich es doch thun mußte, that ich es unlustig, so daß meiner Mutter immerwährende Klage, ich sei verdrießlich, sobald ich Etwas leisten solle, vollkommen begründet war – wenn schon ich mich heute wie damals lange nicht so schuldig daran fühlte, als ich ihr erschien. Was aber die Sache noch verschlimmerte, war, daß mein Vater jetzt, wie früher, der Mutter in ihrem Tadel gegen mich Recht gab, während ich deutlich empfand, daß er mit seiner Ueberzeugung durchaus auf meiner Seite stand.

Dadurch bildete sich schon in jener Zeit eine Art von schweigendem Einverständniß zwischen mir und meinem Vater, und grade dieses verletzte und verstimmte meine Mutter, die das bald herausfühlte, nur noch mehr. Sie wußte, wie sehr mein Vater sie liebte, sie liebte auch mich sehr, aber die Ahnung, daß mein Vater eine Seite in seinem Wesen habe, der sie nicht entspräche, die wachsende Vermuthung, daß ich diese Lücke einst ausfüllen könne und werde, machten sie unglücklich, und gaben ihrem Verhalten gegen mich oft eine Gereiztheit, die ich ungerecht fand, und die mir durch meine ganze Jugend, ja durch mein ganzes Leben das Verhältniß zu meiner Mutter vollends getrübt hat, zu der alle meine fünf jüngern Schwestern und meine Brüder eine rechte Kindesliebe besaßen und besitzen konnten.

Wenn ich mich amüsirte, wenn ich an Vergnügungen, an Putz, an Menschenverkehr Freude zeigte, war die Mutter immer mit mir zufrieden. Sie fand mich dann mädchenhaft und natürlich; und ich hätte ihr und mir manche trübe Stunde sparen können, wäre ich klug oder unwahr genug gewesen, die ernstere Seite meiner Natur,[245] welche sie als »männlich und schroff« bezeichnete, vor ihr mehr zu verbergen.

Im Ganzen aber hatte ich, seitdem ich einmal den Haushalt geführt, doch mehr Freiheit für die Wahl meiner Beschäftigung gewonnen, wenn ich meine Näh- und Strickarbeit für das Haus und meine Musikübungen erst abgethan hatte. Ich brauchte nicht mehr in bestimmten Stunden »die alten Schulbücher« durchzustudiren, ich konnte von historischen und ähnlichen Werken in meinen Mußestunden lesen, was ich mir verschaffen konnte, und ich hatte eben so freie Wahl unter den Romanen von Scott, die mein Vater gleichzeitig mit mir, und mit eben solcher Spannung las, als ich.

Nun wir wieder im Kneiphof wohnten, und ich auch eher allein ausging, kam ich öfter zu meiner jüngsten Tante, der Schwester meines Vaters, hin, die gegen ihre Neigung mit einem vermögenden aber ungebildeten Kaufmann verheirathet und sehr unglücklich in ihrer Ehe war. Sie hatte eben so viel Verstand als Bravheit und Herz, und viel Empfindung für Poesie; und da sie daneben eine hübsche Bibliothek besaß, aus der ich, wenn ich sie besuchte, selbst wählen konnte, was ich ihr vorlesen wollte, so ging ich gern zu ihr, und ihr Andenken knüpft sich für mich an manchen poetischen Eindruck aus jener Zeit.

Mein Vater hatte unter den Goethe'schen Dramen eine besondere Vorliebe für die natürliche Tochter. Es war daher auch eines der ersten, welche ich gelesen, und zwar ihm selbst zum großen Theile vorgelesen hatte. Er hatte mich die hohe und einfache Schönheit der Sprache bewundern lassen, die ich selbst empfand, aber er hatte[246] meine Aufmerksamkeit auch bei dem Stoffe und bei dem Ausgang der Dichtung festgehalten, und mir den Charakter Eugenien's als einen solchen gerühmt, der sich zu entscheiden und zu bescheiden wisse, was für Frauen doppelt unerläßliche Eigenschaften, und recht eigentlich Tugenden wären.

Mich ließ das Drama gänzlich kalt. Die langen Gespräche, bei denen nach meiner Meinung Alles nur darauf hinaus lief, daß ein unglückliches Mädchen sich ohne seine Neigung verheirathete, zogen mich nicht an, und da die Jugend und das reife Alter sehr verschiedene Ideale haben, und die Jugend sich glücklicher Weise noch nicht auf sittliches Transigiren versteht, so flößte mir meines Vaters Ideal von Weiblichkeit, so flößte mir Eugenie mit ihrer Resignation eigentlich nur Widerwillen ein. Ich hätte es viel natürlicher gefunden, daß sie ihr Vaterland verließ, als daß sie sich ohne Liebe verheirathete, und zwar auf die ungewisse Möglichkeit hin, einmal im Vaterlande den Verwandten nützen zu können, welche sie verstoßen hatten.

Als ich das gegen den Vater aussprach, tadelte er mich, indem er mir sagte, er bedaure es, daß er mich das Drama habe lesen lassen, ich verstände es offenbar noch nicht. Aber die Einsicht in den hohen Werth desselben werde mir mit den Jahren kommen, und er könne sich deßhalb vorläufig die Erklärung sparen. Er hatte offenbar damit die Absicht gehabt, meine Wißbegier anzuregen, und mich zu wiederholtem Lesen der Dichtung zu veranlassen. Indeß sie mißfiel mir so gründlich, daß seine Absicht fehl schlug. Und der heimliche Gedanke, meines[247] Vaters Vorliebe für Eugenie rühre hauptsächlich von seiner Ansicht her, daß jede Frau sich verheirathen müsse, und daß eine Frau, je gebildeter sie sei, sich auch um so würdiger in eine ihr nicht angemessene, ja unerwünschte Ehe schicken könne, machte mir die Resignation der natürlichen Tochter noch viel widerwärtiger.

Eines Tages, als ich bei meiner Tante war, brachte ich das Gespräch auf Eugenie, und darauf, daß der Vater sie und ihren Entschluß so erhaben fände. Die Tante hörte mir mit ihrem freundlichen und traurigen Gesichte zu, und sagte dann ganz kurz: laß Dir doch nichts einreden! Das sagen sie so, weil es ihnen bequem ist!

Das hatte ich eigentlich zu hören erwartet, aber die Tante brach plötzlich ab, als ihr Mann hereintrat, der, in Erscheinung, Sprache und Manier gleich unangenehm, irgend Etwas von ihr begehrte. Als er fortgegangen war, sagte sie: Es ist Unsinn zu behaupten, daß eine Frau sich an Etwas gewöhnen könne, was ihr abstoßend ist. Habe ich mich denn an mein Loos gewöhnt? Ich wußte, das ich mein Todesurtheil unterzeichnete, als ich mich verheirathete, und ich habe es ihnen gesagt. Aber sie haben mir Alle zugeredet, Alle – nun bedauern Sie mich Alle!

Sie hatte das mit einer ihr ganz fremden Bitterkeit gesprochen, und die Anklage, welche sie mit ihren Worten gegen ihre von ihr sehr geliebten Brüder, gegen den verstorbenen Onkel und gegen meinen Vater aussprach, von denen sie, wie ich wußte, mit dringenden Ueberredungen zu ihrer Heirath genöthigt worden war, fiel mir schwer auf das Herz. Mehr noch erschreckte mich der[248] plötzliche deutliche Blick auf das Unglück meiner Tante, das übrigens kein Geheimniß war, so geduldig sie es auch trug; und der Gedanke, daß man mir einst Aehnliches zumuthen könne, bestürzte mich vollends.

An jenem Tage aber, in meinem fünfzehnten Jahre, faßte ich den festen Entschluß, mich nie zu einer Heirath überreden zu lassen, und mich nie anders als aus voller Ueberzeugung und Liebe zu verheirathen. An jenem Tage entwickelte sich mir zum ersten Male ganz vollständig die Vorstellung, daß das Kind auch seinen Eltern gegenüber Rechte habe, es entwickelte sich in mir der Begriff meiner angebornen Selbstständigkeit auch meinem Vater gegenüber, den ich vorher nie zu denken gewagt haben würde, und meine Ideen richteten sich damit, wie mit einem Zauberschlage, über die Schranke des Hauses und der Familie, weit hinaus in eine eigene Zukunft und in eine weite Welt.

Auch die Ueberzeugung, welche das Motiv zu manchen meiner Dichtungen geliefert hat, erwuchs in jener Stunde; wie denn überhaupt die Kindheit und die Jugend darum der Betrachtung so werth sind, weil in ihnen alle jene Keime verschlossen liegen, aus denen später die Ueberzeugungen und der Charakter eines Menschen sich entwickeln und zusammensetzen. Denn Welt und Menschenverkehr und Leben erzeugen in uns nicht sowohl ein Neues, als sie vielmehr nur entwickeln und festigen, was in uns beim Austritt aus der Kindheit schon erschaffen und vorhanden war.[249]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 1, Berlin 1871, S. 234-250.
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