Siebenzehntes Kapitel

[293] Meine Brüder zählten etwa dreizehn und fünfzehn Jahre, als mein Vater mich und sie eines Tages in das Wohnzimmer kommen ließ, um uns die Anzeige zu machen, daß er beschlossen habe, die beiden Söhne zum Christenthume übertreten zu lassen. Wir waren Alle gleichmäßig davon überrascht: ich, weil ich von dem Uebertritte ausgeschlossen werden, die Brüder, weil derselbe vor sich gehen sollte, ohne daß davon mit ihnen zuvor die Rede gewesen. Meine Mutter, der ein heißer Wunsch damit erfüllt wurde, und die ihren vollen Antheil an dem Beschlusse hatte, schien sehr erfreut. Als wir Kinder aber die erste Bestürzung überwunden hatten, erklärte der älteste Bruder sehr bestimmt, er wolle nicht zum Christenthume übergehen, wenn die Eltern und Geschwister es nicht auch thäten. Er wolle geistig nicht von ihnen getrennt leben, wolle die äußere Gemeinschaft mit ihnen nicht verlieren, und da er der Mutter schon damals näher stand als wir andern Alle, waren sie Beide gleich erschüttert und bewegt. Mein anderer Bruder, eine starke und leidenschaftliche Natur, bei der jedoch all diese Kraft sich damals mehr in körperlicher Gewaltsamkeit als in geistiger Unabhängigkeit äußerte, nahm die Sache, wie alle solche Dinge, höchst[293] gleich gültig auf. Sein Sinn war auf große Reisen in ferne Länder, auf Kämpfe mit wilden Völkern und mit wilden Thieren gestellt, er hatte ein Verlangen, zur See zu gehen, die Schule war ihm, trotz seiner glänzenden Fassungsgabe, durchaus zuwider; aber ob er dieser oder jener Kirche angehörte, ob er hier oder dort begraben würde, war ihm völlig einerlei. Dazu kam, daß mein Vater, da der leidenschaftliche Sinn dieses Sohnes sich schon in frühester Kindheit kundgegeben, denselben, statt ihn in die rechte Bahn zu lenken, zu brechen versucht hatte. Moritz fürchtete den Vater also, obschon er ihn mit Leidenschaft liebte, und bei der größten Zärtlichkeit von beiden Seiten ist dieses Bruders Verhältniß zu meinem Vater nie ein völlig freies geworden, ist die Gewalt, welche seinem Charakter als Kind angethan worden, ihm durch sein ganzes, nur zu kurzes Leben nachtheilig geblieben. Es ist aber ein Irrthum, der in hunderten von Familien immer wieder auf das Neue begangen wird, daß man sich für die Kinder halbwege im Voraus Schemata zurecht macht, in denen ihr Lebensweg sich halten soll. Will eine Ausnahme-Natur sich nicht danach bequemen, so legt man sie auf das Prokrustesbett, und wundert sich nachher, wenn sie sich in die aufgezwungene Beschränkung trotz alle dem nicht fügen lernt, daß sie auch für die von ihr erstrebte Freiheit nicht die volle, ungebrochene Kraft besitzt, nachdem man sie gelähmt hat. Erzieher müssen Leiter, nicht Herren des Menschen sein, der ihrer Pflege zu Theil geworden ist, wenn sie nicht schaden, sondern fördern wollen.

Auch ich hatte sonst meinem Vater gegenüber keinen[294] rechten Muth, und die Erklärung, daß ich von dem Uebertritt zum Christenthume ausgeschlossen bleiben sollte, erschreckte mich doppelt, weil sie mir ein langgehegtes bestimmtes Verlangen versagte, und weil sie mir gleichzeitig als ein böses Omen für die Zukunft meiner Liebe erschien. Von dieser getrieben und ermuthigt, wagte ich die Frage, warum der Vater mich nicht auch die Taufe empfangen lassen wolle?

Weil Dich die Taufe bindet, die die Brüder frei macht! antwortete der Vater fest. Ich habe Alles überlegt, macht Ihr Euch also keine Gedanken darüber! Es bleibt, wie ich gesagt habe. Wenn ich die Söhne Christen werden lasse, mache ich sie zu freien Herren über ihre Zukunft. Sie können jeden Beruf wählen, der ihnen ansteht, sie treten als Gleichberechtigte in das Staatsleben ein, können sich mit Jüdinnen oder Christinnen verheirathen, wie sie wollen; und glauben in sich, thut zuletzt jeder vernünftige Mensch, was ihn gut dünkt. Frauenzimmer aber, die weder ihren Beruf noch ihren Mann wählen können, bleiben am besten in den Verhältnissen, in denen sie geboren sind, und wenn die Neigung eines Christen einmal auf eine Jüdin fällt, so kann man dann überlegen, was man thun will. Für mich und die Mutter, fügte er endlich hinzu, paßt es mir nicht, uns taufen zu lassen, und daß ein solcher Akt keine Trennung der Familie, und für die Familienliebe ohne störenden Einfluß ist, davon wird die Zukunft Euch überzeugen.

Er küßte uns darauf. – Unsere Mutter, die so gern Christin geworden wäre, und mein ältester Bruder waren sehr gerührt, ich aber, in der jenes Gefühl der Isolirung[295] von der angebornen Familie rege geworden war, das die Liebe in dem Weibe erzeugt und erzeugen muß, weil es einst naturgemäß in eine neue Familie überzugehen bestimmt ist; ich nahm von dieser Unterredung die beglückende Gewißheit mit, daß von des Vaters Seite mir in diesem Punkte für meine Zukunft mit Leopold kein Hinderniß in den Weg gelegt werden würde.

Die Taufe meiner Brüder erfolgte denn auch bald darauf im Hause des Konsistorialrath Kähler, und der Winter ging uns ruhig hin, nur daß die Mutter wieder häufig kränkelte, und der Arzt darauf drang, daß sie für die Sommermonate eine Wohnung auf dem Lande nehmen solle.

Es war das die erste derartige Trennung, welche der Familie bevorstand, und die Eltern entschlossen sich schwer zu derselben; denn man war es damals noch nicht so wie heut zu Tage gewohnt, die Familien zu ihrer Erholung im Sommer auseinanderstieben zu sehen. Man dachte mit Sorge an des Vaters Einsamkeit, an die Brüder und an die zehnjährige Schwester, welche der Schule wegen in der Stadt zurückbleiben mußten, und die Mutter war so traurig darüber, den geliebten Mann, die drei Kinder, ihren Haushalt, ihre gewohnte Pflichterfüllung aufgeben zu müssen, und dem Vater eine erhöhte Ausgabe zu veranlassen, daß er ihr, um sie zu trösten, die Worte »zum Wohl der Deinen!« schön in großer Schrift geschrieben, in ihrer Sommerwohnung an die Wand heftete, damit sie sich daran erinnere, daß diese Erholung für sie zugleich eine Pflichterfüllung sei.

Das Dorf Neuhausen, in welchem wir einige Zimmer[296] in dem Hause eines Gutsbesitzers gemiethet hatten, ist anderthalb Meilen von der Stadt gelegen und einer der schönsten Orte in ihrer Umgegend. Ein altes, noch aus den Zeiten des deutschen Ordens stammendes Schloß, mit starken Mauern und runden Thürmen, ein schöner Park in hügliger Waldgegend, ein ansehnliches Pfarrhaus, eine freundliche Kirche an einem kleinen Teiche, reinliche Häuser für die Pfarrwittwe und den Küster, und eine Anzahl von Höfen, in deren größtem wir wohnten, boten vielerlei zu sehen und zu betrachten, besonders für uns, die wir noch niemals auf dem Lande gelebt hatten.

In dem Schlosse, das Friedrich Wilhelm der Dritte nach den Freiheitskriegen dem Grafen Bülow von Dennewitz geschenkt, lebte die gräfliche Wittwe mit ihren Kindern und mit ein paar adeligen Gesellschaftsfräulein, welche ich mit dem Hauslehrer oft in fliegenden Reitkleidern durch die Gegend reiten sah. Die Pfarre hatte ein Sohn des Konsistorialrath Kähler, der Bruder meiner Freundinnen inne, der mit seiner Frau sehr segensreich auf die allgemeine Kultur des Dorfes wirkte, den wir aber nicht kannten. Die Pfarrwittwe, unsere nächste Nachbarin, war eine freundliche Greisin; die Kantorsfrau, die Schwester unserer Wirthin, eine tüchtige und von Herzen fröhliche Person; und da der Gutsbesitzer, bei dem wir wohnten, kinderlos, und seine Frau ebenso gutmüthig als ihre Schwester war, so gewann die Freundlichkeit unserer Mutter diese Menschen Alle bald für sich. Ihre Gesundheit besserte sich zu unserm Glücke auf dem Lande schnell, da Ruhe und Stille und der Verkehr[297] mit einfachen Menschen ihr im hohen Grade zusagten. Sie war also sehr zufrieden mit ihrem neuen Aufenthalte. Ich selbst aber denke an diese Zeit noch heute mit großer Befriedigung zurück als an die Zeit, in welcher ich es zum ersten Male kennen lernte, was Stille, was Muße und was Freiheit sei.

Zu den unschätzbarsten Gütern, welche die Natur einem Menschen auf seinen Lebensweg mitgeben kann, gehört jene Art des Gedächtnisses, welche man das Gedächtniß der Empfindung nennen könnte. Es ist schon ein Gewinn, sich nach langen Jahren deutlich der Menschen erinnern zu können, denen man begegnet ist, der Gegenden, welche man gesehen, der Dinge, welche man erlebt hat. Aber es ist ein Glück, wenn uns mit diesen aus der Vergangenheit heraufbeschworenen Bildern zugleich die volle Empfindung jener Tage wiederkehrt. Es liegt darin ein Trost gegen die Vergänglichkeit der Zeit, eine Art von ewiger Jugend, ein Zusammenfassen und Beherrschen des Entfernten und Getrennten, und eine dauernde Verklärung dessen, was uns einst flüchtig Genuß und Glück gewährte. Die Gabe solchen Gedächtnisses ist mir in hohem Grade zu Theil geworden.

Während ich diese Zeilen niederschreibe, sehe ich ihn wieder vor mir, den einfachen Garten, in welchem das zweistöckige, ansehnliche Haus gelegen war. Ich sehe aus den geöffneten Thüren unseres Wohnzimmers hinaus durch die gegitterte Pforte, auf den Grasplatz am Teiche, hinter dem sich die Kirche erhob. Ich sehe die Aeste der beiden Pflaumenbäume vor unserm Fenster sich auf- und niederwiegen, auf denen sich Schaaren von Vögeln schaukelten;[298] die Bienen und Wespen fliegen summend durch unsere Stube, die Sonnenstrahlen des Mittags dringen bis in ihre entlegenste Ecke – und nun Alles so still! – Die Mutter schlief am Nachmittage immer ein paar Stunden, die kleinen Schwestern spielten irgendwo im Schatten unter der Aufsicht der Kinderfrau. Ich hatte kein bestimmtes Geschäft, Niemand brauchte mich um diese Zeit, und ich konnte still da sitzen und an den Entfernten denken, der in jenem Sommer mit seinen Zöglingen am Ostseestrande war; oder ich konnte umhergehen im Dorf, in den Schloßgarten, in die Felder, in die verschiedenen Höfe hinein, ich konnte allein umhergehen, ohne die Eltern, ohne die Geschwister. Es war mir, als athme ich anders, freier, wenn ich mich einmal so als eignes, selbstständiges Wesen empfand, wenn ich für mich selbst, und nicht als Glied der Familie, als Kind vom Hause existirte. Und wie das Kind, wenn es einmal die Bezeichnung des Ich, mit dem Worte Ich, gefunden hat, von dieser Bezeichnung niemals wieder abläßt, so hörte in mir das Verlangen nach einer gesonderten Selbstständigkeit nie wieder auf, nachdem ich es in meinen stillen Nachmittagsspaziergängen hatte empfinden lernen, wie unfrei bis auf die geringste Bewegung das Leben der Mädchen in den Familien gemacht wird, oder wie völlig unfrei ich selbst bis dahin gewesen war.

Dazwischen träumte und dachte ich mich immer tiefer in mein einstiges Leben als Frau eines Landgeistlichen, als Leopolds Frau hinein. Was ich that und trieb, bezog sich auf ihn. Ich selbst war außerordentlich heftig, leicht aufgeregt, und hatte, weil ich den Eltern gegenüber[299] dies beherrschen mußte, mich oft um so rückhaltsloser gegen Untergebene gehen lassen. Aber auch Leopold war heftig, und um seinetwillen, um ihn nicht in der Zukunft durch meine Erregbarkeit und Maßlosigkeit unglücklich zu machen, begann ich nun nach jener Fassung zu ringen, die mir später oft so sehr zu Statten gekommen ist. Ich habe einmal irgendwo die Worte gelesen: der Mann ist das Unterschicksal des Weibes! – Ob das eine Wahrheit, für alle Frauen eine Wahrheit sei, das möchte ich nicht behaupten; aber die Erziehung der Frauen wird zum großen Theil, wenn nicht durch die Männer selbst, so durch unsere Liebe für sie bewirkt; und es ist mir oft vorgekommen, als brauchte man die Mädchen nur dahin anzuleiten, daß ihre Neigung sich keinem unedeln oder geringen Manne zuwenden könne, um ihrer befriedigenden Entwicklung gewiß zu sein.

Wir lebten fast ohne Abwechslung auf unserm Dorfe. Sonnabends kamen mein Vater und eines der Kinder mit einem der heimkehrenden Milchpächter auf dessen Wagen zu uns heraus, und sie blieben dann bis Montag in der Frühe bei uns. Hie und da gingen wir durch den schönen Wald nach einem nahegelegenen Lustorte, an dem sich Sonntags viele Städter einfanden; einmal kam Mathilde auf acht Tage zu uns heraus, und in dieser Woche befand ich mich eines Abends grade in der Speisekammer, um das Abendbrod herzurichten, als Mathilde mit dem Ausruf bei mir eintrat: Leopold ist da, zu Pferde mit einem Freunde!

Ich wußte mich vor Ueberraschung, vor Freude kaum zu fassen. Alles Blut stieg mir nach dem Kopfe, und[300] wäre ich meiner Aufwallung gefolgt, so würde ich, wie ich da stand, mit der Küchenschürze hinausgelaufen sein, ohne mich um das zu bereitende Abendbrod weiter zu bekümmern. Unglücklicher Weise kam mir aber der Gedanke, daß ich mich ja beherrschen lernen, daß ich gefaßt und ruhig werden wolle, und so sagte ich, Mathilde möge nur zur Mutter und zu den Gästen gehen, ich würde gleich mit dem Abendbrode nachkommen. Mit fliegender Hast putzte ich die Radieschen, setzte ich noch schnell mehr Eier zum Kochen auf, schnitt Schinken, strich Butterbrode, und hatte eben Alles fertig, hatte mir eben, höchst zufrieden mit meiner Selbstbeherrschung, und froh ihrer nun ledig zu sein, die Schürze abgebunden und die Hände gewaschen, als ich Pferdegetrappel auf den Steinen hörte, und zur Thüre eilend, die beiden Reiter davontraben sah.

Benommen, verwirrt und traurig blickte ich ihnen nach. Ich zürnte auf mich und meinen unglückseligen Versuch der Selbsterziehung, ich zürnte auf meine Freundin, weil sie mich nicht noch einmal rufen gekommen war, ich zürnte auf Leopold, weil er nicht auf mich gewartet hatte, die ihm doch nur ein gutes Abendbrod bereiten wollte. Daß mein Ausbleiben ihn ungeduldig gemacht, daß er es als eine Kälte, als eine Koketterie von mir betrachtet hatte, und daß er, im Zorne gegen mich, schnell aufgebrochen und davongeritten war, das zu denken, war ich nicht gescheut genug. Man ist aber nie unglücklicher, als wenn man die Folgen einer Dummheit erträgt, die man mit dem bestimmten Bewußtsein begangen hat, etwas ganz besonders Gutes und Vernünftiges zu thun.[301]

Den ganzen Sommer hörte und sah ich Nichts von Leopold, und die Erinnerung an jenen Abend lastete fortan wie ein Vorwurf und wie ein Schmerz auf mir, bis eine andere schwere Sorge mich davon abzog.

Wir hatten einen Sonntag ganz heiter mit dem Vater und mit den Brüdern verlebt, die Mutter hatte sie mit mir noch eine Strecke begleitet, da sie sich wohler als seit Jahren fühlte, und wir gingen ruhig zu Bett, wobei sie, als sie sich entkleidete, die Bemerkung machte, sie müsse sich in der linken Hand eine Sehne verdreht haben, die Hand schmerze sie bei der Bewegung. Früh, als der Tag dämmerte, weckte sie mich plötzlich mit der Frage: ob ich das Schießen nicht höre? – Ich richtete mich auf, es waren oftmals Militair-Manöver in der Gegend, und das Schießen nichts Ungewöhnliches, aber ich hörte Nichts, und sagte das. Höre doch! Höre doch! rief die Mutter mit solcher Heftigkeit, daß ich erschrocken aufsprang; und an ihr Bett eilend, fand ich sie mit wirrem Blicke, völlig ohne Bewußtsein, in wilden Fieberphantasien.

Anderthalb Meilen von der Stadt, ohne Fuhrwerk, ohne männliche Bedienung, war die Lage, in der ich mich befand, ganz furchtbar. Ich mußte umherlaufen, mir nur erst einen Boten zu schaffen, um den Vater und den Arzt benachrichtigen zu können, und als dieser am Nachmittage mit dem Vater herauskam und das Leiden der Mutter für Gicht erklärte, die sich auf den Kopf geworfen habe, war damit für uns Nichts gebessert. An einen Transport in die Stadt war nicht zu denken. Der Vater, dessen Geschäfte ihn gerade während der Zeit der[302] Schifffahrt vollständig in Anspruch nahmen, konnte weder bei uns bleiben, noch uns täglich sehen kommen, und so blieb ich denn mit der kranken Mutter und mit den Kindern in Neuhausen zurück, darauf angewiesen, durch meine Berichte dem Arzt so viel Auskunft zu geben, daß er, wenn er spät am Abende herauskam, womöglich die nöthigen Arzneien mitbringen konnte, die wir uns sonst erst am folgenden Tage aus der Stadt zu verschaffen vermochten.

Nachdem ich also die Reize des Landlebens ein paar Wochen gekostet hatte, lernte ich nun gleich auch eine seiner Schattenseiten kennen, und ich denke noch mit Entsetzen an die Angst und an die Hast, in welcher ich einmal in brennender Mittagshitze nach dem nächsten Dorfe lief, um mir von dort Blutegel zu holen, da diejenigen, welche man aus der Stadt geschickt hatte, den Dienst versagten. Man muß Tage und Nächte so hilflos an einem einsamen Krankenbette zugebracht haben, um zu wissen, was Angst und Sorge sind!

Endlich, nach fast drei Wochen, erlaubte es der Zustand meiner Mutter, daß man sie, in Betten gepackt, in Begleitung des Vaters und des Arztes, nach der Stadt bringen konnte. Am folgenden Tage kam ein großer Packwagen und noch ein Fuhrwerk heraus, ich ließ all unser Mobiliar aufladen und fuhr dann mit unserer alten Kinderfrau und mit den Kindern, bang und beklommen, nach dem ersten Aufathmen in Gottes freier Natur, in die Heimath zurück, wo Wochen voll Sorge und Arbeit meiner warteten. Denn die Mutter kam nur sehr langsam wieder zu Kräften, und es war schon Herbst[303] und schlechtes Wetter, ehe die gewohnte Lebensweise sich im Hause wieder herstellte.

Mit dem Herbste kehrte auch die Familie, in welcher Leopold lebte, in die Stadt zurück, und gleich am Abende seiner Ankunft sahen wir einander wieder.

Warum sind Sie nicht hinausgekommen, als ich in Neuhausen war? fragte er mich, sobald sich die Gelegenheit dazu darbot. – Ich dachte, daß Sie auf mich warten würden, versetzte ich ehrlich. – Ich mußte ja am Abend zurück sein, und ich hatte mich die ganze Zeit darauf gefreut, Sie draußen einmal zu besuchen! Ich war recht böse auf Sie, ich glaubte, Sie wollten mich warten lassen! entgegnete er. – Wie kamen Sie auf diesen Einfall? rief ich erschrocken und verwundert aus, und mein Erstaunen war die beste Antwort, die ich geben konnte. Wir waren Beide mit einander zufrieden, waren voll Glauben und Zutrauen zu einander, und wir waren so jung, daß wir für den Augenblick Nichts mehr verlangten, als uns zu sehen und in Gegenwart der ganzen Familie wieder mit einander verkehren zu können.

Allmählich aber wurden Leopolds Besuche häufiger. Statt wie im verwichenen Jahre ein paar Mal in der Woche zu kommen, erschien er nun Tag um Tag, dann endlich jeden Abend, ohne daß die Eltern das auffallend zu finden schienen. Auch sein Betragen gegen mich veränderte sich. Er setzte sich zu mir, gleichviel ob andere Personen anwesend waren, er tadelte und lobte mich in Gegenwart der Eltern je nach seiner Meinung, und er wies mit Eifersucht alle meine alten Bekannten und Jugendfreunde zurück, wenn diese sich mir nahten. Weil[304] er mir sehr werth war, machte mir dies Alles Freude, aber es brachte mich doch auch in Verlegenheit. Die ältern Mädchen unserer Bekanntschaft zogen mich mit unserer »stummen Liebe« auf, einer oder der andere meiner jungen Bekannten neckte mich damit, daß ich sehr sanft und nachgiebig geworden sei, und mit dem wetterwendischen Sinne eines launenhaften Kindes nahm ich mir eines Tages vor, daß ich mir von Leopold Nichts mehr befehlen lassen wolle.

Es war im November, an meines Vaters Geburtstag, der wie alle solche Tage gefeiert und besonders hoch gehalten wurde. Da die Eltern fast gar keinen Familienumgang hatten, so wurde die geladene Gesellschaft fast immer nur für uns versammelt, und da wir auch an jenem Abende sechs oder acht von unsern Bekannten bei uns hatten, beschlossen wir zu tanzen. Leopold aber tanzte nicht, und kaum hatte ich aufgehört zum Tanze zu spielen, um selbst in die Reihe zu treten, als er an mich herankam und mir sagte: tanzen Sie nicht! – Ich sah ihn an und fragte: weshalb nicht? – Weil ich nicht tanze! antwortete er. – Als ob das ein Grund wäre! rief ich, und wollte eben die Hand meines Vetters ergreifen, als Leopold mich mit den Worten zurückhielt: wir sehen uns nicht wieder, wenn Sie tanzen! –

Das bannte mich, aber es empörte mich auch. Zu tanzen wagte ich nicht, und doch mußte ich vor den Andern eine Ursache haben, es nicht zu thun; und um fortzukommen und mir fortzuhelfen, eilte ich mit dem Vorgeben auf mein Zimmer, daß mir nicht wohl sei. Oben in der dunkeln Stube fing ich zu weinen an, aber[305] ich wußte eigentlich nicht worüber. Ich war glücklich, daß Leopold mich so völlig als sein Eigenthum betrachtete, daß er mit mir schaltete und waltete nach seinem Belieben; aber ich empfand einen Zorn gegen ihn, wie ich ihn nie gegen einen andern Menschen gefühlt hatte. Ich hasse ihn! sagte ich einmal zu mir selbst, und hatte nie sicherer gewußt, daß ich ihn liebte, als eben jetzt. – Ich nahm mir vor, gar nicht mehr hinunterzugehen, um ihn recht zu quälen und zu ängstigen, um ihm zu zeigen, daß ich mir nicht befehlen lasse, und daß er kein Recht habe, mir zu befehlen, und doch war ich untröstlich darüber, daß ich hier oben in der finstern Stube saß und weinte, statt unten bei den Andern und bei ihm zu sein.

Das sind Zustände, wie jeder Mensch, so Weib als Mann, sie durchlebt hat. Es ist der Kampf der freien Jugend, die davor zurückschreckt, sich an ein anderes Wesen zu verlieren, und ich meine, es lasse sich aus der Stärke dieses Kampfes mit Sicherheit auf die Größe der Hingabe schließen, deren der Mensch einst fähig sein wird. An kräftigen jungen Männern habe ich diese Sprödigkeit, diese Selbstwilligkeit oft bis zu einem Grade stark gesehen, der sie an sich selbst verzweifeln ließ. Man muß aber Etwas sein, um Etwas aufgeben zu können, man muß sich selbst besessen haben, um sich verschenken zu können, und der Trotz der Liebe ist in der Natur des Menschen nur der Sturm des Aequinoctiums, der dem Beginn des Frühlings vorangeht.

Mitten in meinen Thränen kam Mathilde zu mir. Freundlich und heiter wie immer, forderte sie mich auf,[306] hinunterzukommen und vernünftig zu sein. Aber ich war froh, nun Jemand gefunden zu haben, gegen den ich alles Zornige, das mir das Herz bewegte, in heftigen Worten aussprechen konnte. Ich schalt auf Leopold, ich nannte ihn egoistisch, rechthaberisch und herrschsüchtig; ich versicherte, daß ich nun eine Lehre empfangen hätte, die mir – ich war siebenzehn Jahre! – für mein ganzes Leben nützen sollte; und Alles, was die gute Mathilde thun mochte, mich zu beruhigen, reizte mich nur noch mehr. Endlich, als sie alle ihre Gründe vergebens an mir erschöpft hatte, sagte sie: gieb mir Dein Wort zu schweigen, so will ich Dir Etwas vertrauen, das mir Deine Mutter unter dem Siegel des Geheimnisses erzählt hat. Aber gieb mir Dein Wort, daß Du schweigst, daß Du Dir Nichts, gar Nichts merken lässest.

Ich leistete das Versprechen, und Mathilde erzählte: Gleich nachdem Leopold in die Stadt gekommen ist, hat er Deinen Vater aufgesucht, und bei ihm um Deine Hand gebeten. Er hat ihm gesagt, daß er Dich liebe, und daß er nicht länger ohne Dich sein könne. Er wolle deshalb eine Lehrerstelle, die ihm geboten werde, annehmen, um Dich heirathen zu können. Dein Vater hat aber erklärt, davon könne die Rede nicht sein, Leopold müsse erst sein zweites theologisches Examen machen, und wenn er dann eine Pfarre haben würde, so würde er dem Vater willkommen sein. Und dann hat er sich von Leopold das Ehrenwort geben lassen, daß er Dir von seiner Bewerbung nichts sagen, und sich in keiner Weise gegen Dich erklären würde, weil Du noch zu jung wärest, und weil Du ruhig bleiben solltest, und so weiter fort![307]

Ich war wie umgewandelt, war geblendet, als träte ich aus tiefem Dunkel in ein helles Licht. Mein Zorn war erloschen, ich hatte Niemand anzuklagen, als mich selbst, Niemand hatte Unrecht als ich; aber ich fühlte doch augenblicklich, daß die Lage, in welche meines Vaters Vorsorge mich gebracht hatte, eine üble, und daß sie ohne Berechnung und Rücksicht auf Leopold's Natur gewählt war. Und das hat sich auch bewährt!

Ich kehrte in die Gesellschaft zurück, zu Leopold zurück, glücklich im Innersten des Herzens, voll Verlangen ihn zu versöhnen; und wo man der Liebe gegenübersteht, ist das keine schwere Aufgabe. Wie wir uns ohne Worte zusammengefunden hatten, so verstanden wir uns ohne Worte, und die nächste Zeit verging uns in täglichem Beisammensein in stillem, freudigem Frieden.

Den Weihnachtsabend sollte Leopold bei uns zubringen. Beschränkt, wie unsere Verhältnisse es noch immer waren, hatten die Eltern uns doch nie die Freuden des Weihnachtsbaumes entbehren lassen, und auch fast immer die Mittel gefunden, ein oder den andern Freund des Hauses an der Bescheerung Theil nehmen zu lassen, während wir Kinder von jeher angehalten worden waren, irgend welche von den Hausarmen mit Geschenken zu erfreuen, für die wir uns das Geld von unserm Frühstück oder sonst auf eine Weise zu ersparen suchten.

In Königsberg ist es Sitte, die Festtage einzuläuten wie allerwegen, aber es existirt in der Stadt noch ein Legat von einem alten Fräulein, nach welchem die Stadtmusikanten am Mittage das Lied: »Wie schön leucht't[308] uns der Morgenstern«, und Abends um neun Uhr »Nun ruhen alle Wälder« vom Thurm der Schloßkirche in die Stadt hinunterblasen. Die Kinder nennen das: die Jungfer bläst vom Thurm! – Dieselben Stadtmusikanten ziehen denn, ebenfalls nach einer Verordnung aus uralter Zeit, sobald es am Weihnachtsabende zu dunkeln beginnt, – und das geschieht in unserer nordischen Heimath um diese Zeit des Jahres schon gegen vier Uhr, – durch alle Straßen der Stadt, und still durch das nächtliche Dunkel erklingt von ihren Blaseinstrumenten die schöne Melodie: »Ein Kindlein uns geboren ist!«

Schon von weit her vernimmt man den nahenden, wachsenden, anschwellenden Ton des Liedes. Ohne daß man die Musikanten gewahrt, klingt die Melodie zu uns heran, der ganze Zauber der Weihnachtspoesie verkörpert sich in diesen Tönen, und Niemand, der seine Kindheit und Jugend in unserer Heimath verlebt hat, wird dieser nächtlichen Weihnachtsmusik ohne Rührung gedenken.

Wir Geschwister hatten die Gewohnheit, uns am heiligen Abende, wenn es dunkelte, in meiner Stube zu versammeln, und dort zu warten, bis die Eltern den Aufbau beendet hatten und wir zur Bescheerung gerufen wurden. Auch diesmal saßen wir in dem kleinen Stübchen, im Dämmerlicht, im Dunkeln bei einander, während das Streiflicht der Laterne, die von unserm Hause nach der andern Ecke der Straße hinüberhing, grade genug Helle zu uns hineinwarf, das ganze Häufchen der Geschwister übersehen zu lassen. Da hörten wir endlich wieder die alte, liebe Melodie, und mit ihrem Klange kam eine[309] tiefe Wehmuth über mich. Ich sah die Brüder, meine eilfjährige Schwester, die vier kleinen Mädchen und dachte: wie viel Male werde ich den Abend noch mit Euch verleben? Ich dachte, daß ich sie verlassen, sie nicht heranwachsen sehen würde, und weil ich mir vorstellte, daß ich vielleicht bald nicht mehr ein Kind dieses Hauses sein würde, fühlte ich, wie sehr ich ihm zu eigen war.

Die Klingel, welche uns in das Wohnzimmer rief, brachte uns in Bewegung. Wir älteren Geschwister nahmen die kleinsten an die Hand und auf den Arm, um sie schnell die Treppe nach der Wohnstube hinunter zu bringen, und vor dem bescheidenen Glanze unseres Weihnachtsbaumes, der uns aber strahlend dünkte, vor dem Jubel der Kinder, vor der Befriedigung der guten Eltern über unsere Freude, gewann jenes Gefühl innerlichster Wehmuth neue Kraft, so sehr ich bemüht war, es in mich zu verschließen. Es war nicht Sitte im Hause, von Gefühlen zu sprechen oder sich ihnen leicht in sichtbarer Weise zu überlassen, und mich dünkt, das hat, wenn es nicht übertrieben wird, sein Gutes. Es macht den Menschen innerlich, und verhindert das Aufkommen der Phrase, hinter der die Oberflächlichkeit und Leerheit sich so pomphaft und so bequem verbergen.

Die rechte Weihnachtsfreude kennen aber nur die Unbemittelten, die es wissen, mit welcher Liebe und mit welcher Sorge die Gaben zusammengebracht sind, an denen man sich erfreut. Wir, die wir wußten, wie oft der Vater sich in Geldverlegenheit befand, weil sein Geschäftsbetrieb mehr Mittel erforderte, als ihm zu Gebote[310] standen, wir wußten auch, wie oft und reiflich die geringste Kleinigkeit von unserer Mutter erwogen, wie allmählig die einzelnen Gegenstände herbeigeschafft werden mußten, die uns unter dem Lichte des Weihnachtsbaumes entzückten. Noch spät am Abend sahen wir dann den Vater, wenn das Comptoir geschlossen wurde, mit dem Hausknecht fortgehen, um die Aepfel und Nüsse und das Backwerk zu holen, und irgend welche Teller oder Gläser oder sonst nothwendig gewordenen Hausrath zur Ueberraschung für die Mutter einzukaufen, und wenn dann Alles besorgt war, wenn die Handlungsgehülfen ihre Ducaten und Friedrichsd'or, die Dienstboten ihre Geschenke erhalten hatten, wenn wir dann beisammen waren, die Eltern und die acht Kinder, und die freundlichen Augen der Mutter, die hellstrahlenden Blicke des Vaters über uns leuchteten, wenn man es ihm ansah, wie alle Sorge ihm gering erschien, wenn er seine »acht gesunden Kinder« um sich und die Mutter neben sich hatte, dann küßten wir seine lieben Hände und die Hände der Mutter mit jener inbrünstigen Liebe, in die der Dank für ein neues uns geweihtes und geschenktes Jahr voll Arbeit und voll Sorge eine besondere Weihe legte.

Mitten in unserer Weihnachtsfreude erschien Leopold, der bei der Bescheerung seiner Zöglinge hatte anwesend sein müssen. Er war froh und aufgeschlossen, er war Allen willkommen, fühlte sich heimisch, und während die Kinder ihn mit ihrem neuen Spielzeug umringten, sagte er, sich zu mir wendend: Ich möchte wissen, wo wir heute in zwei Jahren sein werden?

Ich habe immer eine Abneigung gegen das Voraussehenwollen[311] der Zukunft, immer eine unheimliche Empfindung gehabt, wenn man in meiner Gegenwart solche Wünsche äußerte. Dieses Gefühl bemächtigte sich meiner auch in jenem Augenblicke, und ohne zu wissen, was mich dabei ängstigte, bat ich, er möge so Etwas nicht aussprechen.

Weshalb denn nicht? rief er heiter. Wissen Sie denn nicht, daß ich ein Glückskind bin, und daß das Leben mir noch nie die Erfüllung eines Wunsches verweigert hat?

Aber weit entfernt, mich zu ermuthigen, wurde seine Zuversicht auf sein Glück mir nur noch unheimlicher, und ohne zu bedenken, was ich damit that, sagte ich: »Mit des Geschickes Mächten ist kein ew'ger Bund zu flechten, und das Unglück schreitet schnell.«

Kaum aber hatte ich diese Worte beendigt, als ich sie um jeden Preis hätte zurücknehmen mögen. Sie klangen mir fürchterlich, als hätte nicht ich, als hätte ein Anderer sie gesprochen, und als ich zu Leopold emporsah, war all seine Heiterkeit von ihm gewichen. »Wie kommen Sie zu dem unglücklichen Worte!« sagte er wie mit einem Ton der Abwehr, und ich selber wußte es nicht, wie ich darauf gekommen war. Wir konnten indeß danach die frühere Heiterkeit nicht wiederfinden, obschon wir Alle munter bei einander waren, und – die letzten ganz glücklichen Stunden, die wir mit einander verlebt, lagen hinter uns.[312]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 1, Berlin 1871, S. 293-313.
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