Achtzehntes Kapitel

[313] Aeußerlich änderte sich mit dem neuen Jahre in unserem Leben Nichts. Leopold kam Anfangs wie bisher, so oft er wollte, aber ich empfand, daß man uns beobachtete, daß der Vater ihn nicht so freundlich als sonst willkommen hieß, daß er überall kleine und oft komische Hindernisse zwischen uns aufrichtete. So erinnere ich mich, daß wir einmal übereingekommen waren, bei uns das Bild von Houwald mit einigen Bekannten personenweise zu lesen, und der Vater hatte dagegen keine Einwendungen gemacht. Wir hatten die Rollen so vertheilt, daß ich natürlich die Camilla, Leopold den Maler lesen sollte, und die Uebrigen hatten sich dieser Anordnung gefügt, während ich mir schon Tage lang alle die schönen gefühlvollen Dinge vorgelesen hatte, die gegen Leopold auszusprechen ich ebensoviel Verlangen als Scheu trug. Ich hatte mir Alles vorgestellt, wie es kommen müsse, ich konnte den Abend gar nicht erwarten, hatte mich schön geputzt, um mich so weit als möglich den Worten des Dramas anzupassen, und voll Hoffnung und Spannung setzte ich mich, als die kleine Gesellschaft beisammen war, in dem großen Wohnzimmer an dem Tische vor dem Sopha nieder, auf dem meine Eltern bereits Platz[313] genommen hatten. Kaum aber ergriffen wir unsere Exemplare, als mein Vater dem ihm zunächst Sitzenden das Buch aus der Hand nahm und, auf das Personenverzeichniß blickend, mit freundlichster Ruhe die Worte aussprach: Wartet Kinder! ich werde mitlesen, ich werde den Maler lesen!

Ein Habicht, der auf eine Flucht von Tauben stößt, bringt keine solche Verwirrung, keinen solchen Schreck hervor, als ich sie fühlte. Der ganze Thurmbau meiner Hoffnungen stürzte zusammen. Ich sah Leopold an, er war blaß geworden und biß die Lippen zusammen, was er nur im Zorne that. Die ganze kleine Gesellschaft gerieth in Aufruhr, Alles fiel nun auseinander. Der Vater entwarf eine neue, höchst unglückliche Rollenvertheilung, und statt der Freude, die ich mir erwartet, hatte ich das komische Vergnügen, meinen Vater mit all den Zärtlichkeiten anzulesen, die ich für Leopold so sehnlich auszusprechen gewünscht hatte.

Der aber war nicht der Mann sich zu verstellen. Sein sichtbarer Verdruß, seine Gereiztheit steigerten sich durch das nicht verborgene Lachen der Andern, er blieb mißmuthig, mein Vater verwies ihm das, und der Abend wurde ein verstörter und unlustiger für alle Theile.

Solcher kleinen Mißhelligkeiten gab es von da ab immer wieder. Ich fragte Mathilde, ich fragte meinen Bruder, der sich mit Liebe an Leopold angeschlossen hatte, und von diesem und von der Mutter in das Vertrauen gezogen worden war, was denn geschehen sei? Sie wußten Beide Nichts. Leopold hatte ich nie allein gesehen, er hatte, seinem Worte treu, nie von seiner Liebe[314] zu mir gesprochen, ihn konnte ich nichts fragen, und mit meiner Mutter davon zu reden, wäre mir eben so unmöglich gewesen, als meinen Vater um die Gründe seiner Handlungsweise anzugehen. Ich hatte zur Mutter nicht das Zutrauen, daß sie mir rathen oder helfen könne, sie hatte mich auch einmal mit einer taktlosen Aeußerung über mein Verhältniß zu Leopold verletzt, und von meinem Vater hielt die Gewohnheit des blinden Gehorsams, zu dem er uns erzogen hatte, mich fern. Zwischen den zärtlichsten Eltern, die ich beide liebte, war ich ganz allein.

Einige Wochen später hörte ich aus meinem Zimmer um die siebente Abendstunde die Hausklingel erschallen. Ich hörte die Thüre öffnen, ich kannte den Schritt auf den Fliesen des Hausflurs und ich packte mein Nähzeug zusammen, um in die Wohnstube zu gehen, die sich jetzt nach meiner Meinung öffnen mußte. Aber dieser Ton ließ sich nicht vernehmen, die Hausthüre klingelte abermals, die Küchenthüre wurde zugeworfen, und es blieb Alles still. Ich begriff das nicht! – So schnell ich konnte, eilte ich hinunter. Ich fragte in der Küche, wer da gekommen sei? Man nannte mir Leopold, und auf die zweite Frage, ob er bei der Mutter sei, versetzte das Mädchen: nein! der Herr sei schon zu Hause, und habe befohlen, wenn Herr Leopold käme, zu sagen, daß die Herrschaft ausgebeten sei.

Das hatte ich nicht erwartet! Das hatte auch Leopold nicht glauben können, denn die Eltern waren mit Ausnahme von zwei Abenden im Jahre, an denen ein paar Feste in den Familien meiner Tanten gefeiert wurden,[315] niemals in Gesellschaft, und zudem fiel das Licht aus dem Wohnzimmer durch die Glasthüren desselben hell auf den Flur hinaus. – Ich war völlig rathlos und sehr traurig. Ich hatte das dringendste Verlangen, mir selbst zu helfen, Etwas zu thun, an Leopold zu schreiben. Dann dachte ich wieder, das sei seine und nicht meine Sache, und ich hatte auch gar keinen Muth, weder ihm noch dem Vater gegenüber.

Die Tage gingen mir hin, ich wußte nicht wie. Leopold kam Mittags immer wie sonst die Straße herab und grüßte mich, das war Alles. Am Ende der Woche trat eines Abends mein Vater in mein Zimmer, stellte sich an den Ofen, fragte, was ich treibe, und sah dann die Bücher durch, die auf der Kommode lagen. Mehrere davon waren Leopold's Eigenthum, sein Name stand darin. Mir klopfte das Herz, daß ich fast erstickte. Mein Vater legte die Bücher wieder fort und sprach von etwas Anderem, aber ich hörte es kaum; er kam in solcher Weise, Abends und allein, sonst nie zu mir herauf, und ich erwartete daher irgend einen Tadel, eine Erklärung, einen Aufschluß. Ich erwartete ihn vergebens.

Nachdem der Vater eine Weile bei mir gewesen war, schickte er sich an, mich zu verlassen, und erst im Hinausgehen sagte er: Du hast da, wie ich sehe, ein paar Bücher von Leopold, schicke die ab! – Lieber Vater, ich lese sie noch! sagte ich, weil ich doch ein Lebenszeichen von mir geben wollte. – Schicke sie nur ab, Du kannst sie ein andermal zu Ende lesen! – Aber weshalb, lieber Vater? fragte ich mit großer Ueberwindung. – Soll ich Dir Gründe angeben? versetzte mein Vater. Das[316] war sonst nicht nöthig zwischen uns. – Seine Stimme klang weich und bewegt, er ging hinaus, und am andern Morgen schickte ich ohne ein Wort, ohne eine Zeile die Bücher zurück; nur ein Blättchen Papier ließ ich als Zeichen und Andenken bei einem der Körner'schen Gedichte liegen, das wir oftmals mit einander gelesen hatten, und das wir Beide liebten.

Damit endet eigentlich die Geschichte dieser Jugendliebe, deren Ausgang mir ein ungelöstes Räthsel geblieben ist. Im Frühjahr, als Leopold sein Candidaten-Examen gemacht, gab er seine Stelle in Königsberg auf, um sich von einem Fieber, das ihn befallen hatte, im Hause seines Bruders herzustellen, der eine Superintendentur in unserer Provinz bekleidete. Eben jene gemeinsame Freundin, die mir zuerst von Leopolds Liebe gesprochen, sich in dieser Zeit verheirathet hatte und Leopold häufig bei sich sah, beschwor mich, einmal zu ihr zu kommen, um ihn dort zu treffen: er sei krank und wolle mich sprechen, ehe er Königsberg verlasse. Ich schlug das ab, weil ich die Erlaubniß nicht zu erbitten und gegen meines Vaters Befehle nicht zu handeln wagte. Aber ich hatte keine Freude an diesem Gehorsam, sondern nur Schmerz über meine Unfreiheit und Muthlosigkeit. Ich hätte besser von mir selbst gedacht, wäre ich des Ungehorsams fähig gewesen.

Niemand hat mir je darüber Aufschluß gegeben, was die Handlungsweise meines Vaters oder Leopold's bestimmte. Seine nächsten Freunde, die ich in viel späteren Jahren, als jene Erlebnisse mir schon, so wie jetzt, in völliger Losgelöstheit von mir selbst erschienen, darum[317] befragte, wußten Nichts davon. Sie vermutheten wie ich, daß man ihm in seiner Familie Einwendungen gegen seine Heirath mit einer Jüdin gemacht, daß mein Vater dies erfahren, daß er uns deshalb getrennt haben mochte, und daß mein blinder Gehorsam gegen den Vater Leopold hatte irre werden lassen an der Liebe, die ich für ihn fühlte.

Mein Leben wurde nach Leopold's Entfernung aber für eine Weile sehr still und trübe. Alle meine Bekannten hatten unsere Zuneigung bemerkt, alle sahen mich darauf an, wie ich die Trennung ertragen würde; denn die Menschen betrachten einander viel öfter als man glaubt unter dem Gesichtspunkte eines Darstellers, der verpflichtet ist, sich ihnen gegenüber in der Rolle zu behaupten, welche ihre Meinung ihm zuertheilt hat.

Die kalte Neugier der Einen, die mitleidige Schonung der Andern, die bloße Achtsamkeit auf mich waren mir unerträglich. Bedauert zu werden, weil dies herabsetzt und erniedrigt, war mir das Unerträglichste; und so gut ich es vermochte, suchte ich zu verbergen, was ich litt. Das lag auch durchaus in den Planen und Grundsätzen meines Vaters, und mein Bestreben, gleichmäßig in der alten Weise des Daseins fortzugehen, wurde unterstützt, obschon ich es fühlte, daß meine Mutter mich innerlich beklagte, daß mein Vater milder als sonst mit mir verkehrte, daß ich neben ihm an einer Freiheit gewann, die mir damals noch zu gar nichts nützte, weil meine Erziehung mich unfähig gemacht hatte, sie zu gebrauchen.

Im Verkehr mit meinen Freunden, in unserer Häuslichkeit und Geselligkeit blieb sich Alles gleich und[318] war mir alles gleichgültig. Nur zwei Gedanken beschäftigten mich. Wie war das möglich? fragte ich mich wieder und wieder, und dann drängte sich mir die zweite Frage auf: kann das so bleiben? werde ich ihn nicht wiedersehen? – Ein junges Herz, das liebt, hat nicht viel Gedanken.

Da man mich in der Familie doch wohl sehr verändert finden mochte, und da die im Sommer erfolgte Einsegnung meiner beiden Brüder mich sehr ergriffen hatte, bot mein Vater, ich glaube auf Veranlassung der Mutter, es mir im Herbste plötzlich an, auch mich zum Christenthum übertreten zu lassen. Meine erste Empfindung galt bei dieser Nachricht aber nicht der Freude, ein früher so sehnlich erstrebtes Ziel erreichen zu können, sondern nur dem entfernten Geliebten. Ich erinnerte mich der Ansicht, welche mein Vater vor der Taufe der Brüder über den Religionswechsel der Frauen ausgesprochen hatte, ich mußte danach diesen plötzlichen Entschluß, mich Christin werden zu lassen, irgendwie auf Leopold's Einwirkung zurückführen, und während ich meine Zufriedenheit mit der erlangten Bewilligung aussprach, dachte ich eigentlich an nichts weniger, als an irgend etwas Religiöses.

Alle meine Hoffnungen belebten sich neu – alle täuschten sie mich. Leopold hatte gar nichts mit dem Entschlusse meiner Eltern gemein, er lebte nach wie vor bei seinem Bruder, und wenn ich unsere Freundin nach ihm fragte, so erhielt ich den Bescheid, daß seine Gesundheit schlecht sei, daß er seine Eltern im Harz besucht habe, und mit dem Vorsatz, noch in Preußen zu bleiben,[319] hierher zurückgekommen sei. Aber sein Fieber kehre immer wieder, er sei recht krank, und wenn ich gescheut wäre, würde ich ihm längst einmal geschrieben haben.

Bald nachher begann der Religionsunterricht, den mir der treffliche Consistorialrath Kähler ertheilte. Weil ich achtzehn Jahre und somit zu erwachsen war, um der allgemeinen Kinderlehre beizuwohnen, hatte Kähler die Güte, mir besondere Stunden zu bewilligen, und je nachdem es sich mit seinen Vorlesungen an der Universität und mit seinen übrigen Beschäftigungen vertrug, ging ich zweimal in der Woche des Abends zu ihm, wenn er es nicht vorzog, zu mir zu kommen.

Das waren schöne, förderliche Stunden, wenn schon sie, sicherlich gegen die Absicht meines würdigen Lehrers, schließlich nicht dazu beigetragen haben, mich in dem Glauben an die eigentlichen Dogmen des Christenthums zu befestigen. Kähler war ebenso geistreich als durchgebildet, ein kluger, erfahrener und herzenskundiger Mann. Es fällt mir, so oft ich mich seiner erinnere, der Ausspruch des heiligen Augustinus ein: Im Wesentlichen Einheit, im Zweifelhaften Freiheit, in Allem – Liebe!

Er war streng und fest in seinen Ansprüchen an die Moralität der Menschen, duldsam gegen ihre Ansichten und gütig in all seinem Lehren und Denken. Er hatte sorgenvolle Jahre durchlebt, und doch sah man seiner geistvollen Stirn, seinen blitzenden, hellblauen Augen keine Spur dieser Leiden an. In Königsberg genoß er der größten Verehrung. Seine Collegien waren von den Studenten eben so besucht, als seine Predigten von den Gebildeten aller Stände, und seine Aufklärung und[320] Toleranz waren so anerkannt, daß selbst Juden sonntäglich zu seinen Predigten gingen und zu seinen begeistertsten Verehrern zählten.

Er selbst hielt Verkehr mit mehreren jüdischen Familien, und es war zum Theil sein Beispiel, nicht allein die fortschreitende Aufklärung der Zeit – denn der einzelne Mensch macht und befördert den Fortschritt der Gesammtheit – das allmählig das Verhältniß der Christen zu den Juden zu einem besseren umgestaltet hatte. Grade aber seine Kenntniß des jüdischen Geistes gab ihm auch den Maßstab für dasjenige, was einem außerhalb des Christenthums erzogenen Menschen von den Dogmen desselben zugänglich werden könnte, und was nicht.

Ohne zu ahnen, wie sehr er damit dem Zuge meines Geistes begegnete, wies er mich vornehmlich auf Christus, den durch sein Leben und sein Beispiel die Welt erlösenden Befreier, hin. Die Lehren des Christenthums hatten in den letzten Jahren oft den Gegenstand der Unterhaltung gebildet, wenn Leopold bei uns und der Vater nicht zugegen gewesen war, der solche Erörterung mit einem Gläubigen nicht lieben konnte. Von dem Munde Leopold's kommend, hatte die christliche Liebeslehre eine neue Bedeutung, einen höheren Werth für mich erlangt, und weil er glaubte, hatte ich mir nicht mehr erlaubt zu zweifeln. Ich hatte nicht denken mögen, weil es mir süßer war, mit ihm gemeinsam zu empfinden. So hatte ich mich in aller Unschuld in ein Gewebe von Halbheit und Selbstbetrug eingesponnen, und hatte felsenfest geglaubt, mit meinen Ueberzeugungen mich auf dem Standpunkte zu befinden, den Leopold als Schüler Kähler's einnahm,[321] und den auch dieser natürlich festhielt. Mit gutem Gedächtniß und weiblicher Aneignungsfähigkeit hatte ich mir eine Reihe von fremden Anschauungen erworben, mit denen mein Lehrer zufrieden war. Er hatte offenbar Freude an meinem Bestreben, mich im Christenthume festzusetzen, und von diesem Mittelpunkte aus die Welt und das Wesen der Menschen, unsere Pflichten und unsere Hoffnungen verstehen zu lernen.

Sein Unterricht war kein pedantisches Lehren, sondern ein freies Besprechen, das jede Frage und jeden Einwand von meiner Seite zuließ. Ich war in unserm wie in seinem Hause immer während des Unterrichts mit ihm allein, und er hatte mir ein solches verehrendes Vertrauen eingeflößt, daß ich ihm sicher alle meine Zweifel ausgesprochen haben würde, hätte ich deren in seiner Nähe gehegt. Es giebt aber Menschen von einer solchen geistigen Ueberlegenheit, daß sie uns durch ihr Wort, durch ihren Blick, und vollends durch ihr eigentliches Sein in den Kreis ihres Denkens bannen, und zu diesen gehörte Kähler. Nicht, daß er mich eingeschüchtert, meine Denkfreiheit gehindert hätte. Im Gegentheil! Er fragte mich immer sehr genau, ich antwortete ebenso. Wo ich nach seiner Meinung irrte, klärte er mich mit seiner auf das Wesentliche gestellten Duldsamkeit freundlich und geduldig auf, und so lange ich mit ihm war, ja während der ganzen Monate, welche dieser Unterricht währte, fühlte ich eine wachsende Zufriedenheit, die ich meiner klarer werdenden Erkenntniß des Christenthums zuschrieb, und von der ich dachte, daß Leopold große Freude daran haben würde, wenn er darum wüßte.[322]

Im Februar erklärte mein Lehrer mich genugsam vorbereitet, die Taufe zu empfangen. Der vierundzwanzigste Februar, der Hochzeitstag meiner Eltern, wurde für diesen kirchlichen Akt festgesetzt, und Kähler forderte mich nun auf, ein Glaubensbekenntniß anzufertigen, zu dem ich mich dann in Gegenwart der Freunde bekennen sollte, die ich mir zu meinen Taufzeugen auserwählt hatte.

Indeß kaum setzte ich mich nieder, dieses Glaubensbekenntniß zu schreiben, als ich – nun allein im Nachdenken mit mir selbst, die unwiderstehliche Einsicht gewann, daß ich beinahe Nichts von Alle dem glaubte, was das Wesen des kirchlichen Christenthums ausmachte, was die eigentlichen Glaubensartikel bildet. Ich glaubte nicht an die göttliche Abstammung des Heilandes, ich glaubte nicht an den »einigen Sohn, unsern Herrn, der empfangen ist vom heiligen Geiste, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontio Pilato, gekreuzigt, gestorben und begraben, niedergefahren zur Hölle, am dritten Tage wieder auferstanden von den Todten, aufgefahren gen Himmel, sitzend zur rechten Hand Gottes, des allmächtigen Vaters, von dannen er kommen wird zu richten die Lebendigen und die Todten.« – Ich glaubte nicht an Unsterblichkeit, geschweige denn an die Auferstehung des Fleisches; ich glaubte weder an eine angeborene Sünde, für die ich, obschon ich sie schuldlos trug, zu büßen hätte; noch an die Möglichkeit von einer Sünde, die ich selbst und frei begangen hätte, erlöst werden zu können durch den Tod des vor achtzehnhundert Jahren schuldlos gekreuzigten Ideals der Menschheit. Ich[323] glaubte auch nicht an die befreiende Kraft des Abendmahls; an Nichts glaubte ich eigentlich von Alle dem, zu dem ich mich bekennen sollte, und ich war darüber in Verzweiflung.

Ich hatte mehrere Tage Zeit für die Ausarbeitung meines Glaubensbekenntnisses erhalten, und jeder hinschwindende Tag steigerte meine Rathlosigkeit. Ich schreckte vor dem Gedanken zurück, feierlich eine Unwahrheit auszusprechen und also bei der Taufe einen Meineid zu schwören. Ich schreckte fast ebenso vor dem Gedanken zurück, dem verehrten Lehrer zu sagen, wie weit ich die Freiheit der rationellen, menschlichen Deutung des Christenthums ausgedehnt hatte, zu der er mir freilich in seinen Erklärungen desselben ein gewisses Recht gegeben. Ich stellte mir vor, welchen Eindruck es auf Leopold machen würde, wenn er erführe, – und er mußte das durch die Kähler'sche Familie nothwendig erfahren – daß ich mich schließlich geweigert, zum Christenthume überzutreten. Alles, was wir miteinander gesprochen, mußte ihm einfallen, Alles, was ich ihm oft gesagt, mußte ihm wie eine absichtliche Lüge erscheinen. Er, mein Lehrer, meine Eltern, Mathilde, sie mußten Alle an mir irre werden, – war ich es doch beinahe an mir selbst geworden!

Wer aber in solchem Falle nicht an sich selbst verzweifeln will, der kommt leicht dahin, an den Andern zu zweifeln, und der Instinkt der Selbsterhaltung trieb mich auf diesen Weg. Ich fing an mich zu fragen, ob mir mein Lehrer denn auch wirklich den letzten inneren Kern seines Glaubens enthüllt habe? Ob es nicht die Geistlichen der christlichen Kirche ebenso mit den Dogmen[324] und mit den Mysterien hielten, wie sie selbst es von den heidnischen Priestern erzählten, welche dem Laien das Symbol statt der Wahrheit gaben. Ich fragte mich, wie es möglich sei, daß ein Mann von so scharfem Geiste wie Kähler, ein Mann von so ernstem Ringen nach Wahrheit wie Leopold, an die Mysterien des Christenthums glauben könnten; und weil mir dies für mich unmöglich fiel, sagte ich mir dreist, daß es auch ihnen unmöglich sein müsse, daß sie sich ein Recht zuerkennen müßten, innerhalb der festgestellten Dogmen sich einen geläuterten Inhalt, innerhalb der Form den reinen Geist zu denken. Eine Religion, die für Alle auf ein Mysterium gegründet war, mußte auch dem Einzelnen sein Mysterium zugestehen, und wenn die Lehrer des Christenthums sich mit einem schweigenden Wissen neben dem ausgesprochenen Bekenntniß abfinden zu können glaubten, warum sollte ich nicht dasselbe thun dürfen, wenn ich mich in der gleichen Lage befand wie sie? – Ich wiederhole es: weil ich auf dem Punkte stand, feierlich eine Unwahrheit auszusprechen, klagte ich die Männer, welche ich verehrte, in meinem Herzen des gleichen Unrechts an!

In diesem Sinne mich beschwichtigend, ging ich daran, mein Glaubensbekenntniß zu verfassen. Es war ein trauriges Muster von schwungvollem Jesuitismus. Ich vermied so viel ich konnte jede positive Erklärung, und bei der Unklarheit, mit welcher junge Mädchen sich im Allgemeinen über abstrakte Gegenstände auszudrücken pflegen, hätte es in manchem andern Falle wohl passiren können. Für mich aber, die schon damals Herrschaft über ihre Gedanken und deren Ausdruck besaß, war es ein reines[325] Product der Berechnung, und als solches mir in späteren Jahren so unheimlich und widerwärtig, daß ich es gelegentlich verbrannte, um dieses Actenstück gegen meine Wahrhaftigkeit nicht immer wieder zu Gesichte zu bekommen.

Der Tag meiner Taufe rückte nun heran, sie sollte, wie die meiner Brüder, wieder in der Kähler'schen Wohnung vollzogen werden, weil man bei uns zu Hause kein Aufsehen damit machen wollte, und es war eine Abendstunde dazu festgesetzt. Ich hatte mir meine Taufzeugen selbst gewählt: ein Paar ältere, meinen Eltern befreundete Männer, die ich schätzte, die Consistorialräthin Kähler, ein wahres Musterbild einer edlen und gebildeten Matrone, und meine Freundin Mathilde. Meine Eltern, meine Brüder waren zugegen, die Taufe, die Confirmation gingen in würdiger Weise vorüber. Meine gute Mutter war sehr erfreut, wieder eines ihrer Kinder dem Judenthume entzogen zu haben; mein Vater sagte: möge es Dir zum Guten gereichen! – Das war Alles.

Als ich nun aber dastand, aufgenommen in den Bund der christlichen Gemeinde, als meine Freundin, meine Brüder mich beglückwünschten und umarmten, als ich selbst mir sagen mußte, daß ich mich mit diesem Schritte in gewissem Sinne Leopold genähert und von den Eltern entfernt hatte – fand ich mich dem Ersteren grade jetzt mit allem meinem Glauben ferner, und meinem Vater mit meinen Ueberzeugungen enger verbunden, als je zuvor. Es war einer der wenigen Momente meines Lebens, in denen ich mich mit mir selbst im Zwiespalt und deshalb sehr unglücklich fühlte.[326]

Ich war mir bewußt, einen Entschluß, an den ich mit gutem Glauben, mit Liebe und mit Zuversicht herangetreten war, mit einer mir sonst fremden Heuchelei ausgeführt zu haben, weil mir der Muth gebrach, einen Irrthum einzugestehen und mich mit Denen, welche ich am meisten liebte, in offenen Widerspruch zu setzen. Ich hatte mich vor mir selbst vergangen aus Menschenfurcht und Liebe, und wenn ich in jener Stunde, die immer einen Abschnitt in meinem Leben bezeichnete, auch keinen andern guten Vorsatz gefaßt hätte, so gelobte ich mir wenigstens, daß es das erste und das letzte Mal gewesen sein sollte, wo ich von dem Gott der Wahrheit und der furchtlosen Wahrhaftigkeit abgefallen wäre. Und ich glaube, daß ich dies gehalten habe. – Die Bedeutung und der Geist des Christenthums als reinste Lehre der Befreiung und der Brüderlichkeit gingen mir aber erst in einer Zeit auf, in welcher die Tage der ersten Jugend schon sehr weit hinter mir lagen.[327]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 1, Berlin 1871, S. 313-328.
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