Neunzehntes Kapitel

[328] Mit der fortschreitenden Bildung seiner Kinder hatte meines Vaters eigene Bildung nach allen Seiten zugenommen, und so viel auch seine Söhne an Einzelwissen durch ihre Gymnasialbildung vor ihm vorausbekommen konnten, so blieb er ihnen doch nicht nur durch seine Jahre und seine reife Einsicht überlegen, sondern seine Gesammtbildung überflügelte uns Alle, bis wir selbst über die Jugend hinausgekommen waren. An ihm stellte es sich recht deutlich dar, was mir mein späteres Leben so oft bewahrheitet hat: daß nicht das viele Wissen, sondern das rechte Verstehen und das Zusammenhalten des Erlernten mit dem, was wir erleben, die Bedeutung eines Menschen bedingen. Wäre das bloße Wissen, das bloße in sich Aufnehmen ausreichend, Bedeutung zu verleihen, so müßten alle Gelehrten, die des Studirens, und alle die müßigen Männer und Frauen, die des Lesens und Lernens kein Ende finden können, bedeutend sein, während sie doch so häufig nur abstrakt, unpraktisch und für das Leben fast überall nicht zu brauchen sind. Es gehört ein starker Kopf, es gehört große geistige Selbstthätigkeit dazu, viel in sich aufzunehmen. Wem diese Bedingungen fehlen, den lähmt und verdummt das fortwährende[328] in sich Aufnehmen fertiger Resultate, statt ihn zu fördern.

Daß man nicht Zeit haben könne, zu lesen und sich zu bilden, das war Etwas, was der Vater in keinem Lebensverhältniß »statuirte«. Die Menschen kommen zu Nichts, pflegte er zu sagen, weil sie nicht darauf achten, daß wir zwei Ohren, zwei Augen und nur einen Mund haben, damit wir viel sehen und hören und wenig reden sollen. Sie bringen die Zeit mit unnützem Schwatzen hin, und beklagen sich dann über Mangel an Zeit. Wenn sie nur überlegen wollten, was sie von ihrem Plaudern mit Andern haben, würden sie einen Widerwillen dagegen bekommen. Ein Mann, der viel über kleine Tagesereignisse sprechen, den Frauen galante Dinge sagen konnte, war ihm ein Gegenstand komischer Verwunderung. Kam er einmal in einen Kreis, in welchem sich die gewöhnliche Frauenunterhaltung in ihrer fast geheiligten Trivialität breit machte, so war es ein Vergnügen, den freundlichen Ausdruck des lächelnden Erstaunens in seinem edlen Antlitz zu beobachten, mit dem er auf eine solche Gesellschaft wie auf Wesen einer ganz besonderen Species hinsehen konnte.

Er war von einer großen, aber sehr ruhigen Thätigkeit, wobei ihm freilich eine vollkommene Gesundheit zu Statten kam. Im Sommer stand er um fünf Uhr, im Winter um sechs Uhr auf, und hatte dann zwei Stunden, die er, ehe er in sein Geschäft ging, mit Lesen zubrachte. Einige Jahre hindurch hatte er sich hauptsächlich mit historischen Werken beschäftigt. Im Laufe des Tages kamen dann, sobald sich ihm ein Paar Augenblicke des[329] Rastens boten, die Königsberger und Berliner Zeitungen an die Reihe; denn der Vater hatte von jeher eine große Theilnahme für die Zeitereignisse und für die Politik gehabt, und spät am Abend fand er immer noch eine Weile, sich mit den neuen Dichtungen und Romanen bekannt zu machen, an welchen letzteren ihn aber nur, wie er es nannte, »das Mährchen« interessirte, während die eingestreuten Gedanken und Betrachtungen der Verfasser ihm als eine Störung in seiner Unterhaltung lästig waren. Später, als ich selbst Romane schrieb, pflegte er mich öfter scherzend zu fragen, weshalb die Dichter von ihren Romanen nicht zwei verschiedene Ausgaben veranstalteten, die eine mit guten Gedanken für Personen, die sich noch bilden wollten, und die andere ganz einfach und faktisch für ältere Personen, die selbst gedacht hätten und sich nicht mehr zu belehren brauchten.

Das Jahr achtzehnhundert und dreißig steigerte seine Theilnahme an der Politik. Die Namen der großen englischen und französischen Staatsmänner waren uns durch den Vater von jeher geläufig gewesen, und von früh auf hatten wir die Vorzüge der konstitutionellen Regierung rühmen hören. Als sich nun in Frankreich die Bewegung gegen die Reaction der Bourbonischen Herrschaft kund zu geben anfing, lebte und webte der Vater in der Theilnahme für die französischen Liberalen, und die Unterhaltung richtete sich mehr und mehr auf politische Gegenstände hin. Während man in den kaufmännischen Kreisen mit Besorgniß der Möglichkeit entgegensah, daß in Frankreich in Folge der Ordonnanzen eine neue Revolution zum Ausbruch kommen könne, hoffte[330] der Vater entschieden auf diese Umwälzung, und ich erinnere mich noch sehr deutlich, mit welch' leuchtenden Augen er uns die Nachricht von der Juli-Revolution verkündete.

Wir saßen mit der Mutter und ihrem ältesten Bruder, dem Doctor, unter dem Schatten der Markise auf dem Wolme, als der Vater die Stufen zu demselben schnell herauf kam. Er hielt ein Zeitungsblatt in der Hand und sagte: die Revolution ist ausgebrochen, Karl der Zehnte ist entflohen, die Liberalen haben gesiegt, der Herzog von Orleans ist zum General-Lieutenant von Frankreich proklamirt, Lafayette, Casimir Perrier, Lafitte haben das Ruder in Händen! Das wird Luft und Bewegung nach allen Seiten schaffen!

Der Vater war freudig erregt und schwungvoll, der Onkel, bedeutend älter als er, schüttelte abwehrend den Kopf. Die frühere Knechtschaft der Juden hatte ihn ängstlich gemacht, er war ein Bürger, wie despotische Regierungen sich ihn wünschen müssen. Er war vollkommen zufrieden, wenn man ihn seine Steuern zahlen, in seinem Berufe arbeiten und in seinem Hause nach Belieben schalten ließ.

Sprechen Sie nicht so laut davon! sagte er zum Vater, was soll Ihnen das? Sie sind ein Mann, der Frau und Kinder hat! Und was geht es uns an? Still sein und die Ohren ankneifen, ist immer das Beste.

Diese letztere Wendung war ein Lieblingsausdruck des Doctors, und dieser Ausdruck war dem Vater womöglich noch fataler, als die Gesinnung, aus welcher er[331] hervorging. Er antwortete entschieden ablehnend, der Onkel entfernte sich, und der Vater ließ sich nun von uns die Zeitungsberichte noch einmal vorlesen, gleichsam um sie doppelt zu genießen, wobei er der ersten französischen Revolution und ihrer Vorkämpfer gedachte, und mit Wärme die Entwickelung einer freien Verfassung auch für Preußen erhoffte. Die Julirevolution war recht eigentlich eine Revolution nach seinem Sinne, denn sie brachte den gebildeten Bürgerstand an das Regiment, sie legte die Gewalt und den Schwerpunkt in die Hände des Standes, zu dem er selbst gehörte, in die Hände der intelligenten Gewerbtreibenden, und darüber hinaus gingen weder die Wünsche, noch die Ansichten des Vaters. Hätte er die Zeit von achtzehnhundert acht und vierzig erlebt, hätte er sich in einer solchen Zeit in der Fülle seiner Kraft befunden, so würde er sich ohne Frage den Bestrebungen der Demokratie auf das entschiedenste abgeneigt bewiesen haben. Er war allen seinen Untergebenen ein gerechter und vorsorglicher Herr, sie blieben lange in seinen Diensten, sie hingen alle an ihm und verehrten ihn, wie auch die Handwerker es thaten, die er beschäftigte. Aber den Gedanken, daß seine Commis, sein Herr Jürgens, sein Herr Ehlers, daß seine Arbeiter, sein Wilhelm und sein Friedrich, mit ihm gleich stimmberechtigt sein sollten, daß seine Faßbinder, seine Weinschröter mit ihm zusammen wählen, daß sie neben ihm Etwas zu sagen haben sollten, würde er als eine Thorheit, ja als eine Beleidigung seiner Würde von sich gewiesen haben. Er war eine durchaus auf das Befehlen und auf die Ausübung der Oberherrlichkeit gestellte Natur. Selbst in den[332] Beziehungen zu seiner Familie war Etwas von dem alten Stammesoberhaupt in ihm zu fühlen, und als Edelmann geboren, würde er ein starrer Aristokrat gewesen sein. Er galt mir in diesem Betrachte immer als ein Beweis dafür, wie schwer selbst Menschen von hellem Geist und edlem Herzen die Schranken der Zeit überschreiten, in welcher sie die Jahre ihrer Kraft verlebten.

Auf mich aber machte die französische Revolution einen tiefen Eindruck, denn sie war nächst dem griechischen Freiheitskampfe, dessen Helden und Thaten mich in der Kindheit doch nur wie märchenhafte Erscheinungen berührt hatten, das erste große Ereigniß, das ich mit deutlichem Bewußtsein, und mit meinem Verständniß darauf vorbereitet, erlebte. Ich kannte die Heldenthaten, welche durch die Jahrtausende für Erlangung einer unterdrückten Freiheit unter den verschiedenen Völkern verrichtet worden waren, ich hatte eine große Begeisterung für die deutschen Freiheitskämpfe gegen die Napoleonische Herrschaft gewonnen, aber mich erfaßte von jeher selbst das Geringere, was in meinem Bereiche, was mir gewissermaßen sinnlich nahe und erreichbar war, viel lebhafter als das Größere, das mir fern ab lag. Da mir nun ohnehin die französische Sprache lieb und geläufig, die französische Literatur theilweise bekannt war, so bildete sich in mir in jener Zeit durch die Theilnahme an der Julirevolution die Theilnahme an den öffentlichen Dingen überhaupt aus, die mich seitdem nicht mehr verlassen hat. Theilnahme an einem Allgemeinen aber haben wir nöthig, um es zu empfinden, wie gering einerseits die Bedeutung des Einzelnen in der Gesammtheit ist, und um uns doch andrerseits[333] auch wieder daran zu erinnern, daß die Masse der Einzel-Bestrebungen allein das Gelingen und den Fortschritt der Gesammtheit möglich machen.

Bei den Männern in unserer Familie fand der Vater mit seiner Freude an der Julirevolution keinen sonderlichen Anklang. Sie standen ihm an Bildung mehr oder weniger fern, und unser Verhältniß unter unsern Anverwandten war überhaupt ein besonderes geworden.

Die Zeiten, in welchen alle Stämme unserer Familie in ziemlich ähnlicher Lage gelebt hatten, waren lange vorüber. Man ging nicht mehr, wie das noch in meiner Kindheit geschehen war, einander nach dem Abendbrode besuchen, um noch bei einem Glase Punsch oder Kalteschaale, je nach der Jahreszeit, eine Stunde zu plaudern, man wohnte nicht mehr so nahe beisammen, auch die Vermögensumstände waren ungleich geworden. Ein Paar von den Schwestern meiner Mutter waren reiche oder doch wohlhabende Frauen, eine Andere hatte es nicht reichlicher als wir, die Schwestern meines Vaters kämpften fortdauernd mit Mangel, da ihre Männer sich nicht aus ihren Verlusten heraufzuarbeiten verstanden; und obschon man sich gegenseitig nach Kräften half und stützte, wurde nicht nur die Lebensweise in den verschiedenen Häusern, sondern auch der Bildungsgrad, die Interessen, der Umgang und die Erziehungsweise der Kinder je nach den Umständen eine verschiedene.

Die Mutter hatte mit ihren Schwestern, von denen nur eine Kinder hatte, so lange sie lebte, ein herzliches Verhältniß, die Tanten schätzten auch den Vater sehr, und hatten uns Kinder lieb; aber die ganze Erziehung[334] und die ganze Richtung, welche uns gegeben worden, wurde fortdauernd kritisirt und als zu vornehm bezeichnet, obschon der älteste Schwager meiner Mutter, ein sehr vermögender und geachteter Mann, bei dem Unterrichte seiner Kinder, die theils älter, theils jünger als ich, mir liebe Genossen gewesen sind, es auch in keiner Weise fehlen ließ. Aber meine Cousinen hatten die Aussicht, einst wohlhabend zu werden, wir hatten diese Aussicht nicht, und so mußte ich von den Onkeln und Tanten oftmals den Ausspruch hören, daß ich weit über unsere Verhältnisse erzogen, daß ich für keinen Mann unseres Standes passen würde, da der Vater ja nur gelehrte und studirte Leute, und gar keine jüdischen jungen Kaufleute bei sich sähe; und als ich dann vollends zum Christenthume übergetreten war und die Verbindung mit Leopold sich zerschlagen hatte, gehörte die Frage, was der Vater einmal mit den sechs vornehm gewöhnten Töchtern anzufangen denke, zu den Hauptunterhaltungen, mit denen meine kinderlosen Onkel und Tanten, wenn ich allein bei ihnen war, mich heimzusuchen pflegten.

An meinen Vater kamen solche Bemerkungen nie heran, denn Jeder wußte, daß er der Mann war, sie so entschieden als möglich abzuweisen, aber die Mutter wußte sich ihrer nicht zu erwehren und wurde dadurch verstimmt. Sie that für uns mit dem unabweislichen Glauben, daß Bildung das höchste Glück sei, was irgend in ihren Kräften stand. Sie wachte über unser äußeres Betragen, über unsere Sprache und Haltung mit so feinem Gefühl und mit solch unermüdlicher Geduld, als wäre ihr in ihrer Jugend Aehnliches zu Theil geworden. Sie konnte jedoch[335] nicht sagen, was sie sich eigentlich von unserer Zukunft für ein Bild machte, und einzugestehen, daß ihr Hauptwunsch darauf gerichtet sei, uns nicht an Juden zu verheirathen, ja uns womöglich aus jedem Zusammenhange mit Juden zu entfernen, das konnte sie nicht über sich gewinnen.

Ich selbst half mir meinen Verwandten gegenüber stets mit Trotz. Ich wußte, daß keine der Anklagen gegen meine sogenannte Verwöhnung und Vornehmheit zutraf, denn von mir allein konnte die Rede sein, da die andern Schwestern sämmtlich noch Kinder waren. Ich nähte, arbeitete, leistete in der Familie grade so viel, wo nicht mehr als alle andern Mädchen, ich schneiderte für das ganze Haus, ich faßte überall an, griff überall zu, wo es in der Wirthschaft nothwendig war; aber weil die Mutter uns gewöhnt hatte, von früh bis spät völlig angekleidet zu sein, und es uns nie zu irgend einer Arbeit »bequem zu machen«, und weil wir Alle zufällig hübsche Hände hatten, denen die Arbeit Nichts anthat, so hieß es dann immer, wir müßten wohl die Hände nicht in kalt Wasser stecken, um sie für das Clavier und die Gesellschaft weiß zu erhalten, und was es an ähnlichen Bemerkungen müßiger Frauen noch mehr gab.

Weit entfernt mich zu vertheidigen, ließ ich mir das gern gefallen. Sagte man mir, ich sei zu vornehm, so versicherte ich, ich würde einmal noch viel vornehmer werden, wenn ich Herr meiner Handlungen wäre. Setzte man mir auseinander, daß ich für keinen Mann unseres Standes passe, so erklärte ich, daß es mir auch nie eingefallen sei, einen solchen jemals heirathen zu wollen.[336] Warfen sie mir vor, daß ich an irgend einem Orte nicht herangekommen sei, sie zu begrüßen, was sie mir als eine Verläugnung auslegten, so lachte ich dazu in einer Weise, die sie deuten konnten, wie sie mochten. Ich hatte ein Vergnügen daran, sie zu ärgern, weil sie mir Unrecht thaten und mir Verdruß machten, und da sie es im Grunde doch gut meinten, da sie mich lieb hatten, so habe ich ihrer in späterer Zeit immer mit einer Art von Beschämung gedacht. Es ist aber ein durchgehender Zug in den jüdischen Familien, daß man, um in ihnen Duldung für sich und seine abweichende Richtung zu erlangen, reich sein muß. Dem reichen Juden verzeiht der ärmere Jude jeden Hochmuth, ja selbst eine Impertinenz; die Selbstachtung und das Streben des Unbemittelten, sich über die bisherigen Schranken der allgemeinen Familienbildung zu erheben, erscheinen ihm dagegen als eine nicht zu billigende Anmaßung, bis man sein Ziel erreicht hat, und der Familienstolz sich dann des Erwerbnisses des Einzelnen als eines Familiengutes bemächtigt, und es als solches schätzt und ehrt, ohne deshalb denjenigen nach Gebühr zu ehren, der sich emporgeschwungen hat. Es mag sich vielleicht auch unter den Deutschen und in den Familien aller Völker ziemlich das Gleiche wiederholen, ich habe es nur bei den Juden ganz besonders vorherrschend gefunden; und ich glaube, daß der oppositionelle Geist einzelner Juden, der zu Zeiten so viel von sich hat reden machen, seine Nahrung nicht nur direkt aus den staatlichen Verhältnissen derselben, sondern ebenso auch aus dem Gemeinde- und Familienleben der Juden gezogen hat, welche denn freilich auch[337] wieder durch ihre staatliche Ausschließung bedingt worden sind.

Damals war es nun, daß die Börne'schen Schriften ein großes Aufsehen zu machen begannen. Seine Auffassungsweise hatte etwas typisch Nationales, das uns Alle mächtig ergriff, seine Ideen hatten etwas Erweckendes, das die erzeugte Erregung nicht mehr zum Einschlafen kommen ließ. Man mußte sich rückerinnern, man mußte vorwärtsdenken! Jede einzelne dieser Börne'schen Skizzen war ein zündender Funke, in jeder seiner Arbeiten fühlte man, mit welcher Kraft der feste Verstand das heiße Herz zu bemeistern strebte, und wie das heiße Herz den Verstand zu seinen Schlüssen und Vergleichen vorwärtstrieb. Auch die kleinste von Börne's Arbeiten war ein Aufruf zur Befreiung von irgend welchen Vorurtheilen, ein Aufruf zur Freiheit überhaupt, und wie die Gedanken darin stark und frisch und muthig waren, so war auch der Styl freier, die Sprache, in welcher er redete, flüssiger und energischer geworden, als man es seit den Zeiten Lessing's erlebt hatte. Mich überraschte nicht nur der Geist der Börne'schen Schriften, sondern seine Sprache machte solchen Eindruck auf mich, daß ich nicht müde wurde, sie mir, rein um des Klanges und der Lebendigkeit willen, immer und immer wieder laut vorzulesen, so daß ich später einzelne Skizzen, wie: den »Roman« und den »Janustempel«, wörtlich auswendig wußte. Was Börne und Heine für die deutsche Sprache gethan haben, und daß sie es hauptsächlich gewesen sind, die ihr die Schnellkraft und Schlagfertigkeit wiedergegeben haben, welche allein sie für die Behandlung der politischen und[338] socialen Debatte geeignet machten, das hat man, dünkt mich, nicht nach Gebühr gewürdigt. Sie prägten die Goldbarren des Sprachschatzes, den Schiller und Goethe aufgehäuft hatten, in Münze um, und machten zum beweglichen und fördernden Gemeingut, was bis dahin schwer benutzbar, sich im ausschließlichen Besitze einiger Wenigen befunden hatte.

Der französischen Revolution folgte die belgische auf dem Fuße, die Welt war in Bewegung gekommen, man hörte unablässig neue, aufregende Nachrichten, und wollte deren immer noch mehr haben. Die Frage: was bringst Du Neues mit, lieber Vater? war Allen, wenn der Vater am Mittag um ein Uhr von der Börse zurückkehrte, sehr geläufig geworden. Wir waren dann meist Alle mit der Mutter in der kleinen Vorstube, die an der Straße lag, beisammen, um gleich in das große Wohnzimmer und zu Tisch gehen zu können, wenn der Vater heimkehrte; und so saßen wir auch im September einmal Alle mit unsern Arbeiten ihn erwartend da. Die Mutter an dem gewohnten Platz auf dem Fenstertritt, ich ihr, wie immer, gegenüber an demselben Fenster, die Schwester an dem andern Fenster, die Kinder und die Brüder in der Stube, als der Vater um die rechte Zeit nach Hause kam, und die Frage: Bringst Du etwas Neues, lieber Vater? ihn wie sonst auch empfing.

Ja! sagte der Vater, ich bringe etwas Neues, aber nichts Gutes, vielmehr etwas recht Trauriges!

Erschreckt, weil solche Anmeldungsweise gar nicht des Vaters Art war, sahen wir zu ihm empor, seine Mienen verkündeten, daß er selbst sehr betroffen war, und mit[339] bewegter Stimme sagte er: ich habe eben erfahren, daß Leopold in Braunsberg gestorben ist.

Alle schwiegen, Alle sahen nach mir, und ich saß so ruhig da, wie kaum einer der Andern. Gehört hatte ich ganz deutlich, was der Vater gesagt hatte, verstanden hatte ich es auch, ich hatte auch seit längerer Zeit davon sprechen hören, daß Leopold's Fieber immer wiedergekehrt sei, und daß man für seine Brust zu fürchten anfange; aber kräftig und lebensvoll, wie ich ihn gekannt, hatte ich ihn mir eigentlich kaum krank, geschweige denn in irgend einer Gefahr zu denken vermocht, und daß er todt sein könne – das faßte ich nicht. Ich war wie betäubt, ich empfand Nichts als eine Art innerlicher Lähmung.

Die Mutter fragte um die nähern Umstände, mein Bruder, der Leopold sehr lieb gehabt hatte, war erschüttert, die Schwestern alle sprachen freundlich und bedauernd von ihm, ich saß immer fort. Endlich sollte man zu Tische gehen, und die Eltern fragten mich, ob ich vielleicht in meiner Stube essen wolle? Ich lehnte das ab und ging mit den Andern ruhig zu Tisch. Und so sonderbar ist unser Wesen organisirt, daß ich mich heute noch der Speisen erinnere, welche ich damals genoß, daß ich mich erinnere, wie der Vater während der Mahlzeit den Handlungsgehilfen die Nachricht von Leopold's Tode mittheilte, während ich doch die ganze Zeit wie empfindungs- und gedankenlos dabei war.

Nach der Mahlzeit ging ich gewöhnlich in meine Stube. Ich that das auch an dem Tage. Die Schwestern und die Brüder waren in ihre Schule und in ihr Gymnasium[340] gegangen, ich saß an dem Fenster, an dem ich immer gesessen, wenn Leopold früher Mittags mit seinen Schülern die Straße hinabgekommen war, mich zu sehen und zu grüßen. Heute kam er nicht – und er konnte nun auch nie wieder kommen!

Das sagte ich mir immer, weil ich gern hätte weinen mögen, weil ich gern hätte aus der Leblosigkeit herauskommen mögen, die mich befallen hatte; aber es half mir Nichts. Ich konnte nicht weinen, und mitten aus der Erstarrung rang sich in mir eine verzweiflungsvolle Reue darüber empor, daß ich blind und willenlos wie eine Maschine den Befehlen meines Vaters Folge geleistet, daß ich nicht den Vorstellungen meiner Freundin gefolgt war, und ihn nicht wiedergesehen hatte, als er mich wiederzusehen verlangt. Ein nicht zu bannendes Schuldbewußtsein, ein Zorn gegen meinen Vater kamen als neue quälende Gefühle hinzu, und dabei immer das Gefühl der Erstarrtheit. Es waren ein Paar Stunden, deren ich noch mit Entsetzen gedenke.

Der Besuch einer Freundin, die Leopold's Tod ebenfalls erfahren hatte, riß mich aus der Lähmung meines ganzen Wesens heraus. Ihr bleiches Gesicht, die Zärtlichkeit, mit welcher sie mir um den Hals fiel, ihre Thränen riefen die meinen hervor, ich weinte, ich fing an zu sprechen, ich konnte fühlen, was ich verloren hatte – und ich war noch so jung, daß ich glaubte mit allen Wünschen und Hoffnungen für das Leben fertig zu sein. Das Unglück, das die Jugend trifft, wirkt darum so stark, weil sie die herstellende Kraft des Lebens noch nicht kennen gelernt hat, und also jeden Verlust wie einen[341] unersetzlichen empfindet, jede zerstörte Hoffnung als die einzige und letzte anzusehen geneigt ist. Es ist deshalb in diesem Sinne sehr falsch, die Jugend als die Zeit des Muthes und der Hoffnung zu bezeichnen, welche Beide weit mehr eine Frucht der Erfahrung und ein Erwerbniß der reifen Jahre sind.

Weder mein Vater noch meine Mutter sprachen nach jenem Tage je wieder eine Sylbe über Leopold zu mir, noch ich zu ihnen. Meine herangewachsenen Geschwister und ein Paar von meinen Freundinnen trösteten mich so gut sie konnten, und boten mir die Möglichkeit, von ihm zu reden. Wie er die letzten Zeiten seines Daseins zugebracht, wie er gestorben war, darüber habe ich Nichts erfahren. Es blieb mir dunkel und geheimnißvoll. Nur mein Verlust war mir klar. Ich hatte ein ganzes Liebesleben durchlebt und durchlitten, ohne den Gegenstand desselben je anders als im Beisein meiner ganzen Familie gesprochen zu haben; ich hatte eine Zukunft sich vor mir aufbauen sehen, ohne andere Basis, als die des Glaubens an den Geliebten, und sie war zusammengestürzt, ohne daß ich begreifen konnte, woher der vernichtende Stoß gekommen. Ich stand an einem Grabe, und durfte kaum zeigen, daß ich trauerte. – Eines aber hatte ich gewonnen – die Kraft innerlich zu erleben, ohne nach außen viel davon zu verrathen, die Kraft mich auf mich selbst zu stellen und mich in mich selbst zusammen zu fassen. –

Viele Jahre später, als ich einmal mit meinem Freunde Johann Jacoby aus Königsberg über diese Aufzeichnungen aus meinem Leben sprach, kamen wir auch auf Leopold zu reden, der sein Freund gewesen war. Aber auch ihm[342] war das Verhalten desselben ein Räthsel geblieben, und als ein solches hat die Erinnerung an diese Jugendliebe mich durch mein Leben begleitet. Ein Brief, den Leopold wenig Monate vor seinem Tode an Johann Jacoby geschrieben, und den dieser mir neuerdings einmal gesendet hat, als er ihm durch Zufall in die Hände fiel, war die erste Handschrift, die ich jemals von Leopold gesehen habe. Er war einige Monate vor seinem Tode aus seinem Vaterhause im Harz datirt, und enthielt die Mittheilung, daß er trotz des Wunsches seines Vaters, der den Sohn zum Adjunkten verlangte, nach Preußen zurückkehren und in Königsberg ein Hilfslehreramt an einem der Gymnasien antreten wollte. Ein neues Erkranken hielt ihn auf dem Wege im Hause seines Bruders fest, und dort ist er gestorben.

Personen meines damaligen Umgangskreises haben, als ich später dichterisch zu schaffen angefangen hatte, in meinem zweiten Romane »Jenny« eine Geschichte dieser Jugendliebe zu finden geglaubt; indeß wer meine jetzige Erzählung und jene Dichtung vergleicht, wird es herausfühlen, daß in »Jenny« weit mehr meine religiösen Erlebnisse und die Erfahrungen, welche ich über die sociale Stellung der Juden zu machen Gelegenheit hatte, ihre poetische Abspiegelung und Verklärung gefunden haben, als meine Herzenserlebnisse. Ich war nicht reich wie Jenny, ich hätte dem Geliebten gar keine Opfer zu bringen gehabt, und nicht nur würden meine Eltern zufrieden gewesen sein, mich einem jungen Theologen zu verheirathen, sondern ich selber würde es, ganz abgesehen von meiner Neigung für Leopold, damals als ein großes Glück betrachtet haben, die Frau eines Landpredigers zu werden;[343] und von des Candidaten Reinhold eigensüchtigen Wunderlichkeiten war in dem schönen und einfachen Charakter Leopold's nicht eine Spur zu finden. Ich habe überhaupt niemals in meiner ganzen dichterischen Thätigkeit ein reines Portrait von irgend Jemand dargestellt, und niemals ein wirklich erlebtes Faktum in seiner Nacktheit wiedergegeben, wenngleich ich hie und da eine einzelne Scene, einen Moment, einen episodischen Vorgang nach meinen Erlebnissen oder nach Erfahrungen an Fremden, hingestellt habe. Ich meine, so wird es auch den Meisten ergangen sein, die eine selbstständig schöpferische Kraft in sich empfinden.

Der Dichter arbeitet in gewissem Sinne genau so, wie es der Maler und der Bildhauer thun, nur daß er nicht, wie diese, seine Studien im Momente auf dem Papiere festhält. Ich sah einmal in dem Atelier von August Schenk von Holstein in Paris, in der großartigen Skizze zu einer Cimbernschlacht, einen jungen Helden, der sich auf seinen Schild stützte, und dessen Haltung etwas ungemein Majestätisches und Edles hatte. Wissen Sie, wo ich den Burschen her habe? fragte der Künstler; das ist ein Fischer, den ich einmal, einer Poissarde gegenüber, sich genau so auf seinen geleerten Fischkorb stützen sah. Aehnliche Bemerkungen über das, was sie anregte und zeugend in ihnen wirkte, habe ich vielfach von Künstlern gehört, und gleiche Erfahrungen an mir selbst gemacht.

Wer zum Beobachten geneigt ist, nimmt unwillkürlich und fortwährend in sich auf. Wie sich uns Physiognomien einprägen, denen wir vielleicht nur einmal im Leben[344] flüchtig auf einer Eisenbahn begegnet sind, daß ihr Bild uns im Gedächtniß bleibt, ohne daß wir wissen, wer sie trägt, ohne daß wir je eine Sylbe mit ihren Trägern gewechselt haben, so prägen sich uns eine Masse von Thatsachen, von Charakterzügen, von Bemerkungen ein, aus denen sich jener geläuterte Vorrath von Erkenntniß und Einsicht bildet, den wir Erfahrung nennen. Aus der Fülle der beruhigten Erfahrung allein läßt sich aber ein reines Kunstwerk erschaffen.

Müssen doch der Maler und der Bildhauer bis zu einem gewissen Grade selbst von dem Portrait das ganz Zufällige in der Erscheinung fern halten, um das geistige Bild der Person rein darzustellen. Wollen sie aber eine selbstständige Gestalt erschaffen, so darf ihnen die trockene Naturstudie vollends nicht maßgebend sein. Ganz dasselbe gilt in noch höherem Grade von dem Dichter. Was er dem Leben ohne Läuterung und Idealisirung nachschreibt, wird kleinlich und entstellt, wie das Bild des Daguerreotyps. Was er selbstthätig aus dem angesammelten Schatze seiner Erkenntniß erzeugt, das wird, je nach seiner eignen Begabung, lebensfähig und wahrhaftig sein, und wenn es dies Beides in seinen ursprünglichen Elementen ist, so gewinnt es zwingende Kraft und Gewalt selbst dem Dichter gegenüber, daß er nur weiter schaffen kann innerhalb der Grenzen jenes ersten Erzeugens, und daß ihm als unwahr widersteht, was der innern Wahrhaftigkeit jenes hingestellten Charakters nicht entspricht. Es ist mir dabei oft das Bild des Goethe'schen Zauberlehrlings eingefallen. Sie heraufzubeschwören, die Geister, haben wir die Macht; aber sind sie einmal da, so hat man sich zu[345] wehren, daß sie nicht über uns Herr werden, und nur die Vernunft und die Gerechtigkeit des Dichters bannen sie in ihre Grenzen.

Ich komme auf das, was Wahrheit und was Dichtung in dem Dichter und im besondern in meinen Arbeiten ist, wohl später noch zurück, wenn ich mit diesen Aufzeichnungen bis zu dem Zeitpunkt gelangen sollte, in dem ich meine dichterische Thätigkeit begann.[346]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 1, Berlin 1871, S. 328-347.
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