Zweites Kapitel

[23] Meines Vaters Vermögenslage war günstig als er sich verheirathete. Er und sein Bruder betrieben ansehnliche Bankier- und Speditionsgeschäfte, und das Kapital, welches meine Mutter ihm zubrachte, eröffnete ihm in jener Zeit, in welcher das Geld fast noch einen doppelten Werth hatte, die Aussicht, seine Geschäfte in der ersprießlichsten Weise ausdehnen zu können.

Beer Markus und die Schwestern nahmen eine besondere Wohnung, meine Eltern bezogen ein Haus in der Vorstadt, das zur Freude meiner Mutter hinter dem großen Hofe, auf welchem sich die Waarenremisen befanden, einen kleinen Garten hatte. Sie richteten sich ansehnlich und behaglich ein, und in diesem Hause in der Vorstadt bin ich an einem Sonntag Morgen geboren worden.

Mein Vater stand in seinem vierundzwanzigsten Jahre, meine Mutter im einundzwanzigsten, als ich auf die Welt kam, und ich habe es immer als einen Vorzug betrachtet, ihr ältestes Kind gewesen zu sein, denn die Erstgeburt ist ohne alle Frage ein Glück für Denjenigen, welchem sie zu Theil wird. Ein eben solches[23] Glück aber war für uns Geschwister alle die frühe Heirath unserer Eltern. Denn wie mich immer der Gedanke gefreut hat, daß ich es war, durch welche die Eltern zuerst die Wonne der Elternliebe kennen lernten, daß ich sie zuerst Vater und Mutter genannt habe, so kam uns Allen, je mehr wir heranwuchsen, die Jugendlichkeit unserer Eltern überall zu statten. Sie empfanden die Mühe und Störniß welche wir ihnen verursachten minder schwer, als Personen vorgerückten Alters; sie hatten ein Verständniß für unsere Wünsche und Fehler, weil ihnen selbst die Erinnerung an die eigene Jugend noch so nahe lag. Und die Hauptsache war: wir selber fühlten uns ihnen, als wir herangereift waren, näher verwandt, als es bei bejahrten Eltern vielleicht der Fall gewesen wäre. Junge Eltern zu haben, ist für Kinder ein ganz unschätzbarer Gewinn.

Ich soll sehr klein gewesen sein, dafür aber den ganzen Kopf voll krauser schwarzer Locken gehabt haben, als man mich meinem Vater brachte. »Ich habe mich sehr mit Dir gefreut!« sagte er mir einmal, als ich ein junges Mädchen war und in meiner Gegenwart die Rede auf meine Geburt kam; und noch in viel spätern Jahren pflegte er wohl gelegentlich meinen Kopf in seine Hände zu nehmen, und wenn er mich küßte, dazu sehr zärtlich: »mein ältestes Kind!« zu sagen. Wir haben einander sehr geliebt.

Meine Mutter konnte mich nicht selbst nähren. Man nahm daher eine Amme in das Haus, eine schöne, blonde und sehr fröhliche Person, die mehrere Jahre bei uns blieb, und die heute noch gesund und rüstig in meiner[24] Heimath lebt. Meine Eltern waren in den ersten Monaten nach meiner Geburt so glücklich, als ein schönes, junges, sorgenfreies Menschenpaar, das sich zärtlich liebt, es mit seinem ersten Kinde nur sein kann. Indeß schon in der Mitte des Sommers von achtzehnhundert eilf veränderte sich das plötzlich.

Mein Vater ging am Mittage, wie gewöhnlich, nach der Börse, meine Mutter hatte mich auf dem Arme und begleitete ihn bis zur Hausthüre, von wo aus sie ihm grüßend nachsah, so weit sie konnte. Dann ging sie in das Haus zurück, legte mich zu Bett und saß ruhig an meiner Wiege, als etwa eine halbe Stunde nachdem er sich entfernt hatte ein Feuerlärm von der Straße gehört wurde, und gleich darauf mein Vater bleich und mit dem Ausruf: die Speicher brennen! in das Zimmer meiner Mutter trat.

Wer Königsberg kennt, weiß, was dieser Ausruf zu bedeuten hat. Für Denjenigen, der es nicht kennt, bedarf es aber einer Erklärung, den Schrecken zu rechtfertigen, welchen eine solche Nachricht in meiner Vaterstadt erzeugt. Königsberg ist nämlich eine alte und aus drei besonderen Ortschaften zusammengewachsene Stadt. Sie besteht aus der Insel Kneiphof, aus der Altstadt und aus dem Löbenicht, welche einst besondere Stadtgerechtsame hatten und von deren Sonderwesen noch jetzt die drei Rathhäuser, die drei Junkergarten und ein Paar der übrig gebliebenen Thore und Thürme Zeugniß geben, mit welchen die Städte einst gegen einander abgesperrt gewesen sind. Der Pregel, welcher den ganz auf Pfählen erbauten Kneiphof umfließt, zieht sich in[25] zwei Armen auch durch die andern Stadttheile hin, und ist mit sieben Brücken überbaut, welche jetzt die Verbindung in und zwischen den verschiedenen Stadttheilen unterhalten. Vor alten Zeiten hatte jede der drei Städte ihre Scheunen und Speicher besonders, und jede auf einem besonderen Flecke, massenhaft zusammengebaut. Indeß als die Städte vereinigt worden waren, hatte der Handel sich ganz und gar nach dem Kneiphof gezogen, der als Insel den leichtesten Wasserverkehr zuließ, dessen Wasserumgebung die tiefste war, und der, wenn auch noch eine Meile davon entfernt, so doch in grader Linie vor dem Ausfluß des Pregels in das frische Haff gelegen war, wodurch er den Schiffen, weil sie keine Brücke zu passiren hatten, das leichteste Einlaufen an seine Kai's gewährte. Mit der Zeit hatte sich also auch der bei weitem größte Theil der Kaufmannschaft in dem Kneiphof und in seinen beiden Vorstädten angesiedelt, welche nur durch die sogenannte grüne Brücke von ihm getrennt, und die vordere und die hintere Vorstadt geheißen wurden. Hart an dieser grünen Brücke lag und liegt, wie der ganze Kneiphof auf Pfählen erbaut, die unschöne, und wie ich glaube nur aus Fachwerk errichtete Börse, und vor der Börse stehend hat man zu seiner Rechten das grüne Thor mit seinem hohen Thurme, den Eingang in den Kneiphof, zu seiner Linken die grüne Brücke und die Vorstädte, und vor sich gen Süden den Ausfluß des Pregels, dessen beide Ufer weit hinaus mit ganzen Stadtvierteln von Speichern besetzt sind. Das rechte Pregelufer heißt die Lastadie. Eine Fähre führt, der Zeitersparniß wegen, vom Kneiphof[26] dicht hinter der Königlichen Bank zur Lastadie hinüber, auf der sich die größte Anzahl der Speicher befindet. Auf dem linken Pregelufer liegt die Vorstadt, und dort reichten und reichen die Speicher bis dicht an die Hintergebäude der Wohnhäuser hinan.

Nun war Königsberg damals noch weit mehr als jetzt die Vermittlerin des Handels zwischen Polen und Rußland mit Deutschland und dem übrigen Norden von Europa, und es lagerten also in seinen Speichern, namentlich während der Schifffahrtszeit, große Massen von Getreide, Hanf, Flachs, Holz, Rinde, Matten, Oel, also lauter Gegenstände, welche eben so leicht Feuer fingen, als sie gemacht waren, es schnell durch die Reihen der Speicher fortzupflanzen, die obenein zum großen Theile nur Fachwerkbauten waren.

An dem gedachten Tage also, – es war am hohen Mittag des vierzehnten Juni und die Jahreszeit schon lange heiß und trocken, – befand sich die Kaufmannschaft eben an der Börse, als sich die Nachricht verbreitete, es sei nahe bei der Hanfwaage, auf der Vorstadtseite, im Heeringshofe ein Feuer ausgebrochen. Da nun während der Kontinentalsperre der Heeringshandel danieder lag, war der Heeringshof als Ablagerungsplatz für große Vorräthe von Oel, Talg, Theer und Pech eingeräumt worden, und kaum war die Kunde von dem Feuer nach der Börse gelangt, so schossen auch schon die hellen Flammen in die Höhe, flogen bereits aus der benachbarten Hanfwaage die brennenden Hanfbündel durch die Luft, zündend und Feuer erzeugend, wohin sie fielen. In Zeit von einer halben Stunde brannte es[27] an mehreren Stellen. Dazu lag der Pregel dicht voll von Schiffen und von jenen flachen, russischen und polnischen, floßartigen Fahrzeugen, Wittinnen genannt, die alle ebenfalls mit brennbaren Waaren schwer beladen waren, und die, weil sie sich bestrebten, aus dem Hafen fort, und hinaus in das Freie zu kommen, so in einander geriethen, daß jedes Entrinnen für sie unmöglich wurde. Schiffe und Wittinnen zu erleichtern, warf man einen Theil ihrer Ladung in das Wasser, auch aus den Speichern rollte man Oel- und Spiritusfässer in den Pregel, und bald standen nicht nur die beiden Seiten des Flusses, sondern der Fluß selbst in hellen Flammen. Die Schiffe und Kähne brannten, der ganze Pregel brannte, das aus den Fässern ausgeflossene Oel brannte zusammen mit den Hanfladungen der Wittinnen auf dem Wasser.

Die ganze Lastadie, die sämmtlichen Speicher auf der Vorstadtseite, die ganze, dem Kneiphof zunächst gelegene, vordere Vorstadt, und alle mit ihr zusammenhängenden Straßen bis in die hintere Vorstadt hinaus, die grüne Brücke und die Börse, wurden ein Raub der Flammen, und noch Monate nachher bezeichneten Rauchwolken die Stellen, an denen man hie und da unter den Trümmern Nachgrabungen zu unternehmen versuchte.

Mein Vater hatte gleich beim Ausbruche des Feuers meine Mutter mit mir und meiner Amme durch unsern treuen Hausknecht, – man nannte in Königsberg einen solchen einen Faktor, – auf einem weiten Umwege zu einer befreundeten Familie in den Kneiphof geschickt, welche in der Brodbänkenstraße unweit vom Domplatz[28] wohnte. Der Faktor, er hieß Hermann Kirschnik und war in meiner und meiner Geschwister Kindheit unser großer Freund, trug in einem Bündel meine Betten. Meine Mutter und meine Amme hatten Wäsche für mich zusammengepackt, und als nach dem Verlauf von mehr als vierundzwanzig Stunden mein armer Vater zum ersten Male wieder zu seiner jungen Frau kam – seine Kleider zerfetzt, seine Schuhe zerrissen und verbrannt, er selbst von Staub, Schweiß und Asche bedeckt, von Hunger und Anstrengungen erschöpft und bleich, – da waren seine Frau, sein Kind und die Betten und Wäsche seines Kindes das Einzige, was er aus seinem Hause hatte erretten können, das Einzige, was er aus demselben noch besaß. Der Brand – er wird in Königsberg der Vorstädtische Brand genannt – hatte ihn so gut wie ruinirt, denn ein unglücklicher Zufall hatte denselben für ihn noch besonders verderblich gemacht.

Die Feuerversicherung für den größten Theil der Waarenbestände des Hauses und für meines Vaters Mobiliar war nämlich grade an dem Tage fällig geworden. Weil mein Vater und sein Bruder aber einige Veränderungen darin zu machen gewünscht hatten, lag die ablaufende Police an jenem Morgen noch auf seinem Pulte im Comptoir, und er hatte die Absicht gehabt, diese Angelegenheit, sobald er von der Börse käme, in Ordnung zu bringen, d.h. die etwas umgeänderte Police prolongiren zu lassen. In diesem entscheidenden Augenblicke aber war das Feuer ausgebrochen, und aus ihrem hübschen Hause, aus sorgenfreien Umständen, sahen meine Eltern sich plötzlich in eine sehr schlimme und sehr schwere Lage versetzt.[29]

An eine neue hübsche Wohnung wie die bisherige war für meine Eltern, in ihren veränderten Verhältnissen und bei den um das dreifache gesteigerten Wohnungspreisen, nicht zu denken. Sie mußten froh sein als sie am obern Ende der Brodbänkenstraße ein Paar Zimmer zur Miethe fanden. Die Verwandten meiner Mutter, welche in dem Kneiphof wohnten und also von dem Brandunglück verschont geblieben waren, halfen für den Augenblick mit Wäsche, Hausrath und Möbeln aus, bis das Nöthige wieder herbeigeschafft werden konnte, und es bedurfte von Seiten meines Vaters und seines Bruders der größten Anstrengungen, um ihr Geschäft aufrecht zu erhalten und die gehabten schweren Verluste nur einigermaßen auszugleichen. Meiner Mutter Vermögen wurde dabei zum Opfer gebracht, und unsere Familie war mit ihrer Existenz von da ab allein auf meines Vaters Thätigkeit gewiesen, welche glücklicher Weise in den Ereignissen der nächsten Jahre ein reiches Feld fand, sich mit Nutzen geltend zu machen.

Königsberg hatte nämlich kaum Zeit gehabt, sich von seinem Brandunglücke zu erholen, als mit den beginnenden Durchmärschen der französischen Truppen, welche nach Rußland zogen, eine für den Kaufmannsstand Preußens sehr bedeutende Epoche eintrat. Vom Frühling des Jahres achtzehnhundert und zwölf ab glich die ganze Provinz Ostpreußen einem großen Heerlager, und es gab einen Zeitpunkt, in welchem dort durch mehrere Wochen dreimalhunderttausend Mann Fußvolk und über vierzigtausend Mann Reiter versammelt waren. Das Land wurde von dieser Last völlig ausgesogen[30] und erdrückt, die Noth, die Plagen und die Theuerung in den Städten waren ungemein groß; aber wer irgend welche Waare zu verkaufen hatte, konnte die höchsten Preise dafür erhalten, und bei dem ungeheuren Menschen- und Geld-Verkehr, bei den großen Unternehmungen welche für die Verpflegung dieser Heeresmassen nöthig waren, gehörte das Geld selbst zu einem der wichtigsten Handelsgegenstände, so daß die Banquiers und Geldwechsler bedeutende Geschäfte machten, und großen Gewinn davon hatten.

Mein Vater hatte, sobald es möglich gewesen war, die enge Wohnung, welche die Eltern nach dem Brande inne gehabt, wieder verlassen, und ein dreistöckiges, zwei Fenster breites, auch in der Brodbänkengasse gelegenes Haus bezogen, welche Brodbänkengasse die Hauptstraße des Kneiphofs, die Langgasse, mit dem Rathhausplatze verbindet. Sein Geschäft war wieder aufgeblüht, und neben dem frühern Speditionshandel hatten die Brüder angefangen ein bedeutendes Geldgeschäft zu betreiben. Meines Vaters älterer Bruder Beer, sein jüngster Bruder Friedrich Jakob, der achtzehnhundert acht und fünfzig in Breslau als Direktor der Oberschlesischen Eisenbahn in Breslau gestorben ist, sein Vetter der noch in Stuttgart lebende bekannte Schriftsteller August Lewald, und einige Handlungsgehilfen waren in dem Hause thätig, und da der älteste Onkel wenig über dreißig Jahre, mein Vater fünfundzwanzig, sein jüngster Bruder achtzehn und August Lewald zwanzig Jahre alt war, so bildeten sie bei aller auf ihnen lastenden Arbeit, und mitten in den Drangsalen der Kriegszeit, von denen kein Haus verschont[31] blieb, doch eine sehr fröhliche Gesellschaft, die keine Gelegenheit von sich wies, sich und Andern Lebensgenuß zu bereiten. Mein Onkel Friedrich Jakob und unser Vetter August Lewald wohnten im Hause meines Vaters. Sie waren sehr hübsche junge Männer; die Schwestern meines Vaters, von denen Johanna eine blendende Schönheit war, als welche ich selbst sie noch in ihren spätern Jahren gekannt habe, waren vielfach anwesend, und obschon man sich durch die zahlreiche Einquartierung in seinen Wohnungen über alle Gebühr beschränkt fand, so waren doch unter diesen unwillkommenen Gästen auch viele sehr gebildete und rücksichtsvolle Männer, mit welchen es sich gut verkehren ließ, und die bemüht waren, die Unbequemlichkeiten und Mühen, welche sie verursachten, durch Zuvorkommenheit und Liebenswürdigkeit vergessen zu machen. Mancher Franzose, der mit schwerem Herzen Weib und Kinder in der Heimath zurückgelassen, war obenein sehr glücklich, ein Paar Tage in einer fremden Familie sich der Seinen zu erinnern. Es bildete sich also fast überall, auch in dem Hause meiner Eltern, eine Geselligkeit zwischen den Wirthen und der Einquartierung aus, und wenn die letztere, wie es hie und da der Fall war, längere Zeit an dem Orte verweilte, schied man bisweilen von den feindlichen Soldaten, wie diese sich von ihren Wirthen trennten, mit dem Bedauern, im Grunde doch Feinde zu sein.

Die eigentliche Königsberger Lebensweise, bei der man um sieben oder acht Uhr ein erstes, um eilf Uhr ein zweites Frühstück, um ein Uhr das Mittagsbrod einnahm, und dann noch mit Kaffee, Imbiß und Abendbrod[32] zwei drei Mahlzeiten zu machen hatte, mußte in vielen Familien nach dem Wunsche der Einquartierung geändert werden. In den Kaufmannshäusern wich sie dem großen Arbeitsandrange als Nothwendigkeit. Man richtete sich auf ein gehöriges Gabelfrühstück und auf ein Abendbrod ein, das dann reichlicher als das sonst gewohnte ausfiel, oder man aß gar erst nach dem Theater die Hauptmahlzeit, wobei dann oft bis tief in die Nacht hinein gewacht wurde. Diese veränderte Lebensart, diese schnell hinfluthende Existenz, in die sich das Militär mit seinem auf den Augenblick angewiesenen Dasein hineinmischte, in der gereifte Krieger von ihren abenteuerlichen Feldzügen durch ganz Europa, von ihren Siegen an den Pyramiden, von dem Glanze des Pariser Lebens und von den Wunderthaten ihres Kaisers erzählten, in der junge Soldaten von Ehren, Ruhm und Auszeichnungen sprachen, mit der sichersten Gewißheit sie zu erreichen, hatte etwas Berauschendes, Etwas, was die Phantasie anregte, und auch mittelmäßige und gleichmüthige Menschen über sich selbst hinauszutragen geeignet war. Man hatte den Sohn eines Pastetenbäckers König von Neapel werden und den Sohn eines Advokaten zum Beherrscher der Welt emporwachsen sehen. Junge, aus den untern Volksschichten hervorgegangene Männer durchzogen als Generale und Marschälle die Welt, welcher ihr Herr seine Gesetze vorschrieb; und wenn ich in spätern Jahren in Preußen in den Familien, von den Franzosen und von den Kriegsjahren erzählen hörte, geschah es immer mit einer Erregung, welche nicht allein von dem Zorne gegen die Feinde des Vaterlandes[33] herrührte. Es schien mir vielmehr, als drücke sich in solchen Mittheilungen eine ungewöhnlich lebhafte Erinnerung aus, als hätten die Menschen ein Bewußtsein oder doch mindestens eine Empfindung davon, daß sie in jener Zeit, welche recht eigentlich eine Zeit für die Jugend gewesen sein muß, weil überall die Jugend herrschte, ein volleres, ein frischeres Leben geführt hätten, als es ihnen sonst in der Ruhe der entlegenen Provinz jemals zu Theil geworden war. Selbst wo man sich über die Franzosen zu beschweren, wo man ihren Anmaßungen entschiedenen Widerstand entgegenzusetzen gehabt hatte, war man sich eben dadurch seiner Persönlichkeit und seiner Kraft bewußt geworden; und so hart die Kriegsjahre auf dem Lande gelastet hatten, boten sie doch in der Erinnerung fast Jedem auf die eine oder die andere Weise etwas dar, das ihn innerlich erwärmte und erhob, wenn er es mit der stumpfen Ruhe verglich, welche die darauf folgende Epoche kennzeichnete.

In den jüdischen Familien befand man sich obenein gegenüber der französischen Invasion in einem sehr erklärlichen Zwiespalt. Die französische Revolution hatte die staatliche Gleichberechtigung der verschiedenen Kulte in Frankreich festgestellt, und wenn Napoleon auch seinen Frieden mit der katholischen Kirche gemacht hatte, so hatte er es doch nicht gewagt, die Glaubensfreiheit und die staatliche Gleichberechtigung der verschiedenen Religionsbekenntnisse anzutasten. In Frankreich, und wohin die französische Herrschaft sich ausbreitete, waren die Juden emancipirt; in Preußen lasteten Unfreiheit und Verspottung auf ihnen. Es ist also natürlich, daß in jener[34] Zeit sich in vielen Juden die Frage regte: ob Freiheit unter einem fremden Herrscher nicht der Knechtschaft unter einem heimischen Fürstenstamme vorzuziehen sei? Und es ist nach meiner Meinung nie genug gewürdigt worden, wie groß die Selbstverläugnung und die Vaterlandsliebe der Juden gewesen sind, welche sich im Jahre 1813 als Freiwillige den Kämpfern gegen Frankreich angeschlossen haben, um einem Lande seine Freiheit wieder erobern zu helfen, welches ihnen selbst keine Freiheit, wohl aber Kränkungen und Beschränkungen aller Art dafür zum Lohne bot. Das Verhalten der modernen Staaten, das Verhalten unseres Jahrhunderts gegen die Juden, mag man diese als abweichende Religionspartei oder als eine fremde Nation betrachten, wird einmal ein besonderes Kapitel in der Kulturgeschichte einnehmen: ein Kapitel, welches merkwürdig sein wird durch die begangenen Ungerechtigkeiten und durch den Mangel an Logik in den Thatsachen von denen es handelt. Daß die Bekenner des einen Kultus die Bekenner des andern Kultus verdammen, daß eine Race eine Abneigung gegen die andere empfindet, das ist zwar sehr unvernünftig, aber nicht auffallend, und die Urgeschichte der Juden selbst liefert dafür das Beispiel. Sie hätten kaum Etwas dagegen sagen dürfen, wenn die Germanische Race z.B. es fest ausgesprochen und durch ihre Fürsten hätte ausführen lassen, daß sie die Juden verabscheue und keine Juden wolle neben sich wohnen lassen – vorausgesetzt, die Germanische Race hätte dies wie die Juden vor zweitausend Jahren oder doch mindestens in den vorchristlichen Zeiten sagen können und gesagt. Daß[35] man die Juden aber in den christlichen Staaten zuließ, daß man sie die Staatslasten mit tragen ließ, daß man ihnen die Bürgerpflichten auferlegte, sie allmälig für alle Leistungen emancipirte und sie dennoch von dem Genuß der vollen Rechte eines Staatsangehörigen und Bürgers ausschloß, das ist jenes Verhalten, welches die Kulturgeschichte einst mit allen seinen ernsten und lächerlichen Einzelheiten in ihren Büchern zu verzeichnen haben wird.

Mein Vater wußte die französischen Institutionen, so weit sie den Juden zu Statten kamen, sehr wohl zu würdigen. Die Lebhaftigkeit der Franzosen sagte ihm daneben zu, ihre Sprache war ihm geläufig und er hegte für Napoleon, dem er beiläufig überraschend ähnlich sah, eine Sympathie, welche sich ganz auf den Kaiser als Person bezog. Das Beharrliche, das Selbstgewisse, das in sich Abgeschlossene und auch das Gewaltthätige im Charakter des Kaisers fanden in der Natur meines Vaters ein verwandtes Element, und der wunderbare Lebensweg, welchen jener Mann gegangen war, hatte für meinen Vater den Reiz, den ein außerordentliches Wollen und Können, und die Gewahrung eines ebenso außerordentlichen Gelingens für jeden kräftigen Charakter haben müssen. Ein blinder Verehrer des Kaisers war er nicht, aber ich kann es mir nicht denken, daß er in jener Zeit ein leidenschaftlicher preußischer Patriot gewesen sein sollte. Vorliebe für ein Land zu empfinden, nur weil er zufällig in demselben geboren, oder ein Herrscherhaus besonders zu lieben, blos weil es das Land besaß, in welchem er geboren worden war, das lag nicht in seiner[36] Art. Er verehrte Friedrich den Großen, wie er Napoleon verehrte, als bedeutende Menschen, indeß die preußischen Zustände waren von dem Regierungsantritte Friedrich Wilhelm's des Zweiten bis zu dem Beginn der Freiheitskriege nicht dazu angethan, irgend einen Enthusiasmus zu erregen, am wenigsten in der Seele eines Mannes, dessen Vater durch die Willkür der Regierung in das Gefängniß geworfen worden war, und der selbst von den engherzigen Gesetzen des Landes zu leiden gehabt hatte.

Aber es war ein anderes Element, welches ihm den Gedanken an eine dauernde Fremdherrschaft unannehmbar machen mußte: mein Vater wurzelte mit seiner ganzen Bildung in Deutschland. Er liebte den deutschen Geist, er liebte und bewunderte die deutsche Literatur und ihre Klassiker mit tiefem Verständniß, und da jeder Mensch das Produkt seiner Zeit und ihres Geistes ist, so hatte ein Zug der damaligen Romantik höchst eigenartig neben dem scharfen Verstande meines Vaters Platz gefunden, der an sich allein hingereicht haben würde, ihm die Fremdherrschaft im Lande verhaßt zu machen, wenn dem selbstherrlichen jungen Manne nicht ohnehin die Willkür des Eroberungszuges im Allgemeinen, und die Willkür und Anmaßung der einzelnen Franzosen in seinem Hause unerträglich gewesen wären. Meine Mutter und meines Vaters jüngste Schwester, welche während jener Zeit ganz bei meinen Eltern lebte, um mei ner Mutter mit ihrer Kenntniß der französischen Sprache auszuhelfen, erzählten mir später oftmals, welche Angst der Vater ihnen verursacht, wenn er jeder unbilligen Forderung der Einquartierung[37] das Genügen verweigert habe, jeder ihrer Anmaßungen entschieden entgegengetreten sei, und wo er nicht selbst sein Recht wahren konnte, augenblicklich die Abhülfe und Genugthuung von den französischen Behörden verlangt habe, obschon man preußischer Seits auf das Dringendste vor einem feindlichen Auftreten gegen die Franzosen gewarnt und selbst die Magistrate in besondern Erlassen die Bürger zu geduldigem Ertragen aller Unbill ermahnt hatten.

Einmal, als auch ein älterer französischer Offizier ich weiß nicht welche übertriebene Forderung stellte, hatte mein Vater dies angezeigt und seine Entfernung aus dem Hause begehrt, ohne sie erlangen zu können. Der Offizier hatte einen Verweis erhalten, war aber im Hause geblieben, und hatte, obschon er sich von da ab in seinen Grenzen hielt, gedroht, er werde sich an meinem Vater rächen. Dieser hatte davon gar keine Notiz genommen, man hatte dem Offizier sein Essen, das er sonst am Familientische erhalten, seit dem Zerwürfniß auf sein Zimmer geschickt, und meine arme Mutter, welche keine Sylbe französisch verstand, hatte dadurch dreifach unter der Sorge gelitten, was der Offizier dem Vater anthun und was er mit ihm beginnen werde. Es ließ ihr nicht Tag nicht Nacht Ruhe, sie glaubte, man verberge ihr was der Offizier gesprochen, und als das Corps, zu dem er gehörte, Marschordre bekam, zählte sie die Stunden bis zum Aufbruche desselben. Die Tage vergingen jedoch ganz ruhig, der Abend vor dem Aufbruch kam heran, und es war nichts geschehen. Da sitzt meine Mutter, nachdem es dunkel geworden, in der[38] Kinderstube, in der man mich zu Bette brachte, als sie plötzlich ein furchtbares Schreien, ein Poltern, Schimpfen und einen Fall auf der Treppe hört. Sie stürzt hinaus und sieht bei der schwachen Beleuchtung der Flurlampe den Franzosen mit einer Hetzpeitsche in der Hand, der drohend gegen die untere Etage gewendet da steht und wüthend gegen Jemand hinunterspricht, welchem unten bereits die Hausgenossen zu Hülfe eilen. Ueberzeugt, daß es mein Vater sei, der von dem Franzosen gemißhandelt worden, fliegt sie nach der Treppe, aber der Offizier hatte das Opfer seiner feigen Rache verfehlt, und einer von den Handlungsgehülfen hatte die Peitschenhiebe empfangen, welche Jener meinem Vater zugedacht. Der Offizier hatte es sich nämlich gemerkt, daß mein Vater um die Dämmerungszeit gewöhnlich nach der Kinderstube ging, um mich vor Nacht noch zu sehen, und darauf fußend, hatte er sich in einer Ecke des Flures verborgen, von der aus er seinen Anfall unternehmen konnte. Indeß mein Vater war dies mal länger im Comptoir festgehalten worden, ein Commis hatte für ihn gelitten, und da der Erstere also heil und unversehrt war, erlangte er noch an dem Abende die Arretirung des Offiziers. – Im Ganzen aber waren die Klagen über die Rohheit mancher deutschen Truppen, namentlich der Hessen, Baiern und Würtemberger, in Preußen viel größer, als die Beschwerden über die Franzosen, und man rühmte diesen Letzteren im Allgemeinen große Rücksicht für Kranke und große Freundlichkeit für Kinder nach.

Durch zwei und ein Viertel Jahre blieb ich das[39] einzige Kind meiner Eltern. Meine Mutter hatte also Zeit sich viel mit mir zu beschäftigen. Sie war ungemein freundlich und lieblich, meine Amme war jung, froh und sehr redselig, und es war also kein Wunder, daß ich früh und gleich sehr deutlich sprechen lernte. Sie sagten mir, ich hätte von jeher ein starkes Gedächtniß gehabt, und noch vor dem Ende meines zweiten Jahres Verse vor mich hin gesprochen, die ich irgendwie aufgeschnappt hatte, und die ich doch bis zu einem bestimmten Grade auch verstehen mußte, weil ich sie hie und da richtig anzubringen wußte. Ein solcher Fall, der mir meine frühe Klugheit beweisen sollte, war nach der französischen Retirade aus Rußland, im Anfang des Jahres Dreizehn, nicht lange vor meinem zweiten Geburtstage vorgekommen.

Es waren damals eine Menge französischer Lieder im Schwange, und wieder andere, die irgend welche damals interessirende Zustände in gebrochenem Deutsch behandelten. Meine Mutter hatte eine liebliche Stimme, und muß wohl das Liedchen von »Jean Grillon«, das in aller Leute Munde war, vielfach gesungen haben, denn ich hatte es theilweise behalten und weiß es noch auswendig, da die Mutter es auch in späteren Jahren noch manchmal für uns sang. Es lautete:


Ich bin ein Franzose, mes dames,

Comme ça mit die hölzerne Bein,

Jean Grillon ist mein Name,

Mein Stolz ist die hölzerne Bein.

Ich scherze, ich küsse, ich kose,

Comme ça mit die hölzerne Bein,

Im Herzen, da bleib ich Franzose,

Und wär' ich auch außen von Stein.
[40]

Nun fügte es sich eines Tages, daß wieder einmal ein Trupp retirirender Franzosen ankam, von denen Einer, dem das Bein in Rußland erfroren und abgenommen worden war, ein Quartierbillet auf unser Haus erhielt. Als man den Schwerleidenden vom Wagen gehoben und in das Zimmer gebracht hatte, befand ich mich in demselben. Ich sah den Offizier verwundert an, denn er hatte einen Stelzfuß, lief dann auf ihn zu und rief freundlich: »Comme ça mit die hölzerne Bein!« – Da stürzten dem noch jungen Manne die Thränen aus den Augen. »Ich habe auch solch ein Kind, solch ein Mädchen zu Hause«, sagte er zu meinem Vater, und diesem die Hand reichend, fügte er hinzu: »um dieses Kindes willen, haben Sie Mitleid mit mir, ich leide fürchterlich!« – Das war ein Anruf, der nicht unbeachtet geblieben wäre, hätte das Elend des jungen Franzosen nicht ohnehin alle Theilnahme für sich in Anspruch genommen. Er blieb also lange in unserem Hause, wurde sorglich gepflegt, und verließ Königsberg erst kurz vor dem Ausbruch des Kampfes im Frühjahr Achtzehnhundertdreizehn. Mir hatte er eine Schnur Perlen von Malachit zum Andenken geschenkt, die ich bei einem Kinderfeste verloren habe, als ich sieben, acht Jahre alt war. Sie waren sehr wahrscheinlich in Rußland erbeutet, d.h. gestohlen worden, ich beweinte aber seiner Zeit deshalb ihren Verlust nicht weniger.

Die russische Beute spielte überhaupt in Königsberg, das heißt in seinem Handel und namentlich in dem Banquier- und Wechselgeschäfte meines Vaters, durch die ganze Zeit der Retirade eine große Rolle. Elend und[41] leidend, wie das französische Heer, oder vielmehr die Trümmer desselben, aus Rußland zurückkehrten, schleppten sie doch noch eine ungeheure Beute mit sich, und waren bei der Eile ihrer Flucht bemüht, dieselbe um jeden Preis gegen deutsches oder französisches Geld umzuwechseln. Wahllos und leidenschaftlich, wie sie geraubt hatten was ihnen unter die Hände kam, hatten sie aus den Kirchen, aus den Klöstern, aus den Schlössern und aus den Familien oft unechten Flitter mitgenommen, in welchem sie Gold und Brillanten zu besitzen glaubten. Indeß waren durch Franzosen auch ungewöhnliche Kostbarkeiten in so außerordentlicher Menge in Königsberg vorhanden und zu kaufen, daß es damals ein Leichtes war, sich die prächtigsten Silbergeräthe und fürstlichen Schmuck um sehr geringen Preis anzueignen. Wahrhaft ungeheure Werthe sind auf diese Weise durch meines Vaters Hände gegangen, und die alte Silberschmelze meines Großvaters, die ziemlich in Vergessenheit gekommen war, wurde nun wieder in neue Thätigkeit gesetzt. Altargeräthe, silberne Apostel und Heilige, Kandelaber und Ziergeräthe aus christlichen und jüdischen Kirchen wanderten in den Schmelztiegel; der Schmuck wurde zerbrochen, die Steine verkauft, die Fassung eingeschmolzen, und die Gold- und Silberbarren wanderten nach Rußland und nach Berlin, wo man Geld für die Zurüstungen zu dem bevorstehenden Kriege zu prägen hatte.

Der Ertrag dieser Geschäfte war sehr groß, aber die Mühe und Plage, welche mit ihnen verbunden, waren es nicht minder. Reihenweise, so erzählte meine Mutter, hielten die Schlitten der flüchtenden Verwundeten Tag[42] und Nacht in der schmalen Straße vor unserm Hause. Krüppel und Kranke aller Art drängten sich in dem Comptoir; die Hausflur war voll von ihnen, und das Bitten und Flehen, ihnen ihren Raub abzunehmen und ihnen dafür Geld zum Vorwärtskommen zu geben, soll oft herzzerreißend gewesen sein.

Man war seit dem Jahre achtzehnhundert und sieben in Ostpreußen an viel Noth und Elend, an Verwundete und Seuchen gewöhnt genug. Nach den Schlachten von Eilau und Friedland hatte Königsberg Tausende von Verwundeten und die furchtbarsten Lazarethfieber in seinen Mauern gehabt. Man hatte aus den in Spitäler verwandelten Kirchen und Rathhäusern die Leichen, wie in Zeiten der Pest, zu Dutzenden auf einander geschichtet, in die dazu bereiteten Kalkgruben vor dem Friedländer Thore fortfahren sehen. Aber das Elend und der Jammer dieser Retirade sollen noch größer, und der Vergleich dieser Flucht mit dem stolzen Siegerzuge, der nach Rußland gegangen war, ein furchtbarer gewesen sein.

Alle öffentlichen Gebäude lagen wieder voll Verwundeter. Der Typhus und das Lazarethfieber wütheten in der Stadt, die Aerzte starben mit den Kranken. Aus den Junkerhöfen, die wieder Lazarethe geworden waren, warf man die Todten auf die Straße in die Karren hinab; in den Privathäusern wüthete der Typhus nicht minder heftig. Von zwei zu zwei Stunden machte man in meinem Vaterhause Räucherungen von Essig und Nelken, die man über glühende Steine goß, um sich vor der Ansteckung durch die Fremden, welche in das Comptoir kamen, zu bewahren. Die Theuerung, die täglichen[43] Bedrängnisse und Gefahren, die Anforderungen, welche an die Kraft jedes Einzelnen, so der Männer wie der Frauen, gestellt wurden, waren außerordentlich groß. Aber man hatte sich allmälig gewöhnt, das Ungewöhnliche zu leisten, man war in einer Aufregung, welche über den Moment hinweghalf. Und als dann, noch während der Retirade, zu Anfang des Jahres achtzehnhundert und dreizehn der General Graf Wittgenstein, mit seinen Russen den Franzosen auf dem Fuße folgend, in Königsberg einrückte, wuchs auch die Hoffnung auf den Sturz der französischen Herrschaft wieder um so schneller und mächtiger aus den geheimen Gedanken der zur That gewöhnten Menschen empor.

Man hatte für den Augenblick eine Fremdherrschaft mit der andern, das französische Regiment mit dem russischen, die französische Einquartierung mit der russischen vertauscht, und diese letztere war in der Masse durch ihre Unkultur noch unbequemer als die groben Hessen und Baiern, oder gar als die Franzosen. Aber wie der erste Sonnenstrahl plötzlich die ganze Gegend erhellt und Alles aufklärt, was bis dahin in Nebel und Dämmerung gelegen hatte, so weckte die entschlossene That des Grafen York in allen Herzen das Bewußtsein, daß es keine Fessel gäbe, welche man nicht zu brechen vermöge, und daß man frei werden könne, wenn man frei werden wolle, vorausgesetzt, daß man entschlossen sei, Alles an Alles zu setzen.

Mich in meiner Kinderstube ging das fürs Erste allerdings nichts an. Ich empfand nur großes Vergnügen, als bei einem Scharmützel, welches vor den[44] Thoren von Königsberg zwischen einem Trupp fliehender Franzosen und den sie verfolgenden Russen stattfand, der Knall und das Knattern des Geschützes in unserm Hause zu vernehmen war, und freute mich an dem Hunde eines bei uns einquartierten Russen ganz eben so, wie ich mich an den Zuckerplätzchen des armen stelzfüßigen Franzosen gefreut hatte. Aber die gewaltigen Zeitereignisse und die Gewohnheit, große Schicksalswechsel zu erleben und erleben zu sehen, stählte den Charakter meiner Eltern. Sie gab ihnen jenes Gleichmaß, das sich in guten und in üblen Lagen bewährte, und jene Ruhe und Tüchtigkeit, deren Beispiel auf uns Alle segensreich gewirkt hat, ohne daß man uns die Eigenschaften besonders anzuempfehlen brauchte, für die man uns erziehen wollte.[45]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 1, Berlin 1871, S. 23-46.
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Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

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Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

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