Drittes Kapitel

[46] Meine eigenen und sehr deutlichen Erinnerungen beginnen in der Zeit zwischen meinem vierten und fünften Jahre, und sind alle rein sachlich. Wir wohnten damals nicht mehr in dem zweifenstrigen Hause, welches meine Eltern während der Retirade inne gehabt, sondern waren im Frühjahr von achtzehnhundert und vierzehn in das gegenüberliegende dreifenstrige Haus, Nummer vierzehn, gezogen, das wir erst im Jahre achtzehnhundert und zwanzig verließen, und in welchem ich also meine ganze glückliche Kindheit zugebracht habe.

Es steht mir noch mit allen seinen Einzelnheiten vor Augen, als wäre ich gestern erst darin gewesen, und doch habe ich es, nachdem wir es aufgaben, niemals wieder betreten. Der ganze Theil der Brodbänkengasse, in welcher es gelegen war, hatte damals noch Wolme, d.h. etwa zehn Fuß hohe, in die Straße hinausgebaute Vorgebäude, zu denen in ihrer Mitte eine Treppe hinaufführte, so daß dieselben also unter den Fenstern des hohen Parterres zu beiden Seiten der Hausthüre einen Balkon bildeten. Diese Balkons waren mit Eisengittern einfachster Art umgeben, aber[46] die Eisengitter und das Treppengeländer hatten große Messingkugeln, schlechtweg »die blanken Kugeln« genannt, welche mit den großen Messing-Thürklopfern übereinstimmten, und die spiegelblank zu erhalten eine Ehrensache der Hausfrauen war. Im Sommer wurden diese Wolme mit Markisen überspannt, man setzte Bänke darauf hin, und wie die Erwachsenen dadurch einen Ort hatten, auf dem sie im Laufe des Tages und namentlich an den Sommerabenden Luft schöpfen konnten, so besaßen wir Kinder in unserm Wolm einen Spielplatz, der selbst im Winter, so eng er war, täglich von uns benutzt ward.

Die Hausthür öffnete in einen räumigen Flur. Ihr gegenüber ging es in das große und dunkle Comptoir, das, wie alle diese großen Parterrestuben der auf den Handel berechneten Häuser an der Nordküste von Deutschland, nur ein großes, breites, vielscheibiges Fenster hatte; und aus dem Comptoir führte eine Treppe in ein paar dunkle Zimmerchen, in die Kasse hinauf. Vorn im Hause lag an der linken Seite der Thüre eine einfenstrige Stube, das Entree. Es war rosa angestrichen, mit dunklen Mahagonimöbeln eingerichtet, und es hingen eine Anzahl sehr guter Kupferstiche darin, welche bis in mein eilftes, zwölftes Jahr für mich den ganzen Bereich der Kunst repräsentirten.

Es waren theils moderne englische Kupferstiche, und diese hatten keinen besonderen Werth, theils sehr gute Blätter nach alten Meistern, deren Originale ich später mit großer Rührung in den Gallerien von Frankreich und Italien wiedergesehen habe. Meine Vorliebe galt außer[47] einem englischen Kupferstich, auf welchem eine Mutter auf den hohen Alpen neben ihrem im Schnee erstarrten Töchterchen händeringend kniete, der Madonna von Hannibal Caracci, welche den kleinen Christus schlafend in ihrem Arme hält, und dem vor ihm stehenden Johanniskinde ein Zeichen macht, den kleinen Schläfer nicht zu wecken. Ein Paar Kirschen und andere Früchte lagen auf dem Boden neben ihr ausgebreitet, und erhöhten für meine Vorstellung die Schönheit des Bildes ungemein.

Dann war das Opfer des Abraham in zwei kleinen Blättern da. Das eine stellte den Patriarchen dar, wie der Engel ihm erschien, ihm das Opfer zu befehlen. Er hatte den kleinen Isaak neben sich, der nur mit einem Schurz bekleidet, inbrünstig mit gefalteten Händen betend, neben dem Vater kniete. Auf dem andern Bilde war der Holzstoß aufgerichtet. Die Flamme loderte empor, Isaak kniete gebunden vor demselben, und mit dem zum Opfer erhobenen Messer trat Abraham wie erschöpft zurück, als er in den Zweigen des Gebüsches, vor dem der Altar sich befand, das ihm von Gott gesendete Opferthier gewahrte. Als ich später die Iphigeniensage kennen lernte, stellten sich mir die Vorgänge immer unter den Formen dieser Abrahamsbilder dar, und ich war sehr verwundert, im Griechenthume und im Judenthume dergleichen Sagen so unverändert zu begegnen.

Endlich erfreuten mich in diesem Entree noch eine Reihe von drei, vier Männerportraits in mittelalterlichem Costüm. Wen sie darstellten – das eine war ein[48] Portrait von Titian, das andere das Holbeinsche Portrait des Morel, des Goldarbeiters von Heinrich VIII., dessen Original sich in Dresden im Saale der Holbeinschen Madonna befindet – wen sie darstellten, das ahnte ich damals nicht. Aber das war mir nur um so bequemer, denn dadurch galten sie mir je nach meinem Bedürfniß für biblische Helden oder für Zauberer und Ritter, und unter jeder Voraussetzung waren sie mir schön und werth. Was hätte mir es auch geholfen, wenn man mir einen Namen genannt hätte, mit dem ich keinen Begriff verbunden, oder wenn man mir einen Namen und einen Begriff beigebracht hätte, mit denen ich keinen innern Zusammenhang haben konnte? Es kommt bei Kindern nur darauf an, daß sie nichts Häßliches sehen; wofür sie das, was sie sehen, halten, das ist ganz gleich, und je unbefangener man ihre Phantasie walten läßt, um so mehr Genuß haben sie davon.

Zu diesem Entree hatten wir Kinder freien Zutritt. Meine Mutter benutzte es wenig. Es diente meinem Vater zu Privatbesprechungen in Geschäftsangelegenheiten, und da es aus diesem Grunde im Winter auch geheizt wurde, hatten wir einen Spielplatz und eine Abwechselung mehr für unsere Existenz.

Oben im ersten Stock nahm der sogenannte Saal die ganze Fronte nach der Straße ein. Er wurde nur an Gesellschaftstagen geöffnet, und obschon ich jedes Stück in demselben auf das Genaueste kannte, hatte er, wenn die weißen Gardinen an der Glasthür nach dem Flur herabgelassen waren, für mich einen so geheimnißvollen Reiz, daß es mir schon ein Vergnügen gewährte, durch[49] das Schlüsselloch oder durch eine Spalte in der Gardine hineingucken zu können. Er war kornblau und hatte, da die Eltern ihn nicht von einem gewöhnlichen Stubenmaler, sondern von einem Professor Huhn hatten ausführen lassen, achtzig Thaler zu malen gekostet. Am Plafond war eine Göttin, ich glaube eine Viktoria oder Fama, in gelben Bronzefarben dargestellt, von der große vergoldete Sonnenstrahlen über die ganze Decke ausgingen. Oben an der Wand zog sich eine Borte von Vögeln hin, weiße Fasanen, die aus Bronzekörben sehr hölzerne Früchte aßen, und die mir wie die größten Wunderwerke der Malerei erschienen. Zwei große Spiegel zwischen den Fenstern hatten Tischchen von weißem Marmor vor sich, die von Bocksfüßen in Holzschnitzerei getragen wurden. Auf den Marmorplatten standen blaue Vasen mit Ansichten aus der sächsischen Schweiz, und in der Ecke eine Art runder Etagère, deren Bretter, sie hatte ihrer drei in abnehmender Größe, zu drehen waren. Man nannte dies Möbel damals eine Servante, besetzte es mit schön gemalten Tassen und kleinen andern Geräthen, und meine Mutter besaß eine große Anzahl zum Theil sehr schöner Tassen. Die Möbel des Saals waren ganz im Geschmack des Kaiserreichs, hart gepolstert und sehr unbequem. Vor dem Sopha lag ein sehr großer englischer Teppich mit breiter Blumenborte, und dann umschloß dieser Saal noch zwei Prachtstücke: eine Tischdecke von grauem Kasimir, auf der ein großes Hortensienbouquet mit schönen grünen Blättern in petit point gestickt war, und ein kaum spannhohes rundes Tischchen von grauem Marmor, das auch auf der Servante stand[50] und das, wenn man die geheime Feder drückte, sich aufthat und einen Nähapparat unter einem rosenduftigen, rosaseidenen Kissen enthielt. Hob man den Nähapparat heraus, so lag darunter auf dem Boden ein Blatt in Spiegelschrift geschrieben. Es standen darauf die Verse aus dem Tasso:


Willst Du genau erfahren, was sich ziemt,

So frage nur bei edlen Frauen an.

Denn ihnen ist am meisten dran gelegen,

Daß Alles wohl sich zieme, was geschieht.

Die Schicklichkeit umgiebt mit einer Mauer

Das zarte, leicht verletzliche Geschlecht.

Wo Sittlichkeit regiert, regieren sie,

Und wo die Frechheit herrscht, da sind sie nichts.

Und wirst Du die Geschlechter beide fragen:

Nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte.


Ich verstand von diesen Versen kein Sterbenswort, aber sie zu hören war mir ein großer Genuß, und sie hingen in meiner Phantasie so genau mit dem Rosenduft und mit der geheimen Feder, welche den Deckel des Tisches öffnete, zusammen, daß mir das Ganze wie ein einziges großes Mysterium däuchte, dem dann und wann durch die Vermittlung meiner Mutter nahen zu dürfen, mir als ein wahres Glück erschien. Ja die ganze Servante war durch den grauen Marmortisch für mich geheiligt, und ich empfand es als eine Ehre, daß zwei Paar kleine gemalte Tassen, die mein Eigenthum waren, mit unter all' den großen erwachsenen Tassen auf der wundervollen Servante stehen durften.

Diese beiden Zimmer, das Entree und der Saal, waren unsere Museen, und in dem Letzteren durften[51] wir, wie in einem wirklichen Museum, auch gar Nichts anrühren. Dafür hatten wir aber in der Hinterstube, welche jenseits eines kleinen dunklen Hausflurs dem Saale gegenüber lag, und im zweiten Stocke, in der Schlafstube meiner Eltern, in unserer Kinderstube, auf den Hausfluren, und auf den Treppen und Treppchen, die aus den Fluren nach den einzelnen Zimmern führten, wie in den Kammern, deren das Haus ein Paar recht große enthielt, völlig freien Spielraum. Die Wohnstube mit ihren breiten, mit schwarzem Roßhaarzeug überzogenen Möbeln, mit ihren gelben Kattungardinen, auf denen Pagoden und Chinesen gedruckt waren, war so wohnlich als möglich, und es stand Nichts darin, was wir hätten verderben können. Die Bilder unserer Großeltern väterlicher und mütterlicher Seits hingen an der Wand, und darüber ein großes Pastellbild, auf dem ich in weißem Kleide mit blauen Schuhen in Lebensgröße figurirte. Vor mir saß mein ältester Bruder in seinem Hemdchen auf einem Kissen an der Erde und langte nach einer Weintraube, die ich in der erhobenen Rechten hielt, während ich ein Körbchen mit Früchten im linken Arme trug. Es war eines von den damals üblichen Motiven, und wer in jenen Tagen, in denen die Wiedergeburt der Künste in Deutschland noch nicht begonnen hatte, in leidlichen Verhältnissen geboren worden, hat gewiß auch auf irgend einem solchen Bilde mit seinem Apfelkörbchen dagestanden, oder, wenn er ein Knabe war, gemalt auf einem Schaukelpferde gesessen, oder einen Reifen vor sich her getrieben. Unser Bild hatte die nie fehlenden Verzeichnungen an Händen und Füßen so gut[52] wie jedes andere dieser Portraits, aber es war so sprechend ähnlich, daß es mich, als ich schon lange erwachsen war, immer überraschte wie gleich bei uns beiden Geschwistern die Stirnen und die Augen mit jenem Bilde geblieben sind.

Seit ich mich zu erinnern weiß, hatte ich zwei Brüder. Der mir im Alter am nächsten stehende war am zweiten Mai achtzehnhundert und dreizehn, am Tage der Schlacht von Lützen, und der jüngere am ein und dreißigsten März achtzehnhundert und fünfzehn, am Tage des Einzuges der verbündeten Heere in Paris geboren. Mein Vater prägte uns solche Data auf diese Weise ein, und damit ich auch eine Erinnerung für meinen Geburtstag hätte, erzählte er mir, daß schon am Abend desselben, am vier und zwanzigsten März, die Nachricht von der am zwanzigsten März erfolgten Geburt des Herzogs von Reichstadt in Königsberg bekannt geworden wäre.

Diese beiden Brüder waren meine eigentlichen Lebensgenossen durch meine ganze Jugend. Mit ihnen habe ich gespielt, mit ihnen gelernt, mit und an ihnen die ersten Erfahrungen des Lebens gemacht. All unsere Leiden und Freuden haben wir getheilt, die Entwickelung des Einen von uns ist immer auch eine Entwickelungsstufe in dem Leben des Andern geworden, und meine Erinnerungen aufzeichnen, heißt ihrer im Geiste fortdauernd gedenken.[53]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 1, Berlin 1871, S. 46-54.
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