Viertes Kapitel

[54] Man sollte im Grunde einen Menschen, wenn man sich sein Wesen erklären will, gar nicht fragen, an welchem Orte, sondern in was für einem Hause er geboren sei, und wie er seine ersten Jahre zugebracht habe; denn daß ein großer Theil unserer Anlagen sich schon in unsern ersten Lebensjahren zu bestimmten Eigenschaften ausprägen, davon bin ich fest überzeugt. Wir hatten es aber in diesem Punkte außerordentlich gut. Meine Eltern waren damals sehr vermögend, ja reich zu nennen. Sie waren glücklich mit einander, hatten keine Sorgen, liebten uns auf das Zärtlichste, und wir sahen nur heitere Gesichter um uns. Prachtliebe oder Verschwendung lagen außer dem Wesen meiner Eltern, aber der Zuschnitt der Haushaltung war damals breit und reichlich.

Wir hatten drei weibliche Dienstboten, eine Kinderfrau, die gewiß nicht viel über dreißig Jahre alt war, die uns aber natürlich sehr alt erschien, und die wir nur die alte Anne nannten. Meine frühere Amme war als Köchin im Hause geblieben, und daneben hatten wir noch ein Hausmädchen Regine, das nicht ganz jung und immer etwas verdrießlich war, und einen großen dicken[54] Hausknecht, mit sehr hübschem Gesichte, der Mankatz hieß und zugleich einen der Comptoirboten abgab. Alle diese Personen waren lange in den Diensten meiner Eltern. Die Kinderfrau durch dreizehn Jahre, Regine sieben Jahre, meine Amme bis zu ihrer Verheirathung, und ebenso die beiden Comptoirboten Mankatz und Hermann Kirschnik, und die Commis meines Vaters.

Das gab unserm Leben einen festen Boden. Wir hatten uns nicht an immer neue Eindrücke zu gewöhnen, wir wurden mit unseren Gedanken nicht von Einem zu dem Andern fortgezogen. Diese Menschen waren die Unsern, eins mit uns, und wie die Menschen um uns dieselben blieben, so wechselten wir auch unsere äußere Umgebung bis in mein eilftes Jahr nur ein einziges Mal, als mein Vater die Mutter und uns auf einer Reise nach Memel mit sich nahm. Alljährlich Sommerwohnungen zu beziehen, sah man in jenen Tagen noch nicht als eine Nothwendigkeit an, und meine Mutter oder eines von uns Kindern hätte schon schwer krank sein müssen, ehe die Eltern sich zu einer Trennung von einander entschlossen haben würden. Denn sie hatten sich aus Liebe verbunden, und lebten des guten Glaubens, daß die Menschen sich verheirathen, um möglichst viel bei einander zu sein.

Diese Dauerhaftigkeit der Zustände hatte für uns, oder um hier nur von mir zu sprechen, den großen Vortheil, mich in unserer kleinen Welt recht eigentlich heimisch zu machen, und ich glaube nicht, daß die Kinder, in dem jetzt modischen Wanderleben der Familien, bei dem Reisen und dem Wechsel der Sommeraufenthalte[55] irgend auch nur die geringste Entschädigung für jenes Heimischsein in der Heimath zu finden im Stande sind, welches uns damals zu Theil wurde. Denn wenn es für die allgemeine Entwicklung des Menschen überhaupt etwas Unerläßliches ist, ein Ding recht zu kennen, eine Sache recht zu verstehen, so ist das für die Entwicklung eines Kindes in noch viel höherem Grade der Fall, da das Kind auch bei dem ruhigsten Lebensgange täglich, ja stündlich, eine solche Masse von neuen Begriffen in sich aufzunehmen, so viel neue Erfahrungen zu machen hat, und da sein Organismus so viel empfänglicher und so viel reizbarer als der eines ausgewachsenen Menschen ist. Ich kann mich auch niemals des Mitleids erwehren, wenn ich bei unsern Reisen auf Familien stoße, welche ihre Kinder aus Selbstliebe mit sich in der Welt herum schleppen. Bald aufgeregt, bald ermüdet, hier von Fremden über die Gebühr gelobt und gehätschelt, dort von den Eltern und Wärterinnen grundlos zurechtgewiesen, wenn diesen auf der Reise einmal unbequem wird was sie den Kindern zu Hause gestatten, kommen die armen kleinen Geschöpfe zu keinem Behagen und zu keinem Gedeihen. Und nahm ich mir hier und da einmal die Mühe, die Kleinen nach den Dingen zu fragen, welche sie eben jetzt, oder gar vor einem Jahre auf der Reise erlebt hatten, so war ihnen nichts als irgend eine Kleinigkeit im Gedächtniß geblieben, die sie zu Hause viel leichter und ebenso gut hätten erleben können. Ein Kind, das unter der Aufsicht einer ehrlichen Kinderfrau auf irgend einem Grasplatze Butterblumen pflückt und mit einem Hunde spielt, ist tausendmal besser aufgehoben,[56] und hat unverhältnißmäßig mehr Gewinn für sein Leben, als die kleinen Geschöpfe, die heute in einer fremden Stadt umhergeführt werden, morgen mit ihren kleinen dummen Augen Etwas vor sich sehen, was man ihnen als das Meer bezeichnet, übermorgen in einen zoologischen Garten mitgenommen werden, und die dazwischen in lauter fremden Zimmern wohnen, sich unter lauter fremden Gesichtern bewegen müssen. Ein Glück ist's dabei nur, daß die Kinder sich mit instinktivem Selbsterhaltungstriebe gegen die ihnen zugemuthete Ueberfütterung mit Eindrücken zu wahren suchen, indem sie sich an das ihnen Gemäße halten. Ein paar acht- bis neunjährige Knaben, die man einmal in meiner Gegenwart einen aufsteigenden Luftballon bewundern machen wollte, amüsirten sich während dessen einen Pudel zu betrachten, der zu ihren Füßen in einem Graben schwamm; und ein dreijähriges Mädchen, das wir im Hafen von Hamburg die Schiffe anzusehen aufforderten, rief ganz vergnügt: »ach die rothen Strümpfchen!« – Sie hatte ihre Augen auf eine Leine voll trocknender Wäsche gerichtet, die man am Ufer ausgespannt, und sich an Strümpfchen gefreut, welche etwa die Größe der ihrigen hatten. –

Ruhig, wie unser Leben war, bot es aber doch Abwechslungen dar, welche uns sehr groß erschienen. Meines Vaters Banquiergeschäfte brachten ihn besonders mit russischen und polnischen Häusern in Verbindung. Mein ältester Onkel war viel in Petersburg, unser Vetter August Lewald viel in Warschau, und es kamen, von ihnen empfohlen, viel polnische und russische Kaufleute in unser Haus. Bisweilen hatten sie ihre Frauen mit sich,[57] ein Paarmal kamen auch hübsche Kinder mit. Für diese russischen und für andere Gäste wurde dann der Saal aufgemacht, ein fremder Diener deckte die Tafel mit Silbergeräth, welches nicht im täglichen Gebrauch war, er legte die Servietten in Fächer und Schiffchen und Sterne zusammen, drückte blätterartige Streifen in die Auflege-Servietten, es wurden Früchte auf den Tisch gestellt, die blauen Vasen mit den Ansichten von der Bastei und vom Königstein mit Blumen gefüllt, und wenn der Saal dann auch noch eiskalt war und der geschäftige Diener uns auch alle Augenblicke auf die Seite schob, »weil wir ihm immer unter den Füßen waren« – so war es doch eine Wonne, sich ein großes Tuch hinten zubinden zu lassen, und mit rothen frierenden Händen im Saale zu stehen, um abwechselnd die Servante mit ihren Herrlichkeiten zu betrachten, oder die Tafel anzustaunen, auf welcher der silberne Kuchenlöffel und die Glasschalen voll Früchte und Eingemachtem die ganze Wollust verkündeten, welche das Dessert uns zu gewähren hatte.

Wenn dann im Saale Alles fertig war und die Thüren bis zur Mahlzeit geschlossen wurden, so ging es hinunter zu ebner Erde in die Küche. Sie war, wie in allen den alten Königsberger Häusern, klein, kalt und finster; aber das Feuer brannte an solchen Tagen auf dem Heerde dreifach heller als gewöhnlich, denn der Braten hing am Spieße. Ueber und unter der großen kupfernen Tortenpfanne glühten die Kohlen, die »Kochfrau,« neben welcher unsere sonst sehr despotische Köchin dann ganz zum Schatten zusammenschrumpfte, reichte mit[58] ihren Augen und Armen überall zugleich hin, und der Hauptgenuß bei diesen Küchenbesuchen war es eigentlich, daß wir dort noch viel mehr im Wege waren und noch viel öfter bei Seite geschoben wurden, als in dem Saale, daß also viel größere Beharrlichkeit dazu gehörte, in die Küche einzudringen, oder gar sich eine kleine Weile darin zu behaupten.

War nun die Eßzeit da und mit ihr die Fremden gekommen, dann holte die Kinderfrau ihr erfrornes und verwildertes Kinderhäufchen zusammen, wir wurden auf's Neue gewaschen, zogen hübsche Kleider an, mußten oft recht lange artig sitzen bleiben, um uns nichts zu verderben, und wenn wir dann endlich gerufen wurden, wenn man uns in den Saal hineinbrachte, der uns mit seinen Lichtern immer fremd und feierlich erschien, dann war das Vergnügen auch ganz außerordentlich groß. Wir wurden bewundert, geliebkost, gefüttert, sahen die geputzten Leute, und wurden dann wieder entfernt, um in der stillen Kinderstube von den Erlebnissen des Tages zu reden und zu träumen.

Dann wieder kamen Tage, an denen die Eltern in Gesellschaft gingen, und wir zusehen durften, wie die Mutter sich ankleidete. Sie war eine feine, mittelgroße Gestalt, sehr schlank und so zierlich gewachsen, daß sie noch als fünfzigjährige Frau jugendlich in Gang und Haltung erschien. Zu dem schönsten Teint hatte sie starkes, schwarzes Haar und hellblaue Augen, dabei eine feine Gesichtsbildung und ein ungemein liebliches Mienenspiel. Ihr ganzes Wesen war Anmuth und Geschmack, und diese beiden Eigenschaften, verbunden mit einem sehr[59] gesunden Verstande und großer Güte, ersetzten in ihr für das Haus wie für den Verkehr mit Fremden, was ihr an Wissen und an Kenntnissen gebrach. Sie war zu klug, um scheinen zu wollen was sie nicht war, und während ihre Kenntnisse wirklich kaum über das Elementare hinausgingen, wußte sie den bedeutendsten Männern ihr Haus angenehm zu machen, und deren Verehrung und Freundschaft zu verdienen.

In ihren kleinen Schmuckkasten hineinzusehen, aus welchem ein Fläschchen Rosenöl starken Duft verbreitete, sie selbst zu bewundern, wenn sie im schwarzen Sammetkleide mit einem kleinen Brillantkamm und einer rothen Rose im Haar, Perlen um den Hals und schöne Pointspitzen um Nacken und Busen, zum Ball fuhr, das war uns eben so amüsant, als der Einzug einer Prinzessin verwöhnteren Kindern nur sein kann: denn es ist überall mehr der Sinn, mit welchem man die Eindrücke aufnimmt, als die Beschaffenheit der Gegenstände, von dem unser Genuß bedingt wird.

Aber solcher großen Ereignisse, welche doch nur die Ausnahme machten, bedurften wir gar nicht, um Freude zu haben. Da waren die Hühner in dem engen Hofe, und die fünf Gänse in ihrem Koben. Da waren immer ein Paar Puthähne, welche im Hofe gefüttert wurden, und vor allem die Tauben, welche einer unserer Commis, Herr Rubinson, – der ein großer Violinspieler zu sein glaubte, und manchmal stundenlang eine alte Geige in furchtbarem Gewinsel erklingen ließ – sich heimlich hielt, die unser Entzücken ausmachten. Das heißt mit der Heimlichkeit dieses Taubenhaltens war das eine[60] eigene Sache, denn Jeder im Hause wußte darum, und Jeder kannte die Ecke auf dem Boden, in welchem die fünf, sechs Taubenpaare ihr Wesen trieben, und Jeder hatte auch den Taubenschlag gesehen, der in ein Paar ausgehobene Dachziegel hineingelegt war. Mein Vater, der es verboten hatte, weil es gegen die Polizeiordnung war, wußte es; und meine Mutter, der die Schmutzerei auf dem Boden sehr zuwider war, wußte es; und der dicke Vetter Zacharias, der auch in unserem Geschäfte war und ebenfalls in unserem Hause wohnte, wußte es auch. Und wenn er bei Tische geflissentlich immer auf irgend welche Tauben zu sprechen kam, daß dem armen Rubinson das Blut in die Wangen schoß, weil er dachte, nun werde ein Interdikt erfolgen, so sahen wir Kinder auch ängstlich auf den Vater hin – aber das Interdikt wurde nie gesprochen. Der Vater war einst selbst ein leidenschaftlicher Taubenzüchter gewesen, die Mutter ließ sich die Unsauberkeit gefallen, weil wir Kinder solch Vergnügen an den Tauben hatten, und die Tauben waren und blieben ein öffentliches Geheimniß, bis Herr Rubinson einige Jahre später einmal bei dem Bestreben fremde Tauben anzulocken, aus dem Dachfenster hinausstieg und einen schweren Fall auf ein Nachbardach hinunter that, der ihn auf ein langes Krankenlager und damit die Tauben aus dem Hause brachte.

Wir waren zu bestimmten Stunden und viel, aber nicht immer, bei unserer Mutter, und solch eine Gewöhnung an eine bestimmte Zeiteintheilung ist Kindern schon in ihrer frühesten Jugend heilsam. Daß wir in verschiedenen Etagen wohnten, kam dieser Anordnung zu[61] Statten. Jede der Etagen hatte aus Vorsicht für uns vor der Treppe ein kleines hölzernes Gitter erhalten, und war dies zugemacht, so waren wir eben auf unser Terrain angewiesen. Es blieb uns dann nichts übrig, wenn wir nicht mit einander spielen mochten, als aus dem Fenster zu sehen, und wie ich im Hause nicht müde wurde, jeden Winkel und jede Schieblade zu untersuchen, so konnte ich stundenlang am Fenster auf einem Stuhle knieen und drüben die Häuser und die Nachbarschaft betrachten.

Von der Weise, welche man jetzt hat, die Kinder zu beschäftigen, von den sinnreichen Spielen, von der Fröbelschen Theorie, wußte man damals, oder doch mindestens in unserem Hause, noch nichts. Wir hatten allerlei Spielzeug, Häuserschachteln, Puppen, Festungen, die zum Theil sehr schön und kostbar waren, und die wir meist von unserm ältesten Onkel erhalten hatten, wenn er von Petersburg oder sonst von Reisen zurück kam. Aber mit fertigem Spielzeug läßt sich nicht lange spielen, und bis ich groß genug war, um selbst für die Puppen nähen und schneidern zu können, hatte all unser Spielzeug, hatten selbst meine kostbarsten Puppen nur das Interesse der Neugier für mich. Ich wollte wissen, wie die Dinge gemacht wären, wie sie von Innen aussähen, und um das zu ergründen, arbeitete ich so lange an ihnen herum, bis ich sie zerbrochen hatte.

Meine Eltern, welche uns nur einfachere Dinge gaben, schalten mich dann immer. Sie thaten mir aber damit, ohne es zu wollen und zu wissen, Unrecht, und die Kinderfrau, welche mich nicht besonders liebte,[62] bestärkte sie darin, denn sie versicherte, daß ich mir auch aus dem Allerschönsten gar nichts mache, daß kein Abmahnen bei mir helfe und daß ich nicht Ruhe hätte, bis Alles zerbrochen und verdorben sei. Sie sahen dem angebornen Thätigkeits- und Forschungstriebe der Kinder gar nichts nach oder vielmehr, sie verstanden denselben gar nicht. Sie dachten nicht, welch einen Eindruck es auf ein Kind macht, wenn es seiner ganzen kleinen Erfahrung entgegen ein todtes Ding, einen hölzernen Vogel, einen hölzernen Hund Töne von sich geben hört und sie räthselhafte Bewegungen machen sieht. Warum bellt der Hund im Bilderbuche nicht? fragt das Kind. – Der ist ja nur gemalt! heißt es dann. Aber warum bellt denn dieser hölzerne Hund? forscht es weiter, ohne sich bewußt zu sein, daß es mit diesem Schlusse von dem gemalten auf den hölzernen und auf den lebendigen Hund, den Begriff des Lebendigen und des Leblosen gefunden und in sich festgestellt hat. Das ist von Innen so gemacht! giebt man ihm zur Antwort, und bedenkt nicht, wie man das Kind damit wirklich zwingt, die Sache zu untersuchen.

Heute noch erinnere ich mich des Schreckens, mit dem ich einmal vor einer kleinen zerbrochenen Leier dastand, auf welcher sich ein Vogelbauer mit einem gelben Vogel in die Runde drehte, während kleine klimpernde Töne erklangen. Ich hatte mit voller Ueberlegung das Innere sehen wollen, und deshalb das weiße Leder zwischen den Brettchen der Leier ein wenig gelockert, aber das half mir nichts. Ich konnte nichts sehen, ich mußte etwas mehr losreißen. Nun hatte ich das gethan, ich[63] drehte die Leier wieder, sie klang nicht mehr recht. Die Ahnung, daß ich wieder etwas verdorben hätte, kam über mich. Fast ohne zu wissen, was ich that, riß ich das ganze Leder herunter. Da lagen nun die zwei weißen Brettchen, da sah ich nun fünf dünne Roßhaar-Saiten über einen kleinen Bock gespannt, und an der Kurbel saßen zwei Stückchen Federposen, welche über die Saiten streiften, wenn man die Kurbel drehte. Das war also Alles! Nun wußte ich's, und nun wollte ich das Spielzeug erst recht genießen. Aber ich drehte und drehte, das Vogelbauer ging in die Runde, so oft ich's nur wollte, indeß das Singen hatte der Vogel verlernt. Ein trauriger Zergliederer meiner Freuden stand ich vor einem neuen Räthsel da, und hatte mit tiefer Betrübniß im Herzen auf den gegen mich ausgesprochenen Tadel gar keine andere Entschuldigung vorzubringen, als daß ich den Vogel gar nicht hätte zerbrechen wollen, und daß ich Nichts dafür könne, daß mein Spielzeug entzwei gegangen sei. Noch viel unglücklicher aber sah ich auf meine Puppen hernieder, wenn ich, gleichfalls nur in der Absicht zu wissen wie sie von Innen gemacht wären, ihren Kopf mit einer Nadel oder mit einer Scheere von hinten leise angebohrt hatte, um dann erst mit einem Finger und dann mit zweien, behutsam hinein zu fühlen. Und wenn dann das Papiermaché oder das Wachs plötzlich in lauter Bröckeln zu meinen Füßen fiel, war ich jedesmal so betroffen und so niedergeschlagen, als wäre mir dasselbe nicht schon vorher oft genug begegnet. Es bedarf aber für Kinder durchaus der mehrmals wiederholten gleichen Erfahrung, um sie in jedem besonderen Falle den Schluß[64] von Ursache und Wirkung richtig ziehen und in sich feststellen zu lassen.

Ich habe mir nebenher daraus die Lehre gezogen, daß man bei Kindern wirklich einen Unterschied machen muß zwischen dem bösen, verstandlosen Zerstörungstriebe, dem man nicht früh genug entgegentreten kann, und zwischen der naturgemäßen Neugier, welche absichtslos, ja in gewissem Sinne mit voller Berechtigung ihr Zerstörungswerk verübt. Man hat mir dagegen eingewendet, daß man den Kindern eben deshalb nur ursprüngliche Dinge, also die Fröbelschen Würfel und Klötzchen und Stäbe zum Spielen geben, daß man ihre Spiele nur auf's Schaffen hinleiten, und sie stufenweise fortschreitend an die Dinge gewöhnen müsse, so daß sie nicht von Wundern überrascht und von Verwunderung zum Zerstören angetrieben würden. Mich dünkt aber, solche abstrakte Entwickelung und Unterrichtung lasse sich in Mitten unserer Welt nicht ausführen, und ich meine auch, man müsse dem Kinde das Denken und Vorwärtskommen auf seine eigene Weise nicht ganz behindern. Aus sehr systematischen Erziehungen habe ich meist nur beschränkte Köpfe und pedantische Seelen hervorgehen sehen, und wer nicht von früher Kindheit an auf seine eigene Hand zu irren und zu fehlen gelernt hat, der lernt es auch bei den Tausend unberechenbaren Wechselfällen und Zufällen des spätern Lebens nicht leicht, sich zurechtzufinden, sich zu helfen und sich durchzuschlagen. Der Mensch ist, wenn er eben die Anlage zu einem ganzen Menschen in sich trägt, schon in seiner Kindheit viel zu individuell, als daß es weise wäre, ihn nach[65] allgemeinen Grundsätzen, nach Theorien zu erziehen; und wenn ich sehen muß, wie viel mit halbverstandenen Systemen an den Kindern gesündigt wird, preise ich mein Geschick glücklich, das mich vor aller Experimentalerziehung bewahrte. Denn es schadet dem Kinde viel weniger, wenn es hie und da einmal Unrecht thut oder Unrecht leidet, als wenn sei nen natürlichen Anlagen zu sehr entgegengetreten, und dem Bischen Freiheit, das es nöthig hat, durch Regeln und Maximen der Spielraum entzogen wird.[66]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 1, Berlin 1871, S. 54-67.
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