Einundzwanzigstes Kapitel

[369] Am achten October achtzehnhundert einunddreißig ging die geschlagene Hauptarmee der polnischen Revolutionäre über die preußische Grenze. Die polnische Erhebung war abermals mißglückt, die russische Herrschaft hatte den Sieg davon getragen. Einige Wochen später kamen ganze Schaaren von polnischen Offizieren nach Königsberg, und es wurden in allen Dörfern der Umgegend polnische Soldaten und Offiziere einquartiert.

Der Handel, der während eines Jahres mit großem Gewinn gelohnt hatte, gerieth durch die strenge Grenzsperre wieder in das Stocken, aber es hatten eine Menge von Menschen in demselben Vermögen gewonnen, und da man einerseits das Erworbene genießen und sich von dem Drucke und von der Beschränkung erholen wollte, unter denen man sich während der Dauer der Cholera befunden hatte, andererseits auch den polnischen Emigranten den Antheil bezeigen wollte, den man an ihnen nahm, so wurde der Winter ein ungemein geselliger, und der Bälle und Tanzgesellschaften, der Schlittenpartien und sonstigen Lustbarkeiten gab es in Fülle.

Die Polen, welche nach Königsberg gekommen waren, hatten zum größten Theile dem Gielgud'schen Corps angehört, und eine große Anzahl unter ihnen war recht[369] dazu gemacht, den Frauen zu gefallen. Die Einen waren jung, schwungvoll, und von der Begeisterung für ihre Sache so sehr durchglüht, daß die Hoffnung einer neuen baldigen und glücklicheren Erhebung sie über das Unglück des Augenblickes forthob. Andere, und es waren die Ernsteren und Bedeutendern unter ihnen, trugen schwer an dem Schmerze um das Vaterland, und mit wie guter Art sie sich auch den Zuvorkommenheiten der Gesellschaft hingaben, so konnte man ihnen doch anfühlen, daß ihre Seele nicht dabei war. Im Allgemeinen sprachen sie gut französisch, hatten leichte und gefällige Manieren, eine im Worte stets bereite Galanterie, und außer dem ihnen Allen gemeinsamen Vorzuge, unvergleichlich gute Tänzer zu sein, hatten Viele noch hübsche musikalische Talente. Rechnet man dazu ihre kleidsamen Uniformen, die sie freilich bald ablegen mußten, und den Nimbus, welchen der eben überstandene Kampf und das Unglück ihres Vaterlandes um sie verbreiteten, so wird man es natürlich finden, daß sie den Frauen und Mädchen anziehend waren, und daß sie sich über Mangel an Gastfreundschaft nicht zu beklagen hatten, – eine Gastfreundschaft, die sie übrigens in jedem Betrachte zu ehren und zu respectiren wußten.

In unser Haus waren keine Polen eingeführt wor den, aber ich traf hie und da einige Offiziere in befreundeten Häusern, und namentlich in dem Schlosse zu Holstein, dessen Besitzer ein Jugendfreund unserer Eltern war.

Dieses Holstein, am Ausflusse des Pregels in das frische Haff, eine Meile von Königsberg gelegen, ist ein von Friedrich dem Ersten erbautes Königliches Jagdschloß, das schöne Garten- und Parkanlagen hat, und[370] das der Hof besuchte, wenn er in der Kaporn'schen Heide jagte, in welcher allein das Elenthier sich noch in Preußen erhalten hat. Später war das Schloß mit seinen Ländereien in den Besitz eines Herzogs von Holstein Gottorp, dann in die Hände des bekannten Herrn von Trenk, endlich an einen Banquier übergegangen, von dem es an die uns befreundete Familie des Amtmann Magnus kam, der es Anfangs nur als Pächter inne hatte.

Am Sonnabend, wenn die mit uns gleichaltrigen Söhne und Töchter des Amtmanns aus der Stadt nach Hause geholt wurden, mit hinauszufahren und bis zum Sonntag Abend draußen zu verweilen, oder einmal eine Ferienwoche in Holstein zuzubringen, war uns immer ein Vergnügen gewesen. Seit der älteste Sohn des Amtmanns die Universität bezogen, und die Töchter wie ich herangewachsen waren, hatten wir in Holstein an den Sonntagen außer der Freude, auf dem Lande zu sein, auch noch immer ein Paar andere Bekannte der Kinder, und damit eine Gelegenheit zu Spiel und Tanz gefunden, die nun durch die Anwesenheit der polnischen Offiziere noch belebter wurden. Sie waren theils in Holstein selbst, theils in der Umgebung einquartiert, und gehörten bald zu den feststehenden Sonntagsgästen des Hauses.

Konnten wir in dem Winter Sonnabends nicht mitgenommen werden, so schickte der Amtmann Sonntags bisweilen einen verdeckten Schlitten, die Eltern und uns zu holen, und es war dann eine doppelte Lust, auf der Eisfläche des gefrorenen Pregels, zwischen allen den andern Spazierenfahrenden in klingendem Froste, in Pelzen wohlverwahrt dahin zu gleiten, und Nachts nach vier-, fünfstündigem[371] Tanzen, im funkelnden Sternenlichte nach Hause zu fahren, wobei man, weil dann auch des Amtmanns Kinder zur Stadt befördert werden mußten, in zwei Schlitten untergebracht, und wir Jüngern in den einen derselben zusammengepackt wurden, was die heitere Laune nur erhöhte, so daß wir singend und lachend die Stadt zu erreichen pflegten.

Und ich lachte immer mit, denn ich war jung und leicht angeregt, bis mir dann plötzlich mitten in Spiel und Tanz der Gedanke kam: aber Leopold liegt in der Erde und Du tanzest!

Dann flog mir ein eisiges Grauen vor mir selbst durch die Glieder. Ich sah ihn todt, entstellt! – es kam mir unnatürlich vor, daß ich lebte, daß ich Stunden hatte, in denen ich froh sein und vergessen konnte, und weil die ganze Wucht des Schmerzes, die ganze Größe meines Verlustes mich grade immer dann befiel, wenn mich die Heiterkeit der Andern mit fortgerissen hatte, so fing ich an, mich vor dem Frohsein, ja vor mir selbst zu fürchten. Und doch hätte ich keine Möglichkeit gehabt, mich der Gesellschaft zu entziehen, denn der Vater würde mir nicht gestattet haben, sie zu meiden, hätte ich dies Verlangen ausgesprochen.

Tausendmal habe ich in jenen Tagen gedacht: wie glücklich wärst Du, wenn Leopold Dir öffentlich verlobt gewesen wäre, wenn Du sagen könntest, daß Du um ihn trauerst, daß Du unglücklich bist! – Dann aber kam mir wieder eine Scheu davor, es die Leute wissen zu lassen, daß ich mich unglücklich fühlte. Ich mochte nicht gefragt, ich mochte nicht beklagt sein, und wenn ich eben erst gewünscht hatte, Trauer und Leid tragen zu dürfen,[372] sagte ich mir im nächsten Augenblicke: »welch ein Glück, daß sie nichts von Dir wissen! welch ein Glück, daß Du für Dich allein lebst!«

Dazu aber gesellte sich eine thörichte Geringschätzung der Menschen, weil sie sich von meinem äußern Frohsinn täuschen ließen. Ich hatte eine Genugthuung daran, hell zu lachen, wenn jenes Entsetzen über Leo pold's Tod sich meiner bemächtigte, und wenn ich dann gewahrte, daß meine Heiterkeit die Andern ansteckte, daß man mich amüsant und geistreich und witzig nannte, so genoß ich einen Triumph, der mir das Herz zerriß.

»So wenig von meinem eigentlichen Wesen gebe ich Ihnen,« sagte ich einmal zu einem jungen Manne, der mir viel Aufmerksamkeit bewies, »und das genügt Ihnen! Sie müssen nicht verwöhnt sein, oder – nicht viel werth!« – Er nahm das für einen Scherz, wie es die Meisten thaten, wenn ich es so machte, weil die Unart gar zu groß war, weil ihnen solcher Unart gegenüber auch nicht viel Andres übrig blieb, und weil ich sie meist mit großer Heiterkeit aussprach. Sie ließen sich den unverzeihlichen Uebermuth als Koketterie gefallen, und dieser verzeihen die Männer selbst das Ungehörige, weil sie in ihr das ihnen schmeichelnde Bestreben der Frauen sehen, um jeden Preis die Aufmerksamkeit des Mannes zu erregen, und ihn durch ungewöhnliche Anreize an sich zu fesseln. Auch hielten mich viele Leute für kokett, und doch dachte ich in jenen Zeiten an Nichts weniger als an die Eroberung irgend eines Mannes.

Aus reiner Traurigkeit, aus dem Bedürfniß sie zu verbergen, aus dem Zwiespalt zwischen meiner Empfindung und zwischen der Lebensweise, in der ich mich bewegte,[373] war ich in den Ton der Koketterie hineingekommen; und während ich selbst sie unedel, ja niedrig fand, hatte ich mich an ein Betragen gewöhnt, das mir nothwendig den Anschein dieses Fehlers geben mußte. Ich hatte von meinem Gebahren indessen keinen andern Genuß, als denjenigen, welchen ein geschickter Spieler am Kartenspiel empfindet. Es zerstreute mich. Ich wurde mir gewisser Fähigkeiten dabei bewußt, und ich glaubte eine Ueberlegenheit über Andere zu beweisen. Hätte mir in jenen Tagen eine lebenserfahrene, herzenskundige Frau zur Seite gestanden, die mich zu leiten gewußt, es wäre mir manche schmerzliche Stunde, es wären mir manche Irrthümer zu ersparen gewesen, von denen ich durch mich selbst zurückzukommen viel Zeit gebrauchte. Aber meine Mutter sah, daß man mich suchte, daß ich gefiel, daß mich dies zerstreute, sie ließ mich also gewähren, und für einen Zustand, wie der meine es damals war, reicht das Auge eines Vaters nicht aus. Ein ernster, fremder Mann hätte mir zu Hilfe kommen, mich in das Gleichgewicht setzen können; vor dem Vater zogen sich meine Fehler in achtungsvoller Scheu zurück, und sein Zutrauen zu dem Ernste meiner Natur war so unbedingt, daß er mich des Komödiespielens, dem ich mich ergeben hatte, nicht für fähig gehalten haben würde. So lebte ich eine ganze Weile fort, und nur einmal kam von außen her eine Warnung an mich heran.

Unter den polnischen Offizieren, welche ich in Holstein hatte kennen lernen, war ein Oberlieutenant, ein Mann von etwa dreißig Jahren, der uns Allen ein angenehmer Gesellschafter, und der auch in unserm Hause später vorgestellt worden war. Er sprach das Französische sehr gut, spielte[374] hübsch Guitarre, sang angenehm, tanzte vortrefflich, und ließ sich zu dem Allen, obschon er ernst und oft sehr trübe gestimmt war, stets bereitwillig finden, wie Einer, den es freut, die Pflicht der Dankbarkeit abtragen zu können. Er hatte eine Braut im russischen Litthauen zurückgelassen, und war trotz der dringenden Abmahnungen seiner Freunde einmal verkleidet über die Grenze zurückgegangen, um sie zu sehen und ihr Lebewohl zu sagen. Wir Alle waren ihm mehr oder weniger gleichgültig, und selbst die Oberflächigsten von uns trugen allmählig eine Scheu, ihn zum Singen oder Spielen aufzufordern, weil wir fühlten, daß er ein Opfer damit bringe. Mit mir hatte er, wie mit den Andern, gesprochen und getanzt, und sich, wie mir schien, um mich nicht mehr gekümmert, als eben nöthig und höflich war.

Da befanden wir uns eines Abends in unserm Hause in Gesellschaft. Ich hatte oben in meinem Zimmer viel geweint, und die gute, treue Mathilde, deren einfachem und natürlichem Charakter meine damalige Ueberreizung ebenso räthselhaft als unheimlich blieb, hatte mir die oft gethane Frage vorgelegt: wer zwingt Dich denn, froh zu scheinen, wenn Du es nicht bist? – Aber das half mir nicht. Sie kannte das falsche Ehrgefühl, den falschen Stolz nicht, die es mir unerträglich machten, unglücklich oder auch nur traurig zu scheinen, und kaum hatte ich meine rothgeweinten Augen getrocknet und gekühlt, kaum waren die Gäste unten im Wohnzimmer bei uns eingetreten, so tanzte ich wieder auf dem Seil des Frohsinns, und gerieth, um nicht herabzufallen, in die übertriebensten Sprünge, in absprechende Behauptungen, in unvernünftige Paradoxien, und in ein Scherzen und Lachen, die[375] mir wehe thaten. Der Oberlieutenant sah das mit Verwunderung an, ich mochte es vielleicht lange nicht so arg getrieben haben. Mit einem Male, als wir in der Nähe des Fensters und zufällig allein nebeneinander standen, sagte er: Mit einem ernsten Charakter wie der Ihre muß man sehr unglücklich sein, um sich in einer solchen Heiterkeit zu gefallen! –

Ich war überrascht, wußte Nichts zu sagen, und wurde still. Es fiel auch nie wieder zwischen uns ein ähnliches Wort, denn wir sahen einander nicht eben häufig. Aber zum ersten Male trat der Zweifel an mich heran, ob man mir denn meine Heiterkeit auch glaube? zum ersten Male dachte ich daran, daß es gut und selbst bequem sein würde, könnte ich von dem Wege umkehren, auf den ich mich verirrt hatte. Indeß ich wußte es nicht zu machen, und die Besorgniß, jene Lüge, in die ich mich hineingelebt hatte, von Allen erkannt zu sehen, hielt mich in derselben fest.

Nach Außen hatte ich in diesem Winter an Freiheit sehr gewonnen. Der Kreis meiner Bekannten hatte sich ausgedehnt, ich war öfter als sonst in Gesellschaft, und der Vater legte mir darin jetzt keine Beschränkung mehr auf, als die Rückkehr zu einer festgesetzten Stunde. Ich war, wohin ich auch ging, fast überall allein. Die Kränklichkeit der Mutter hielt sie im Winter oft lange an das Haus und an das Zimmer gebannt, die Eltern hatten auch mit den Eltern meiner Freundinnen keinen Verkehr, und ich gewöhnte mich also, mich selbstständig zu halten und zu behaupten. Kam ich dann nach Hause, so schlief die Mutter, die sich früh zur Ruhe legen mußte, schon lange; aber der Vater saß, und er hatte das von jeher[376] so gehalten, völlig angezogen und lesend da, ließ sich von mir erzählen, was ich erlebt hatte, nahm dem mich begleitenden Hausknecht den Schlüssel des Hauses ab, und diese liebevolle Aufsicht setzte er regelmäßig fort, bis ich im Laufe des Winters nach dem Studentenexamen meines Bruders, durch dessen Eintritt in die Gesellschaft, einen Begleiter und einen Gefährten gewann.

Es war aber, als wollten die Eltern mich selbst gern zerstreuen, als wollten sie mir jede Freude gönnen, die mir zu gestatten und zu gewähren in ihrer Macht stand; denn auch die Erlaubniß, an den Aufführungen zu einem Polterabende mitzuwirken, wurde mir jetzt gewährt, so entschieden derlei mir früher versagt geblieben war. An diesen Polterabend knüpft sich die Erinnerung meines ersten dichterischen Erfolges, der freilich von meinem Auftreten als Schriftstellerin volle zehn Jahre entfernt liegt.

Die älteste Enkelin des alten Bankier Oppenheim verheirathete sich mit einem Philologen, und die Freunde und Geschwister des Paares hatten es auf einen großen Polterabend abgesehen. Die Schwestern der Braut forderten mich auf, daran Theil zu nehmen, ich hatte eine große Zuneigung zu derselben, denn sie war mir im Stillen ein Vorbild, so wenig Anstalt ich auch damals machte, ihr ähnlich zu werden, und ich trug großes Verlangen, ihr an dem Polterabend irgend Etwas zu lieb zu thun, – nur daß ich wußte, dergleichen dürfe ich nicht von den Eltern fordern. Indeß die eine Schwester der Braut, die mich liebte und mich durchaus bei dem Feste betheiligt haben wollte, bat in ihrer unbefangenen Weise meine Eltern, mich mitwirken zu lassen, und zu meinem größten Erstaunen erhielt ich ohne Weiteres ihre Zustimmung.[377]

Nun ging es an ein Berathen und Ueberlegen! Alle Bibliotheken und Buchladen wurden in Anspruch genommen, aber obschon wir ganze Stöße von Büchern um uns aufstapelten, waren die darin enthaltenen so genannten Polterabendscherze so trivial und zum Theil so roh, daß sie uns anwiderten, und wir sie nicht brauchen konnten. Es setzten sich also die dichterischen Talente unter unsern Bekannten in Bewegung. Indeß die Einen schafften eben nur, was sie selber brauchten, die Andern warfen Himmel und Erde durcheinander, ohne viel damit zu erreichen, und nachdem ich vom Lesen und Suchen endlich müde und unlustig geworden war, kam ich eines Tages ganz plötzlich auf den Gedanken, mir selber Etwas zu machen.

Ich hatte damals noch Unterricht im Zeichnen, war grade mit einer Copie des Amor und der Psyche nach Gerard beschäftigt, die ich der Braut zu schenken dachte, und wollte, um diese Zeichnung gut anbringen zu können, als irgend ein Genius erscheinen, der dem Brautpaare das Bild der Liebe zum täglichen Gefährten in das Haus bringen sollte. Daß die Mythe von Amor und Psyche eben kein gutes Bild, oder kein gutes Omen für die eheliche Liebe und Treue darbot, focht mich dabei nicht an. Ich hatte nur die rosa Tricotstrümpfe, die silbergeschnürten Sandalen, das weiße Gazekleid, die großen weißen Flügel und den Kranz von Rosen und Lilien im Sinne, den ich aufsetzen wollte, und was mir etwa von mythologischen Zweifeln kommen konnte, das erstickte der Gedanke an die schönen Verse, die ich zu machen beabsichtigte.

Wenn die Menschen aber sehen, daß man selbst für[378] sich zu sorgen anfängt, so finden sie es gleich in der Ordnung, daß man auch für Andre sorge. Das wird ein Jeder in den kleinsten wie in den größten Verhältnissen an sich erfahren, und kaum hatte ich daher erklärt, daß ich mir selbst ein Gedicht zum Polterabend machen würde, so wünschte die jüngste Schwester der Braut, daß ich auch noch eine zweite Scene, für sie und mich zusammen, erfinden sollte. Weil ich nun in der Scene für mich sehr in die Erhabenheit zu gerathen vorhatte, so beschloß ich meine zweite Dichtung ganz aus dem gewöhnlichen Leben zu nehmen, und ein alter Volksgebrauch sollte mir dazu den Stoff bieten.

Es hatte sich damals noch aus früheren Zeiten in Königsberg, wo fast alle Lebensmittel von den Verkäufern in den Straßen ausgerufen und in die Häuser zum Kauf getragen werden, die alte Sitte erhalten, daß die Fischfrauen zu Fastnacht in einzelnen Paaren, mit einem buntgeschmückten großen Netz in die Häuser ihrer Kunden gingen, und dort im Flur tanzend, und einige bestimmte Verse absingend, ein Trinkgeld erhielten. Die Verse wurden plattdeutsch gesungen, was damals noch im Volke und auch in den Häusern von den Dienstboten gesprochen wurde, und was also Jedermann konnte, oder doch wenigstens kannte. Die Fischfrauen trugen dazu ihre besten Röcke und Jacken, große breite Schürzen, und den damaligen Hauptputz der Frauen aus dem Volke, das hochaufgethürmte bunt- oder schwarzseidene Kopftuch, das um so mehr geschätzt wurde, je vielfarbiger und greller die eingewirkte Borte war.

Ein solches Costüm ließ sich für uns aus den Vorräthen unserer älteren Dienstboten – die jüngeren hatten[379] bereits die kleinen weißen Hauben angenommen – leicht zusammenbringen; sie waren es auch, die uns das Plattdeutsche geläufiger einexercirten, und am betreffenden Tage traten wir denn als Fischfrauen in den Saal. Große Kunst hatte ich für meine Erfindung nicht nöthig gehabt. Das eigentliche Volkslied lautete:


Loop an de Linge (Leinen)

De Fischke's de springe,

De Fischergeselle singe,

De Fischerwiwer springe.

Wi' winsche dem Herrn

Enen goldenen Disch,

Up alle veer Ecke

Gebratene Fisch.

Wi' winsche de Fru

Eenen jungen Sohn, –


und so ging das weiter fort, für alle Hausgenossen, die Köchin nicht zu vergessen, der hier und da auch Böses nachgesagt wurde, wie denn gelegentlich auch einmal eine Derbheit vorkommen konnte.

Ganz ähnliche Volkslieder mit Wünschen für das Haus singen, beiläufig bemerkt, auch die Landmädchen in dem polonisirten Theile von Westpreußen, wenn sie den Erndtekranz in das Haus bringen. Nur findet sich unter diesen Mädchen fast immer Eines oder das Andere, das die Verse zu variiren und der Gelegenheit anzupassen weiß, und es ist dort Sitte, mitten unter den guten Wünschen dem Hausherrn und der Hausfrau auch neckend ihre Fehler vorzuhalten, was mit einer gewissen Ehrlichkeit geschieht. Als ich aber später einmal auf dem Gute unseres Freundes Julius von Hennig, in Plonchott, einem solchen Erndtefeste beiwohnte, hatte dessen Frau[380] kurz vorher die Schwester verloren, und trug noch ihre Trauerkleider, als sie den Erndtekranz in Empfang nahm, und dafür das erste Brod vom frischen Korn den Arbeitern vertheilte, welche geholfen hatten, die Frucht der Erde abzugewinnen. Da erlebten wir von der Herzensfeinheit des Volkes den schönen Zug, daß die Vorsängerin, nachdem sie dem Herrn seine Schwächen vorgehalten, sich zur Frau wendend die Worte sang: »die Frau wollen wir nicht schelten, denn die trägt schwarze Kleider, und hat ein schweres Herz!« – Natürlich sangen sie polnisch, und was ich davon weiß, verdanke ich Denen, die es mir übersetzten.

Ich hatte also, wie solch eine bäuerische Vorsängerin, mir die Paar Verse zwischen dem Volksrefrain zurechtgemacht, wir hatten schön bekränzte, von Flittergold strahlende Köscher, faßten einander, wie das der Brauch der Fischfrauen ist, bei dem Tanze so unter die Arme, daß wir mit den Köpfen nach verschiedenen Seiten sahen, sangen und schwenkten uns dabei nach Kräften, und erregten große Heiterkeit und Freude.

Dann kam ich nachher mit meinen pathetischen Versen, und mit meiner Kreidecopie von Amor und Psyche, die für einen Genius etwas schwer zu tragen war, weil ich der Ordnung und des Anstandes wegen sie in Glas und Rahmen hatte bringen lassen. Und war es das Siegesbewußtsein, das ich selbst über die Schönheit der Zeichnung und die Vortrefflichkeit des Gedichtes hatte, war es die Jugend, die immer gefällt: ich erndtete einen großen Beifall, fand lebhafte Bewunderung für meine Verse, und von dem Tage ab stand es unter meinen jüngern weiblichen Bekannten eigentlich felsenfest, daß ich[381] eine Dichterin sei. Ich selbst glaubte das nicht so unbedingt, aber ich hatte doch das größte Vergnügen von dem Abende und von meinem Erfolge. Ich fand mich sehr schön in meinem Geniuskostüm, ich hatte mich selbst mit meiner gefühlvollen Poesie sehr gerührt, und da alle Andern mich auch lobten, gab ich mich doch heimlich der schmeichelhaften Hoffnung hin, etwas nicht Gewöhnliches geleistet zu haben. Ich besitze von diesen Gedichten jetzt nicht mehr ein Blatt. Ich habe sie vor langen Jahren verbrannt, weil das Aufbewahren unnützer Papiere etwas so Thörichtes und Unpraktisches ist. Ich habe aber immer, auch als ich reifer war, nur schlechte Verse, und mit Ausnahme von Gelegenheitsgedichten für meinen Gebrauch nur wenig Verse gemacht. Außer ein Paar kleinen Gedichten, die ich auf einer Reise geschrieben hatte, und die mein Vetter August Lewald einmal in der Europa abdrucken ließ, ist keine meiner gereimten poetischen Produktionen den Leuten gedruckt unter die Augen gekommen, und als ich dann zehn Jahre später einsehen lernte, daß ich Prosa schreiben könne, habe ich die Poesie vollends in Ruhe gelassen.[382]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 1, Berlin 1871, S. 369-383.
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