Zweiundzwanzigstes Kapitel

[383] Ich habe es von Dichtern oftmals in ihren Werken darstellen sehen, wie die Menschen nach außen hin durch lange Jahre ein Leben der Freude und des Genusses führen und in ihrem Herzen doch fortdauernd in tiefe Traurigkeit versenkt bleiben. Indeß weder an mir selbst, noch an Andern habe ich im Leben diese Möglichkeit bestätigt gefunden. Unsere Beschäftigung, unsere äußern Eindrücke gehen in uns über, wie die Luft, die wir athmen, wie die Kost, die wir genießen. Sie stimmen und gestalten uns um, und wir verändern uns, ohne daß wir es gewahr werden, bis wir plötzlich, durch irgend einen äußern Zufall aufmerksam gemacht, die Wandlung mit einem gewissen Erschrecken bemerken. Denn es liegt in der Natur des Menschen, daß er sich lieb gewinnt in seinen verschiedenen Entwickelungsstufen, daß er sich fast in jeder auf der ihm eigentlich zusagendsten Stelle zu befinden glaubt, und daß er sich nicht gleich zurecht finden kann, wenn er bemerkt, daß er sich auf derselben nicht mehr recht behauptet, daß er durch sich selbst gezwungen ist, eine neue Stufe zu betreten. Und je jünger und je entwickelungsfähiger wir sind, um so schneller gehen diese Wandlungen in uns vor sich.

Als Leopold starb, hatte ich eigentlich gar keinen[383] Wunsch, gar keinen bestimmten Plan gehabt. Ich half nach wie vor im Haushalt, pflegte die Mutter, wenn sie leidend war, übte täglich Clavier, nahm wöchentlich ein Paar Zeichenstunden, unterrichtete die Schwester im Clavierspiel, aber es war, als gehe mich das Alles gar Nichts an. Früher hatte ich gern an meiner eigenen Ausbildung gearbeitet und daran ein Selbstgenügen gefunden; dann hatte ich um Leopold's willen Etwas sein und werden wollen, und die Freude an der Selbstbefriedigung verloren, seit ich das größere Ziel im Auge gehabt, einen geliebten Mann zufrieden zu stellen. Nun lebte ich eine Zeitlang so hin, und all mein Thun und Treiben machte mir keine Freude mehr.

Die Jugend aber, wenn sie mit einem Zustande fertig ist, glaubt leicht mit Allem fertig zu sein, und wie sie sich meist über den Umfang ihres Wissens und ihrer Einsicht täuscht, so täuscht sie sich auch über die Kraft ihrer Neigungen und über ihre Beständigkeit. Ich hatte Leopold, so sehr ich konnte, geliebt, und gewähnt, nie eine andere Liebe fühlen zu können, als die für ihn, und ich hatte das ehrlich und fest geglaubt; ich hatte mich sogar, wie ich meinte, auch darin gefunden, keine Hoffnung und ein freudloses Leben vor mir zu haben. Ein Vorfall, den ich mir noch heute nicht zu erklären weiß, und der zu den wenigen geheimnißvollen Erfahrungen meines Lebens gehört, hatte mich in diesen Gedanken bestärkt, weil er mir, die nicht an die Unsterblichkeit der Seele glaubte, dennoch die Vorstellung eines Zusammenhanges gab, der zwischen mir und Leopold noch über das Grab hinaus bestehe.

Ich hatte nämlich das Datum von seinem Todestage entweder nicht erfahren, oder mit einem andern Datum[384] verwechselt, und die Stunde, in welcher er gestorben war, ebenso nicht gewußt. Natürlich aber hatte ich, als nach Jahresfrist der Monat seines Todes wiederkehrte, mehr noch als gewöhnlich an ihn gedacht. Ich war unwohl, niedergeschlagen, und legte mich eines Abends müde und traurig zu Bett. Mit einem Male wache ich mitten in der Nacht auf, weil ich mich, für mein Ohr ganz unwiderleglich, laut und deutlich von Leopold rufen höre. Ich springe auf, sehe mich um, die Nachtlampe brennt ruhig, es ist Alles still. Aber ich hatte die Gewißheit, in diesem Augenblicke ist es ein Jahr, daß er gestorben ist. Ich blieb wach, draußen schlug bald darauf die Thurmuhr die Stunde. Und als ich dann später nachfragte, erhielt ich die Bestätigung, daß mich wirklich die Todesstunde des Geschiedenen erweckt hatte. All mein jetziges Denken widerspricht der Möglichkeit einer persönlichen Fortdauer nach dem Tode, widerspricht der Möglichkeit eines Vorganges, wie ich ihn damals er lebt zu haben glaubte. Nichtsdestoweniger ist aber die Erinnerung an jene Nacht mir noch heute so gegenwärtig, und der Eindruck in mir so lebhaft, daß er sich mir oftmals, und auch im Augenblick dieser Rückschau, unwillkürlich darbietet.

Die bewegten Zeiten, welche dem Tode Leopold's gefolgt waren, die mancherlei Zerstreuungen, welche meine Eltern mir jetzt gestatteten, eine freiere und ausgebreitetere Lektüre, hatten mir eine Menge neuer Ideen geboten, und während ich mich selbst oft auf dem Gedanken betraf, daß es für mich ein großes Glück, ja das Allerbeste sein würde, früh zu sterben, sagte ich mir, ohne dabei eine Ahnung von Selbstbetrug zu haben, daß es schön sei, in den Raum eines kurzen Lebens so viel geistigen Gehalt[385] als möglich aufzunehmen. Ob es allen Menschen so geht, das weiß ich nicht, ich habe aber in meiner Jugend stets im besten Glauben gehandelt, wenn ich mich selbst betrog; und während ich, durch mancherlei Nervenleiden in meinen Todesahnungen bestärkt, mich über die Kürze meines Lebens zu trösten und es gut auszufüllen strebte, bereitete ich mich eben dadurch für ein neues Weiterleben vor, und tröstete ich mich über das erfahrene Leid.

Eine äußere Gewohnheit kam mir dabei zu Hilfe. Mein Vater hatte uns angehalten, auf die Frage, wie es uns gehe, wenn dies irgend thunlich war, mit »sehr gut« zu erwidern, um nicht durch eine klägliche Antwort eine bemitleidende Entgegnung, und ein nichtsnützendes Hin und Her von Jämmerlichkeiten hervorzurufen. Wir sind aber, mehr als wir uns eingestehen, unter dem Banne unserer eigenen Aussage von uns selbst, und da aus diesem Grunde die Leute mich für getröstet hielten, da man von allen Seiten mit mir wie mit jedem andern Mädchen von der Zukunft sprach, so lernte ich es allmählig wieder, den Blick auf eine solche zu richten.

Während ich noch glaubte, mich den Zerstreuungen aus Gleichgültigkeit oder aus Gefälligkeit für Andere, oder weil ich eben nicht anders könne, hinzugeben, hatte ich unmerklich selbst wieder Lust und Theilnahme daran gewonnen. Während ich dachte, wie schrecklich es sei, daß bald gar Nichts von mir übrig bleiben und ich der Vernichtung rettungslos anheimfallen würde, hatte zwar noch kein einzelner Mann wieder irgend eine Bedeutung für mich erhalten, aber die Gesellschaft und die Männer in ihr, und mein Erfolg bei ihnen, waren mir wieder wichtig geworden. Und weil ich glaubte, nie wieder[386] einem stillen Glück begegnen zu können, wie das, welches ich an Leopold's Seite zu finden gehofft, fingen meine Wünsche an, sich auf die belebten Kreise der großen Welt zu richten, und die Schilderungen der großen weltberühmten Salons, die Schilderungen der berühmten Frauen, um welche sie sich gebildet, beschäftigten meine Phantasie und regten meinen Ehrgeiz auf, während meine Vernunft mir unablässig vorhielt, daß solche Wünsche für mich thöricht, daß ein Leben außerhalb der beschränkten Verhältnisse, in denen ich geboren war, für mich nicht möglich sei.

Dazu hatte ich mich grade in jener Zeit, besser als früher, in die Art und Weise meiner Mutter schicken lernen. In Folge unausgesetzter Uebung waren alle häuslichen Verrichtungen mir geläufig geworden, und da man an jedem Dinge, das man recht zu machen versteht, allmählig selbst Freude gewinnt, so war das Hauswesen mir lieb und die Zufriedenheit der Eltern mir ein Lohn geworden, auf den ich stolz war. Ich hatte mich nun auch bereits gewöhnt, der kränkelnden Mutter mancherlei Unannehmlichkeiten, manchen Schreck, manche Beunruhigung zu ersparen, sie in vielen Dingen zu vertreten, ohne sie wie früher dadurch zu verletzen. Weil es mir aber schwer wurde, mir diese Art der Selbstverläugnung, des schweigenden Thuns, anzueignen, so lohnte mir auch das Gefühl der Selbstüberwindung, und das Heranwachsen meiner Geschwister gab daneben meinem Leben neue Anhaltpunkte und erhöhten Reiz.

Mein ältester Bruder, der Anfangs Theologie studiren wollte, weil der Verkehr mit Leopold ihm eine Neigung dazu eingeflößt, hatte auf den Rath und Wunsch meines Vaters davon abgestanden, und sich in die juristische[387] Fakultät einschreiben lassen. Mein zweiter Bruder, dessen Sinn auf Abenteuer stand, hatte immer davon gesprochen, zur See zu gehen, sobald er sein Studentenexamen, welches der Vater ihm nicht erlassen wollte, beendet haben würde. Aber das Ungewisse und Gefährliche dieses Lebensweges, das ihn reizte, schreckte die Eltern davon zurück, und es waren endlich die Ueberredung und der Einfluß meiner Mutter, welche ihn bestimmten, seinen Wunsch aufzugeben und Mediziner zu werden. Die Möglichkeit, als solcher sich überall einen Wirkungskreis bereiten und als Arzt doch nach freiem Belieben die Welt sehen zu können, söhnte ihn mit der Wahl dieses Berufes aus, der ihm dann später lieb wurde, und in dessen Ausübung er in Tiflis seinen frühen Tod fand, als er von Grusien zurückkehrte, wohin er gegangen war, um die epidemischen Wechselfieber zu beobachten.

Das Studentenleben der Brüder, ihr Verkehr mit ihren Genossen, brachten viel Abwechslung in das Haus. Wie der Vater uns Töchter unter strenger Zucht hielt, so gewährte er den Söhnen, nun sie in das Leben traten, viel Freiheit. Er versorgte sie nach seinen Mitteln reichlich mit Geld, er kontrollirte sie wenig, und hatte ihnen gesagt: Ihr werdet voraussichtlich wie alle jungen Leute Thorheiten machen und da durch in Verlegenheit gerathen. Befindet Ihr Euch in einer solchen, so wendet Euch nie an einen Fremden, sondern an mich. Ich habe sicherlich mehr guten Willen, Euch zu helfen, als jeder Andere! – Und dies Uebereinkommen ist, weil wir die Worttreue meines Vaters Alle kannten, von den Söhnen wie von dem Vater auch gehalten worden.

Was die Brüder an studentenhaftem Treiben mitzumachen[388] wünschten, die bunten Trachten, die Commerse und Gelage, es wurde ihnen frei gestattet. Mein Vater räumte den Brüdern, die ohnehin zwei Stuben im Hause bewohnten, eine Zeitlang sogar ein großes drittes Zimmer, das wir nicht benutzten und das leerstand, als Fechtboden für sie und ihr Kränzchen ein, weil – es sie am Hause und an der Familie unmerklich festhielt; und diese Vergünstigung, die sehr viel Unruhe und Laufen in das Haus brachte, wurde ihnen erst entzogen, als sie es sich einmal beikommen ließen, ein Duell in unserem Hause auszufechten.

Das Leben der Studenten war damals aber in Königsberg noch absonderlich und wüst und roh genug. Obschon die Stadt gegen sechzigtausend Einwohner hatte, einen großen und wohlhabenden Kaufmannsstand, alle großen Beamtenkollegien der Provinz, das Oberlandesgericht, das Tribunal, die Regierung und ein großes Militärkommando in sich schloß, zählte doch das Häuflein der Studenten, wenngleich ihrer selten über fünfhundert auf der Universität beisammen waren, als etwas Bedeutendes mit. Man ließ ihnen Freiheiten, wie es sonst nur in den kleinen Städten zu geschehen pflegte, welche von den Studenten leben; und weil viele angesehene Königsberger Familien ihre Söhne unter ihnen hatten, blieb man mit ihrem Thun und Treiben in einem Zusammenhange.

Ich habe einen Abriß des Verhältnisses der Königsberger Studenten zu den Familien im Anfange meines Romanes »Wandlungen« zu geben versucht, und ich glaube, daß meine Schilderung für die eine Seite des dortigen Studentenlebens ein treues Bild ist. Die andere Seite war aber wirklich äußerst roh, und das Benehmen mancher Landsmannschaften und mancher jungen Männer[389] so gegen alle Sitte, daß es mir jetzt unbegreiflich scheint, wie dadurch nicht ein Vorurtheil gegen die Studenten im Allgemeinen hervorgerufen wurde.

Einzelne Figuren waren förmlich ein Schrecken der Bürger, und ich erinnere mich deutlich eines großen, sehr wüsten Theologen aus Masuren, der ein paar Jahre ehe meine Brüder die Universität bezogen, in Königsberg sein Wesen trieb. Ueberall gewahrte man seine große, ungeschlachte Gestalt, seinen schmutzigen, weißen Flausrock, überall wußte man von seiner Rohheit, gegen welche Karzer und andere Strafen sich unwirksam bewiesen, überall tadelte man ihn, und schließlich lachte man über seine Streiche.

Einmal war in einer angesehenen Kaufmannsfamilie, in welcher verschiedene Studenten Zutritt hatten, ein Ball. Einen so wüsten Gesellen sah man aber natürlich in dem Hause nicht, und er war also auch zu dem Balle nicht eingeladen. Dennoch erklärte und wettete er am Morgen, daß er Abends den Ball besuchen werde, und zwar so wie er da stehe und gehe, in Flausrock, Lederhose und Kanonenstiefeln. Am Abende, als die Gesellschaft sich versammelte, standen seine Freunde vor der Thür, um zu sehen, ob sich ihr Commilitone einstellen werde. Indeß man tanzte oben bereits, ohne daß er gekommen war, und eben wollten die wartenden Studenten sich entfernen, als Jener in der Straße erschien, sich vor dem Hause hinstellte und mit starkem Schwunge seine kurze Tabackspfeife durch das Mittelfenster des Saales in denselben hineinwarf. Dann ging er raschen Schrittes in das Haus und in den Saal, in welchem der Schreck den Tanz unterbrochen hatte, sagte, als man, ihm entgegentretend, nach seinem Begehren fragte: er komme,[390] seine Pfeife zu holen, die ihm in das Fenster geflogen sei, und entfernte sich, ehe die Dienerschaft beisammen war, ihn fortzubringen. – Ein andermal wettete er, daß er ein schönes junges Mädchen, die Tochter des ersten Geistlichen an der reformirten Kirche, am hellen Mittage über den Kirchplatz nach ihres Vaters Wohnung tragen würde, und auch dieses Vorhaben führte er aus, freilich nicht, ohne das Eine wie das Andere im Karzer zu verbüßen.

Aehnliche Uebertreibungen kamen, wennschon in geringerem Maße, auch noch zu den Zeiten vor, in denen meine Brüder Studenten waren; aber den Studenten verzieh man, was man keinem andern Stande verziehen haben würde, und zog damit zum Theil jenen anmaßenden Kastengeist der Junker und der Beamten groß, der später in den Parteikämpfen unseres Vaterlandes grade aus den Reihen der Studirten die heftigsten und rücksichtslosesten Gegner der Freiheit und der Gleichheit vor dem Gesetze geliefert hat.

Mein Vater, der einen sehr stark ausgeprägten Bürgersinn besaß, verabscheute dieses Treiben entschieden, und konnte, wenn er einmal die Studenten halbbetrunken von ihren Gelagen und Comitaten heimkehren sah, oder wenn die in unserer Nachbarschaft wohnenden Studenten, auf den Fensterbrettern des zweiten Stockes sitzend, ihre Beine auf die Straße hinaushängen ließen und Bier trinkend ihre Lieder sangen, wohl spottend die Bemerkung machen: das sind unsere künftigen Herren Prediger und Minister! – Dennoch ließ er die Brüder gewähren, so weit sie gehen wollten.

Der Aelteste war Student mit Leib und Seele, aber er blieb seiner Natur nach doch immer in den Schranken[391] des Wohlanständigen, und mußte, als der zweite Bruder ein Jahr später die Universität bezog, bald für ihn eine vermittelnde und ausgleichende Rolle übernehmen, weil dieser in dem Ungestüm seiner Kraft sich außer dem Hause und in dem studentischen Leben für die Zucht und den Zwang zu entschädigen suchte, den das Familienleben Jedem auferlegt. Phantastisch und zu Uebertreibungen geneigt, ließ er sich einen feuerroth karrirten Rock machen, wo die Andern sich mit irgend welchen farbigen Abzeichen begnügten. In Hemdeärmeln durch die Straßen zu gehen, wenn es warm war, sah er als das Natürlichste an. Galt es eine Wette, so fanden wir ihn eines Sonntages auf dem belebtesten Spaziergang der Stadt, ebenfalls in Hemdeärmeln, auf einem Eckstein sitzen und die vorübergehenden Bekannten ernsthaft um ein Almosen ansprechend. Daneben gab es Händel mit Thorschreibern, Nachtwächtern und Polizeisoldaten, oder eine Prozession, in der er als Leidtragender voranging, während man ein paar todte Katzen zur Anatomie hintrug, und dazwischen Berichte, die uns ängstigten, wenn er bei einem Commers aus dem Fenster eines oberen Geschosses gesprungen war, um sich, heiß und weinglühend, in dem Teiche vor dem Hause abzukühlen.

Der Vater wußte, sah, erfuhr das Alles und ließ es geschehen, aber er hatte es gern, wenn dergleichen Dinge in einer Weise mitgetheilt wurden, die sein Einschreiten nicht nöthig machte. Denn da der Tollkopf trotz seiner Wildheit die Collegia fleißig und pünktlich besuchte, so mochte der Vater die Absicht haben, diesem Sohne durch die ihm gestattete Freiheit die Scheu zu nehmen, welche die strenge und falsche Behandlung seines[392] Charakters in der ersten Kindheit ihm vor dem Vater eingeflößt hatte. Indeß die ersten Eindrücke, welche wir empfangen, sind weit maßgebender, als man glaubt. So wurde auch mein zweiter Bruder niemals dem Vater gegenüber völlig frei, niemals im wahren Sinne Herr über sich selbst. Er that, wozu seine Laune, sein Temperament, sein ganzes Naturell ihn trieben, aber er that es immer mit einem inneren Widerstreben, er bereute es immer. Er übte das Verkehrteste meist mit dem geheimen Gefühle aus, es zu thun, um seine Freiheit damit kund zu geben und zu wahren, und daneben mit der geheimen Sorge, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Er glich darin einer großen Masse von Menschen, die ihre Thorheiten gleichsam Andern zu Liebe, das heißt im Hinblick auf den Tadel der Andern begehen, dem Trotz zu bieten ihrer inneren Unfreiheit als Heldenthat erscheint. Wirklich freie Menschen habe ich immer auch maßvoll und besonnen, rücksichtsvoll für das Wohl und schonend für das Empfinden ihrer Umgebung gefunden.

Aber nicht allein das Zusammenleben mit meinen Brüdern, auch die Entwickelung meiner Schwestern wurde eine neue Quelle der Freude und des Interesses für mich, und je bestimmter die Eigenartigkeit einer Jeden sich von früh an aussprach, um so mehr trugen sie dazu bei, das Dasein im Hause vielgestaltig zu machen und zu beleben. Nun erst, da man der größten Mühe um ihre körperliche Wartung enthoben war, nun, da selbst die Jüngsten schon kleine Menschen mit bestimmten Gaben und Wünschen waren, nun fing auch für uns ältere Geschwister die Freude an den Kleinen an. Es erzieht aber den Menschen Nichts so sehr, als das Erziehen Anderer, es fördert[393] Nichts so sehr seine Einsicht, als das enge Zusammensein mit Kindern. Die Gelassenheit und Schonung, die man mit ihrem Fortschreiten und für ihre Eigenheiten haben muß, sind eine gute Vorübung für jene Geduld, ohne welche man im Leben Nichts leisten und Vieles zerstören würde, wie andererseits die einfache Güte der jüngeren Geschwister uns oft beschämte und von großer Wirksamkeit auf uns Erwachsene war. Ich gedenke dabei eines speciellen Falles. Mein jüngerer Bruder hatte einmal in einem Anfall von unbegründeter übler Laune unsere kleine, etwa sechsjährige Schwester Henriette gescholten und ihr, was streng verboten war, einen Schlag gegeben, so daß sie weinend in die Kinderstube gegangen war. Dem Bruder hatte das gleich leid gethan, aber er hatte es doch so hängen lassen. Ein paar Stunden später, als das Kind ihn im Flur des Hauses erblickte, lief es auf ihn zu, umarmte ihn und sagte: sei nicht böse, daß ich Dich so geärgert habe!

Solche Züge der Güte und Liebenswürdigkeit waren denn nicht verloren, und es bildeten sich in der Familie zwischen den einzelnen Geschwistern besondere Sympathien aus, die alle zusammengehalten wurden durch das starke Band der Liebe zu den Eltern, und durch das Streben, ihnen im Allgemeinen Ehre, im Einzelnen so viel Freude als möglich zu machen.

So abgezogen von mir selbst durch Thätigkeit und Liebe für die Meinen, gesellig vielfach angeregt, allmählig an einen verhältnißmäßig weiten Verkehr mit Menschen gewöhnt, hatte ich mein einundzwanzigstes Jahr vollendet. Unsere Vermögenslage hatte sich gebessert, ohne daß mein Vater darum sorgenfrei oder die Nothwendigkeit strenger häuslicher Oekonomie für uns geringer geworden wäre.[394] Des Vaters Geschäfte hatten sich in einem Grade ausgedehnt, der ein großes Betriebskapital erforderte. Dieses fehlte ihm, und sei es, daß er es nicht für gerathen hielt, mit fremdem, erborgtem Kapital zu arbeiten, oder daß er sich ein fremdes Kapital in dem Belange, wie er dessen bedurfte, nicht zu schaffen vermochte, genug, er befand sich durch viele Jahre in einem Mißverhältniß zwischen der Größe seiner Mittel und der Ausdehnung seines Geschäftes. Obgleich sein Erwerb recht groß war, obgleich er mit den zunehmenden Jahren auch die sich steigernden Bedürfnisse seiner Familie freigebig zu befriedigen und noch ein gewisses Vermögen dabei anzusammeln vermochte, wußten wir den Vater doch, ohne daß er sich darüber aussprach, häufig in Geldverlegenheiten, erhielten wir doch fortdauernd die Mahnung, uns einzuschränken, um dem Vater so wenig Sorge als möglich aufzubürden.

Um so überraschender war es also für mich, als wenig Tage nach meinem einundzwanzigsten Geburtstage mein Vater mich in das Zimmer rief, in dem er sich mit der Mutter befand, und mir die Frage vorlegte: was würdest Du sagen, wenn ich Dich heute über vierzehn Tage mit mir nähme?

Es war nämlich schon seit dem Winter eine Reise meines Vaters behufs seiner Weineinkäufe am Rhein und am Neckar im Werke gewesen, und diese war in den letzten Wochen auf die Mitte des Aprilmonates festgesetzt worden.

Es war die erste so weite Reise, welche mein Vater unternahm, und damals waren die westlichen Grenzen Deutschlands von Königsberg für die Vorstellung weit entfernter, als jetzt. Ich selbst hatte nie eine andere[395] Stadt als Königsberg gesehen, und ihren Umkreis nur überschritten, um hie und da einen Besuch bei Bekannten im Seebade Kranz, fünf Meilen von der Stadt, zu machen. Denn als die Eltern mit den Brüdern und der mir nächsten Schwester etwa ein Jahr vorher einmal einen Ausflug gemacht, um Frauenburg und seinen Dom, um Elbing und Marienburg mit seinem unvergleichlichen Schlosse zu sehen, war ich als die Aelteste zu Hause geblieben, um den Haushalt und die kleinen Geschwister zu versorgen. Aber schon damals hatte der Vater auf das Bedauern der Mutter, mich zurücklassen zu müssen, tröstend gesagt: sei ruhig, liebe Mutter! Fanny soll einmal noch mehr von der Welt zu sehen bekommen, als Ihr jetzt!

Indeß das Wort war keine Zusage gewesen, und so oft ich auch, am Fenster sitzend, mir bei winterlichen Sonnenuntergängen den röthlich schimmernden Schnee der Dächer betrachtet und mir das Alpenglühen auf den Gletschern vorgestellt, so oft ich mir Mignon's »Dahin, dahin!« vordeklamirt, und so begeistert ich oftmals für mich in der Stille beim Nähen die Worte der Jungfrau von Orleans, von »der prächtig strömenden Loire« wiederholt hatte: auf eine Reise für mich zu hoffen, eine Reise mir so nahe zu glauben, war mir niemals eingefallen. Es lag weit hinaus über Alles, was ich selbst von der Güte meiner Eltern erwarten konnte; es lag auch weit hinaus über die Ansprüche, welche man damals sogar in den Kreisen meiner wohlhabenderen Verwandten für die Töchter als berechtigt annahm, und ich wußte auf meines Vaters Frage auch Nichts zu sagen, als ihn und die Mutter strahlend vor Freude anzusehen.

Und freudestrahlend waren wir Alle drei. Der Vater[396] in dem Bewußtsein, mir ein so unverhofftes Glück zu bereiten; die Mutter, deren ganze Liebesfülle und Anmuth in solchen Augenblicken hell hervortrat, in der Freude über mein glückliches Gesicht, und ich selbst – ja mir war eigentlich zu Muthe, als solle ich nicht nur ein Stück von der Welt sehen, sondern als schenke der Vater mir die ganze Welt!

Und ein schön Stück Welt und Leben hat jene erste Reise mir erschlossen, den Weg gebahnt hat sie mir für alle Zukunft – wenn schon einen Weg, den weder mein Vater noch ich damals für mich im Auge haben konnten!

Im Hause begann nun reges Leben. Mein Vater schenkte mir vierunddreißig Thaler, meine Ausrüstung zu bestreiten. So viel hatte ich noch in meinem Leben nicht besessen, und es dünkte mir, als lasse sich damit eine Garderobe herstellen, die selbst in der Fremde sich sehen lassen könne. Indeß ein einfaches grünes Marcellinkleid, das erste farbig-seidene Kleid meines Lebens, und dadurch eine wahre Errungenschaft, ein anderes Sommerkleid, ein Reisehut, ein paar Morgenhauben, deren Spitzen und rosa Bänder mir in meinen Augen einen unwiderstehlich romantischen Anstrich gaben, einige gestickte Kragen und neue Schuhe, hatten mein kolossales Vermögen von vierunddreißig Thalern schnell erschöpft, und zu Hause begann danach ein Nähen und Schneidern der neuen Herrlichkeiten, ein Aufputzen und Zurechtmachen des vorhandenen Alten, daß man kaum zu Athem kam.

Für meine Geschwister war ich nun mit einem Male eine ganz neue Person geworden. Aber auch sie betrachtete ich mit einer Art von Erstaunen, weil ich sie und die Mutter auf eine ungewisse Zeit verlassen sollte.[397] Daß »wir Kinder«, die wir uns immer nur als eine Einheit empfunden hatten, getrennt werden könnten, daß ich jetzt, jetzt gleich, fortgehen würde, war mir, nun es vor mir stand, eine völlig neue Vorstellung, so oft ich früher auch an meine Verheirathung mit Leopold gedacht hatte. Alle Voraussicht ist farblos gegen die Gewalt der Wirklichkeit und Gegenwart.

Wir waren Alle unbeschreiblich glücklich. Wir kamen uns ordentlich vornehmer vor als sonst, weil Eine von uns zum Vergnügen auf Reisen ging, und doch weinten wir, Mathilde und ich, und selbst die Brüder, so oft wir daran im Alleinsein dachten.

In der Familie gab es viel Rederei. Die kinderlosen Onkel und Tanten sahen in diesem Reiseplane nur einen neuen Akt der Verwöhnung, die man mir angedeihen ließ, bis sie auf den Gedanken kamen, mein Vater habe die Aussicht, mich irgendwo an irgend Jemanden zu verheirathen. Das lag in ihrem Gesichtskreise, sie sprachen es auch gegen mich aus, daß der Vater wohl »eine Partie« für mich haben werde, und ermahnten mich dringend, nun endlich vom »hohen Pferde« zu steigen, und wenn ein ordentlicher Mann mich haben wolle, vernünftig zu heirathen ohne groß an Liebe zu denken, die in der Ehe doch nicht wie im Brautstande dauere. Man könne sich seinen Mann nicht bestellen und nicht malen, und wer wie ich fünf Schwestern und kein Vermögen habe, der müsse sehen, daß er aus dem Hause und unter die Haube komme.

Vernünftig war das sehr, nur war ich für diese Art von prosaischer Vernunft nicht eben sehr empfänglich, und sie hatte keine andere Wirkung auf mich, als mich[398] in allen meinen Idealen zu bestärken, und mich noch sehnsüchtiger zu machen nach einer Lebenssphäre, in der ähnliche Gründe solcher Vernunft mir in ähnlicher Weise nicht ausgesprochen werden konnten. Wie tausendfach die Unbildung das feinere Empfinden kränkt, davon hat sie zu ihrem großen Glücke meist kein Bewußtsein.

Meine Schul- und Jugendfreundinnen waren anderer Ansicht. Sie hatten nicht vergessen, daß unser Lehrer mich einmal »die Verfasserin« genannt, und sie hatten auch meine schönen Polterabendgedichte nicht vergessen. Sie sagten mir, mein Vater nähme mich mit, weil ich Schriftstellerin werden sollte! Wie außerordentlich dies gegen meines Vaters damalige Wünsche für mich war, oder wie das eigentlich angefangen werden würde, mich zur Schriftstellerin zu machen, das wußten sie freilich so wenig als ich selbst.

Ich schwamm aber in einem wahren Meere von Wonne! Alles entzückte mich: die neuen Kleider und die Abschiedsbesuche, mein Koffer und die Liebe meiner Geschwister, der Paß, auf dem mein Name neben dem des Vaters stand, und die unermüdliche Güte der Mutter, die immer neue Kleinigkeiten zu meiner Reiseausstattung hinzuzufügen beflissen war. Von dem Oberflächigsten zu dem Innerlichsten schwankte ich hin und her; aber über Allem leuchtete das Licht der goldigsten Hoffnungen. Was ich erwartete – ich hätte es keinem Menschen zu sagen gewußt. Aber ich war voller Erwartung, und dieser Zustand kommt dem reinen Glück am nächsten.

Im Fluge vergingen die Tage bis zu unserer Abreise. Wie wir zu Hause Abschied nahmen, wie wir nach der Post fuhren, das beschreibt sich nicht. Aber eben so wenig[399] beschreiben sich die Seligkeit und der Stolz, mit denen ich in dem Cabriolet der Schnellpost an des geliebten Vaters Seite durch die Straßen fuhr. Dies Vergnügen, alle die Bekannten zu grüßen! Dies Vergnügen, den grünen Schleier meines Strohhutes durch den hellen Morgen des dreizehnten April hinflattern zu sehen!

Und nun wieder Thränen, als ich die Mutter und die Brüder und all die guten Kinder weinend auf dem Wolme, und die Commis, die Küfer und die Arbeiter grüßend vor den Kellern stehen sah! Und dann der Triumph, an den Häusern der beiden Tanten vorbei zu fahren, die mich durchaus verheirathen wollten, und mir dabei zu sagen: ich heirathe doch nicht, und niemals, wenn ich es nicht will!

Dann noch ein Blick auf den Pregel und seine Schiffe, auf die Häuser der Vorstadt, auf die alte Haberberger Kirche, auf die Pumpe mit dem kleinen geschnitzten, bunt angemalten Figürchen des Hans von Sagan, des heldenmüthigen Schusters, der einst Königsberg gegen die Polen vertheidigt – und nun hinaus zum Thor, auf die lange, lange, unabsehbare Chaussee – die überall hinführte!

Und ich hatte zum ersten Male Königsberg und das Vaterhaus verlassen.

Mein Vater gab mir die Hand. »Nun Fanny?« sagte er. Ich küßte ihm die Hand, und er selbst führte mich hinaus in die Welt, hinaus in das Leben, das mich auf den weitesten Wegen hinbringen sollte an ein mich beglückendes Ziel.[400]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 2, Berlin 1871.
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