Sechstes Kapitel

[80] Es war am ersten April des Jahres achtzehnhundert und siebenzehn, als ich die Schule zu besuchen begann. Ich hatte zu Hause von meiner Mutter das ABC und einige Gedichte gelernt, und ich erinnere mich nicht, daß der Gedanke, in die Schule zu gehen, mir irgend welches Vergnügen gemacht hätte.

Man nahm mich früher als gewöhnlich aus dem Bette, man gab mir einen ziemlich großen weißen Korb, der zwei Deckel hatte, packte mir eine Schreibtafel und eine Fibel von Löhr, ein Taschentuch und eine in Papier gewickelte Buttersemmel ein, und mein Vater selber nahm mich an die Hand, um mich in die Schule zu bringen. Die Mutter begleitete mich bis vor die Thür, die Kinderfrau, welche solche Gunst sonst nur meinen Brüdern bewies, die sie von ihrer Geburt an auferzogen hatte, steckte mir ein Stück Kandis in die Hand, und ich hatte ein beklemmendes Gefühl, als ob ich auf Reisen gehen sollte, oder als ob mir etwas Unangenehmes geschähe.

Der Weg, den wir zu machen hatten, war nicht lang. Wir gingen über den Rathhausplatz, durch die Brodbänkenstraße, über den kleinen Domplatz nach dem großen Domplatz, wo dem Dome gegenüber unser Schulhaus,[80] ein ganz gewöhnliches Bürgerhaus, gelegen war, denn die Ulrich'sche Schule, welche ich besuchen sollte, war eine Privatanstalt. Mein Vater war auf dem Wege sehr heiter mit mir, er ließ mich unten an der Treppe meine Stiefel recht rein machen, schärfte mir es ein, verständig und artig zu sein, und sagte, wenn die Schule aus sei, so werde man mich holen kommen.

Unten in einer kleinen Stube empfing mich die Frau unseres Direktors, eine noch junge, sehr anmuthige Frau, mit schönen blonden Locken zu beiden Seiten des Gesichts. Sie küßte mich, versprach auf meines Vaters Bitte, daß man Nachsicht mit mir haben werde, dann ging mein Vater davon und Madame Ulrich, die ich eben so wie ihren Mann schon ein Paar Tage vorher gesehen hatte, als der Vater mich ihnen vorgestellt, nahm mich an die Hand und führte mich in das große Hinterzimmer zu ebner Erde, in welchem das Morgengebet gehalten wurde.

Das Zimmer, groß, finster, kalt, wie all diese Königsberger Hinterstuben, war voll von Bänken und für meine Vorstellung voll von einer unermeßlichen Menschenmenge. Hinten nach den Wänden standen, wie mir schien, ganz erwachsene und sehr große Frauenzimmer. Sie mögen fünfzehn, sechszehn Jahre alt gewesen sein. Weiter nach vorn waren die jüngern Mädchen, und ganz vorn Kinder meines Alters, zwischen denen Madame Ulrich mir meinen Platz anwies. Die Mädchen standen Alle in Reih' und Glied, sprachen und lachten laut mit einander, die Kleinen zu meiner Seite fragten mich, wer ich sei, und ich hatte ein dumpfes Gefühl der Benommenheit,[81] in welchem ich die schweren Guirlanden von Blumen und Früchten, die in Stuck an der Decke ausgeführt und vor Alter ganz schwarz geworden waren, einfältig betrachtete.

Während dessen erschien noch eine Lehrerin und ein Paar Lehrer in dem Zimmer, welche mit Madame Ulrich neben dem Klavier Platz nahmen. Die Lehrerin, eine Mademoiselle Aune, kam mir zu sagen, daß ich meinen Schulkorb gerade vor meine Füße stellen, und, wenn das Morgenlied gesungen werde, die Hände falten müsse, und dann trat Herr Ulrich selbst herein. Das Sprechen verstummte plötzlich, alle Gesichter wurden ernsthaft, Herr Ulrich sah mit seinen großen, etwas hervortretenden Augen ernst, ja streng durch das Zimmer hin, dann setzte er sich am Klavier nieder, schlug ein Notenbuch auf, nannte das Lied: Wie schön leuchtet der Morgenstern! und nun fing die ganze Schaar von jungen Kehlen zu singen an.

Es war der erste Gottesdienst, dem ich beiwohnte, und er machte mir einen großen Eindruck. Ich verstand die Worte des Gesangs zwar gar nicht, nur die feierliche Melodie empfand ich; aber das Gebet, welches Herr Ulrich nach dem Liede aus dem Stegreif sprach, das begriff ich sehr gut, denn es enthielt ähnliche Gedanken, wie das Abendgebet, das ich immer vor Schlafengehen hergesagt hatte, und ich war schon auf dem Wege es recht hübsch in der Schule zu finden, als ein Zwischenfall meine beginnende Zufriedenheit störte.

Herr Ulrich nämlich, der, obgleich noch ein junger und eigentlich ein sehr hübscher Mann, doch eine harte[82] Physiognomie hatte, kam gleich nach dem Gebete auf mich zu, mich zu begrüßen und zu ermuthigen. Er sagte, er habe neulich gesehen, daß ich ein ganz kluges Mädchen wäre, ich möchte daher nur recht fleißig und aufmerksam sein, dann würden sie mich Alle sehr lieb haben. Wenn Du aber nicht fleißig bist, fügte er lachend hinzu, indem er in die Höhe nach dem Plafond hinauf sah, von dem ein leerer Kronenhaken in das Zimmer herunterhing, wenn Du nicht fleißig bist, Fanny! so packen wir Dich in Deinen großen Bücherkorb und hängen Dich hier an der Decke auf! – Er lachte noch einmal, die andern kleinen Mädchen lachten auch, und ich – ich glaubte ihm seine Drohung buchstäblich, und fing zu weinen an. Es war mir, als wäre ich in die Höhle des Ogers gerathen.

Madame Ulrich und Mademoiselle Aune kamen augenblicklich herbei, um mich zu trösten, ein kleines Mädchen, sie hieß Molly Zornow, sagte gutmüthig: sei doch nicht so dumm, es ist ja Spaß! Ein Paar der Erwachsenen hoben mich im Vorbeigehen auf und küßten mich, und ich wurde still. Aber die Schule war mir verdächtig geworden, und die große Hinterstube konnte ich nun ein für alle male nicht mehr leiden.

Zu meinem Glücke hatten wir Kleinen auch gar keinen Unterricht in derselben. Wir wurden, etwa acht oder zehn Kinder, den ganzen Morgen hindurch in einer freundlichen, nach der Straße gelegenen Stube im zweiten Stock von Mademoiselle Aune, der Tochter einer französischen Kolonisten-Familie, und von Madame Ulrich beschäftigt, und ich hatte mich in dem Zimmer und unter[83] den Kindern nach einer Stunde so eingewöhnt, daß der Hunger, der mir beim Frühstück zu Hause gefehlt hatte, sich mitten in der zweiten Stunde um so stärker einstellte, und ich meine Semmel hervorholte, um ihm zu genügen. Kaum aber hatte ich das gethan, als die ganze Klasse zu lachen begann, und Mademoiselle Aune mir meine Semmel mit dem Bemerken fortnahm, essen dürfe ich nicht. Sie legte das Brot auf einen Schrank, die Stunde hatte ihren ruhigen Fortgang, mir fing vor Hunger der Kopf an sehr wehe zu thun, und als Mademoiselle Aune das Zimmer nach beendigter Lektion verließ, vergaß sie mir mein Frühstück zurück zu geben. Es mir zu nehmen hätte ich nicht gewagt, wäre ich selbst im Stande gewesen, es zu erreichen. Die Andern, die es sich in der Zwischenstunde wohl schmecken ließen, dachten nicht an mich. Von ihnen etwas zu fordern, hielt eine Verlegenheit mich ab, die nächste Lehrerin wußte von dem Vorgange nichts, und so blieb ich bis zwölf Uhr sitzen, mit fürchterlichen Kopfschmerzen, mit dem größten Hunger, meine mir rechtmäßig gehörende Semmel immer vor Augen, und mit dem festen Entschlusse, nie wieder in die Schule zu gehen, die ich abscheulich fand. Der erste Zwang, der dem Menschen von Fremden auferlegt wird, drückt vielleicht am schwersten, und von diesem Punkte aus betrachtet, ist der Eintritt eines Kindes in die Schule eines der größten Ereignisse des Lebens, wenn schon ein Jeder das Gleiche erfährt.

Die bestimmte Erklärung, daß ich nie wieder in die Schule gehen würde, war auch das Erste, was ich zu[84] Hause mittheilte. Glücklicher Weise waren meine Eltern mit Herrn Ulrich übereingekommen, daß ich den Sommer hindurch nur die Vormittagsstunden besuchen und den Handarbeits-Unterricht noch nicht mitnehmen sollte, so daß ich an dem Tage Zeit fand, meinen Kummer im Spiele mit meinen Geschwistern zu vergessen; und am andern Tage brachte das Zureden meiner Eltern und die Versicherung, daß ich allein an meinem Unglück Schuld gewesen sei, mich dahin, die Sache noch einmal zu versuchen. Mein Vater gab mir einen Brief mit, in welchem er meldete, wie einfältig ich gehungert hätte, und da man daraus ersah, mit was für einem Geschöpfe man es zu thun hatte, behandelte man mich so freundlich und rücksichtsvoll, daß ich mich bald mit meinem Loose aussöhnte, ja es zu lieben begann.

Ich lernte leicht, der Vater half mir zu Hause auch nach, und in der Schule wie zu Hause dafür gelobt zu werden, machte mir großes Vergnügen. Man hatte damals bei uns noch die alte mühsame Buchstabirmethode, und das Lesenlernen war ein schweres Stück Arbeit, wenn man es mit der Weise vergleicht, in welcher die Kinder jetzt das Lesen und Schreiben so schnell und fast gleichzeitig erlernen. Aber ich glaube, hätte Herr Ulrich auch die Lautirmethode und alle die jetzt üblichen Erleichterungen gekannt, er wäre im Stande gewesen, sie, eben weil es Erleichterungen waren, zu verschmähen, denn das Lernen sollte nach seiner Ansicht, die ich freilich erst lange Zeit nachher begreifen lernte, vor allen Dingen die Kraft und die Energie des Geistes entwickeln. Daß er sich bei der Ausführung dieser Idee vielfach in den[85] Mitteln vergriff, ist nicht zu läugnen. Wo aber seine Ansicht und sein Wesen mit Elementen in Berührung kamen, welche für seine Behandlungsweise das nöthige Gegengewicht in sich trugen, da leistete er für die Entwickelung des Charakters bei den Kindern wirklich viel; und es leben gewiß noch eine große Anzahl meiner Mitschülerinnen, welche dies eben so dankbar anerkennen als ich.

Mit den jetzigen Schulanstalten hatte unsere Schule nicht allzuviel gemein, und sie wäre jetzt in Preußen wohl eine Unmöglichkeit, weil die Regierung ein solches Institut nicht dulden, und sich auch nicht leicht Eltern finden würden, ihre Kinder demselben anzuvertrauen. Herr Ulrich hatte nie ein Examen irgend einer Art gemacht, sondern schon frühe zu unterrichten und zu erziehen angefangen, sich dann mit der Tochter eines in Königsberg sehr geachteten Advokaten verheirathet und seine Schule eröffnet, die bald von den Töchtern der angesehensten Familien besucht wurde. Als ich in die Schule eintrat, war erst eine Generation von Schülerinnen darin unterrichtet worden, und sie mochte also seit dem Jahre zehn oder eilf bestanden haben. Etwa ein Jahr, nachdem ich mich in derselben befand, kam auch eine Anzahl von Knaben hinzu, die vorher besondere Lektionen gehabt hatten. Sie gehörten ebenfalls den begüterten Familien an und wir hatten mit ihnen alle Unterrichtsstunden gemeinsam, nur daß wir an getrennten Tischen saßen, und daß sie ihren Unterricht in den alten Sprachen erhielten, wenn man uns am Nachmittage in Handarbeiten unterwies.[86]

Aber nicht allein diese Einrichtung war eine willkürliche, sondern auch die Höhe des Schulgeldes hing in jedem besonderen Falle von der Bestimmung des Herrn Ulrich ab, der sich dasselbe je nach Schätzung der Vermögensverhältnisse seiner Schüler zahlen ließ. Es waren Knaben in der Schule, von welchen er sich für den bloßen Unterricht und zwei tägliche Arbeitsstunden, die ein Hilfslehrer überwachte, zehn und zwölf Thaler monatlich entrichten ließ. Andere Knaben und Mädchen zahlten drei, vier, sechs Thaler den Monat, und als wir in einer späteren Zeit, in welcher mein Vater sich in schlechten Vermögensverhältnissen befand, vier Geschwister zugleich die Schule besuchten, erklärte Herr Ulrich sich aus freiem Antriebe dazu bereit, uns für ein Monatsgeld von zehn Thalern alle viere in der Schule unterrichten zu wollen. Er hatte dabei den Grundsatz, daß solch ein gemeinnütziges Institut, wenn in demselben keine kleinliche Sparsamkeit in Bezug auf die Wahl der Lehrer herrschen solle, von den Eltern je nach ihren Kräften unterstützt werden müsse; und da er sich für berechtigt hielt, soviel für den Unterricht zu verlangen, als er erhalten konnte, so nahm er dafür auch gelegentlich für einen oder ein Paar begabte Schüler einen ganz besondern Lehrer an, der ihnen in der Schule selbst einen Privatunterricht ertheilte, wenn sie dem gemeinsamen Unterricht entwachsen waren. Ich selbst und eine noch in Berlin lebende Dame haben auf solche Weise von einem vortrefflichen Lehrer lange Zeit hindurch einen besonderen Unterricht im Französischen erhalten.

Mit dieser Ansicht über die Individualisirung der[87] Schüler, welche freilich in einer Privatschule, die schwerlich jemals mehr als hundert Schüler gezählt hat, leichter zu bewerkstelligen war, als in den großen öffentlichen Anstalten, hing auch die Methode zusammen, daß man in den verschiedenen Gegenständen bisweilen in verschiedenen Klassen unterrichtet wurde. Das hatte freilich für den Stundenplan große Unbequemlichkeiten, und wer zu diesen Ausnahmen von der Gesammtheit gehörte, konnte mitunter auch leere Stunden haben, in welchen man ihn mit Schreiben nach Vorschriften oder mit Zuhören in irgend einer andern Klasse beschäftigen mußte; aber es brachte doch vorwärts, und kam den Schülern auch dadurch zu Gute, daß es ihnen selbst ihre Befähigung für irgend einen Gegenstand feststellte, und ihren Eifer und ihre Neigung auf diesen hin verwies.

Wir hatten nur fünf Klassen, und sie waren, mit Ausnahme der Handarbeitsstunden, sehr klein. Die Versetzungen waren also selten, da der ganze Kursus auf etwa neun Jahre, vom sechsten bis zum fünfzehnten Jahre angelegt war. Indeß befanden sich, als ich die Schule besuchte, nur zwei Schülerinnen in derselben, welche gleich von Anfang an in der Anstalt unterrichtet worden waren. Die Eine war ich selbst, und die Andere war ein schönes liebenswürdiges Mädchen, Angelika Michalski, einige Jahre älter als ich, die Tochter eines reichen Eisenhändlers, die ich liebte, eben weil sie so schön und freundlich war.

Herr Ulrich hatte eine Vorliebe für uns Beide. Er hob es gern hervor, daß wir recht eigentlich seine Schülerinnen wären, und wir haben auch immer zu Denen[88] gehört, welche von den üblen Seiten seines Charakters nicht viel gelitten haben. Er war nämlich von einer ungemessenen Heftigkeit und in derselben der größten Rohheit und Unbarmherzigkeit fähig. Hatte eine Unachtsamkeit, hatte ein Versehen, eine kindische Unart ihn gereizt, so fuhr er wie ein Rasender empor, und hatte er sich mit den häßlichsten Schimpfworten noch nicht genug thun können, so half er sich, indem er die Schüler ohrfeigte, sie an den Ohren zauste, sie am Arm in der Stube herumriß, oder ihnen die Bücher an den Kopf warf und sie mit dem Stiele seiner langen Pfeife – er rauchte die ersten beiden Morgenstunden immer – auf den Schädel schlug, was sehr empfindlich gewesen sein soll. Die regelmäßigen Strafen seines ganz drakonischen Systems waren gegen diese Rohheiten eine Erleichterung. Regelmäßig und mit Vorbedacht mit dem Lineal auf die Handfläche geschlagen zu werden, war besser als im Zorne abgestraft zu werden; und nachbleiben oder eine schlecht geschriebene Arbeit bis zum nächsten Tage fünf, sechs mal abschreiben zu müssen, das waren die nicht fleißigen Schüler so gewöhnt, daß ihnen dies gar nicht wie eine besondere Härte er schien. Wer schlecht liniirt hatte, blieb nach und liniirte fünfzig Seiten zur Strafe; wer ein Buch vergessen hatte, stand im Winkel, und ich glaube, ein Tag, an welchem Niemand bestraft worden wäre, kam in der Schule gar nicht vor.

Herrn Ulrichs Laune war dazu noch äußerst wechselnd. Wir lebten, ich lasse es ungesagt mit welchem Rechte, des Glaubens, daß er hohes Kartenspiel spiele, dabei die Nacht oft spät wache, und daß er, wenn das[89] der Fall gewesen sei, und er im Spiele kein Glück gehabt habe, immer am allerschlimmsten für uns gestimmt wäre. Eine Thatsache, die ich in den ersten Jahren meines Schulbesuchs noch mit erlebt habe, war es, daß er mitunter erst zum Morgengebete kam, wenn wir ihn lange erwartet hatten. Er sah dann übernächtig aus, hatte einen bis auf die Füße gehenden grauen Rock an, der es aber doch nicht verhüllte, wie er darunter noch nicht gehörig angezogen war, und selbst seine Frau, die ihm in der ersten Stunde den Kaffee hineinbrachte, und auch die Lehrer gingen ihm an solchen Tagen sichtlich aus dem Wege. Wer in solchen Stunden keinen Unterricht bei ihm hatte, pries sich von ganzem Herzen glücklich. Er ging dann finster umher, die Nägel kauend, die weiße Kreide von der Rechentafel in der Hand, in welche er aus Zerstreutheit bisweilen hineinbiß, daß die Lippen ihm weiß wurden, und er noch ärger anzusehen war. Der Unterricht aber blieb dabei vortrefflich, und obschon wir Alle ihn fürchteten, obschon wir Alle die größten Ungerechtigkeiten von ihm erfahren hatten, und ihm selbst die Härte gegen seine vortreffliche Frau und gegen Mademoiselle Aune mit kindlichem Gerechtigkeitsgefühle nachtrugen, so werden doch, mit Ausnahme einiger unbegabter Schüler, gegen welche sein Verhalten unverantwortlich war, nur Wenige in der Schule gewesen sein, die ihn im Grunde ihres Herzens nicht trotz alledem verehrt hätten, und sich seiner nicht gern und dankbar erinnern.

Wie das möglich war, das ist nicht schwer zu sagen. Auch der Einfältigste von uns mußte es nämlich erkennen,[90] mit welcher Leidenschaft Herr Ulrich bemüht war, uns vorwärts zu bringen, wie warm unser Wohl ihm am Herzen lag, wie glücklich, ich brauche dies Wort mit Absicht und Bewußtsein, jeder unserer Fortschritte ihn machte. Er litt thatsächlich von unseren Fehlern, und ich erinnere mich noch, wie er einmal, als er ein sehr träges, schlaffes und schon halb erwachsenes Mädchen mit Heftigkeit von seiner Bank emporgerissen hatte, plötzlich in den Ausruf ausbrach: »ich bin kein Lehrer für Dumme! ich kann nur gescheute Kinder unterrichten!« – Er ließ das Mädchen wieder auf seine Bank zurücksinken, und entfernte es dann bald darauf aus der Schule, weil es wirklich für seine Art des Unterrichts nicht paßte. Aber auf mich machte er an jenem Tage einen unvergeßlichen Eindruck. Obschon ich höchstens neun oder zehn Jahre alt gewesen sein kann, verstand ich an dem Tage den ganzen Zustand, ja den Charakter unseres Lehrers, und ich hing von da ab mit einer Art von scheuem Mitgefühl an ihm.

Dazu war seine Art zu unterrichten die angenehmste und geistreichste, welche mir jemals vorgekommen ist. Er stellte die Thatsachen hin und machte es uns durch seine sehr kurzen, sehr bestimmten und eng auf einander folgenden Fragen möglich, die Ursachen derjenigen Dinge zu finden, die uns zu Anfang der Stunde noch fremd und überraschend dagestanden hatten. Damit hing es zusammen, daß er verhältnißmäßig wenig vortrug, daß wir es aber lernten, leicht und bestimmt zu sprechen, und daß wir geistig fortdauernd thätig, immerfort eine Art von Siegesbewußtsein genossen. »Seht Ihr wohl,[91] das habt Ihr nun ganz von selbst gefunden, das ist ganz einfach!« pflegte er zu sagen, wenn er uns den Weg zu neuen Erkenntnissen so vorbereitet hatte, daß wir ihn unmöglich verfehlen konnten. Er schleuderte, wie man es mit einem Kinde thut, das man zum Gehen gewöhnen will, die Kugel weit vor uns hinaus und hielt uns immer auf dem Wege fest, auf welchem wir ihr nachkommen und sie finden mußten.

Im Ganzen lernten wir, den einzelnen Gegenständen nach, viel weniger als es jetzt üblich ist. Wir hatten Unterricht in Lesen, Schreiben, Rechnen, Religion, Geographie, Geschichte, in der deutschen und in der französischen Sprache, und sehr schlechten Unterricht im Gesang und im Zeichnen. Naturwissenschaften und Literaturgeschichte wurden gar nicht gelehrt. Von den Ersteren war damals überhaupt nicht viel die Rede, und was die Literatur und ihre Geschichte anbetraf, so hieß es, wenn wir in dem deutschen Sprachunterricht in der ersten Klasse Schiller'sche oder andere klassische Gedichte aufgesagt hatten, wir könnten jetzt wohl Schiller's, oder diese und jene Werke zu lesen beginnen, wenn wir Zeit hätten, es sei für unsere Bildung nothwendig und würde uns Vergnügen machen. Ganz eben so wurden wir, als wir alte Geschichte lernten, angewiesen, die Beckerschen Erzählungen und die nöthigen mythologischen Erklärungen zu unserem Vergnügen nachzulesen. Man nahm auch in diesem Falle an, daß wir uns selber helfen sollten, und wir halfen uns auch selbst.

Auf die deutsche Sprache, auf Rechnen und Geschichte wurde die größte Achtsamkeit und verhältnißmäßig[92] die meiste Zeit verwendet, und ein guter Kopfrechner zu sein, war Ehrensache in der Schule. Viele Bücher hatten wir nicht. Die deutsche Grammatik diktirte Herr Ulrich uns selbst in den allereinfachsten Sätzen, wie er sie uns eben sprechend entwickelt hatte, und wir lernten sie auswendig und schrieben freie Beispiele danach. Für Geographie hatten wir den Leitfaden von Cannabich, für die Geschichte einen Auszug von Galetti, der nur Thatsachen und Jahreszahlen enthielt, und wir arbeiteten die Vorträge aus, welche unsere Lehrer uns frei gehalten hatten. Später kam in der ersten Klasse eine preußische Geschichte von Heinle hinzu. Dann benutzten wir als Kinder die biblischen Geschichten von Kohlrausch, die Campe'sche Entdeckung von Amerika, und ein Lesebuch, eine Art Anthologie, von Betty Gleim. Ich glaube, ein Paar französische Bücher, wie die Comödien von Frau von Genlis, und ihre petits émigrés ausgenommen, ist Alles genannt, was ich in den sieben und ein halb Jahren meines Schulbesuches an Büchern gebraucht und besessen habe.

Auch von alle den übrigen Hülfsmitteln für den Unterricht, von Globen, von Tafeln für die Erklärung der mathematischen Geographie, die man jetzt in Anwendung bringt und welche man in anderen Schulen wohl auch damals schon gehabt haben wird, war bei uns nicht viel die Rede. Herrn Ulrichs Eigenartigkeit oder der damals gewiß nicht sehr geordnete Zustand seiner Kasse ließen ihn dergleichen Hülfsmittel verschmähen. Ich erinnere mich in diesem Augenblicke mit Lachen an das Experiment, durch welches uns seiner Zeit die Bewegungen[93] der Erde um ihre Achse und um die Sonne deutlich gemacht worden sind. Der Schwamm von der Rechentafel stellte dabei die Erde dar, zwei aus der Nebenstube herbeigeholte Stiefelaufzieher wurden an die Stellen der Pole eingehakt, und während eines der Mädchen ein Stück Kreide als Sonne festhielt, bewegte Herr Ulrich sich mit seinem Schwamm und seinen Stiefelhaken als Erde um dieselbe herum. Der Unterricht und die ganze Haltung der Klasse waren jedoch so ernsthaft, daß wir damals das Komische des Vorgangs gewiß nicht empfunden haben. Die Eintheilung durch die Meridiane und Linie wurde uns an der Klassentafel vorgezeichnet, und wir zeichneten sie zu Hause so gut wir konnten nach. Ebenso wurde es mit den Landkarten gehalten, deren wir freilich gute in der Schule hatten, und selbst die Geschichtstabellen wurden uns diktirt, obschon wir den Galetti besaßen. Wir mußten uns so zu sagen das Material für unseren Unterricht immer erst erschaffen. Es war eben Alles darauf berechnet, uns zum selbstständigen Denken, zur Selbstthätigkeit anzuleiten, und die Schule bot uns dadurch mehr als Unterricht, sie half uns erziehen.

Auffallend war es übrigens, wie sehr Herr Ulrich, der seine eigene Maaßlosigkeit und Formlosigkeit als schwere Fehler empfinden mochte, seine Schüler zur Beobachtung der Form und des Maaßes anhielt. Sein scharfes Auge und sein feines Ohr sahen und hörten an uns die geringste üble Angewöhnung in Miene oder Sprache. Eine Heftigkeit im Ausdruck oder in der Bewegung wurde gleich getadelt, ein Schrei bei einem[94] Schreck, zu welchem gerade unser Geschlecht so leicht seine Zuflucht nimmt, als »gemein« bezeichnet, und sich bei dem Fortgehen aus der Schule auf das Sorgfältigste anzuziehen, Nichts an sich in Unordnung zu haben, war ein unumstößliches Gesetz. Die kleinen Mädchen wurden von den Großen angekleidet, und manchmal, wenn man es sich gar nicht versah, stand Herr Ulrich an irgend einer Straßenecke, um zu sehen, ob wir auf dem Wege auch nicht stehen blieben, ob wir nicht laut sprächen, oder sonst irgend eine Nachlässigkeit an uns zur Schau trügen. Einem Mädchen, das einmal im Nachhausegehen ihren Arbeitsbeutel über die Schulter geworfen hatte und so einhergeschlendert war, wurde dies lange Zeit zum Vorwurf gemacht, und bei jedem Tadel über ein Versehen wurde der Armen der Vorwurf eingeschoben: freilich, wer sich den Pompadour über die Schultern hängt, der kann auch dies und das thun.

Strenge Gewöhnung zur Ordnung und Selbstbeherrschung, feste Unterwerfung unter eine bestimmte Disziplin und möglichste Heranbildung zu innerer Freiheit waren die Aufgaben, welche Herr Ulrich sich gestellt hatte, und in einer wirklich genialen Weise wußte er diese Ziele zu verfolgen. Während in der dritten und zweiten Klasse das Rechnen und namentlich auch das Kopfrechnen fast als das Wesentlichste betrachtet wurde, weil es am meisten zwingt, die Gedanken zu konzentriren, wurden in der ersten Klasse die Geschichte und die deutsche Sprache und in dieser der klare Ausdruck der Gedanken zur Hauptsache gemacht. Das war sehr folgerichtig, denn das Rechnen lehrt denken, die Geschichte giebt Gedanken,[95] und mit dem Unterricht in der Handhabung unserer Muttersprache wird uns die Möglichkeit gegeben, unsere gewonnenen Gedanken auszudrücken.

Wir hatten deshalb wöchentlich zwei größere deutsche Aufsätze zu liefern, wobei wir mitunter auch Briefe schreiben mußten, die dann wirklich in Briefform und gehörig couvertirt abgeliefert werden mußten. Wir lernten für diesen Zweck einmal in ein Paar besondern Stunden die Kunst, ein Couvert zu machen, und die verschiedenen Arten Briefe und Billete, je nach den Veranlassungen, passend zusammen zu falten. Und damit bei unseren zweimaligen Stylübungen in der Woche dem Lehrer die Zeit zu korrigiren nicht zu kurz würde, hatten wir doppelte Aufsatzbücher, so daß die Korrekturen mit der größten Sorgfalt ausgeführt werden konnten.

Auf irgend welche Gespräche, die nicht bestimmt auf den Unterricht Bezug hatten, ließ Herr Ulrich sich mit uns niemals ein. Nur in den Stunden warf er mit unter eine allgemeine Betrachtung oder Lehre, aber auch diese meist nur als kurze Sentenz hin, und ihr Sinn ging in der Regel darauf hinaus, uns vor Scheinwesen, vor Ansprüchen und Pedanterei zu bewahren. Ihr sollt Etwas lernen, hieß es dann wohl, aber nur um Etwas zu sein. – Was von Wissen außen an Euch hängen bleibt, ist Plunder; was nicht in Fleisch und Blut übergeht und Euch tüchtig macht, ist Euch gar nichts nütze. – Was der Mensch von seinem Wissen nicht augenblicklich zur Hand hat, wenn er es braucht, das hat er gar nicht, also lernt es, Eure Gedanken zusammenzuhalten. –[96]

Nach diesem Grundsatz war laut, schnell und bestimmt zu antworten, Etwas wozu wir von der frühsten Kindheit angehalten wurden, und ich glaube, daß es der Ruf der Tüchtigkeit ihrer Schüler gewesen ist, welcher der Ulrich'schen Schule immer wieder die Töchter der angesehensten Kaufmannsfamilien zuführte, denn aus diesen, aus den Tamnau's, Zornow's, Skerley's, Gädike's u.s.w. bestanden die Klassen zumeist, während das Gerücht von Ulrichs persönlicher Maaßlosigkeit in aller Leute Munde war und man dieselbe vielfach tadeln und verdammen hörte.

Ich selbst habe einmal als Kind von ihm einen freilich nur leichten Stoß gegen die Schulter bekommen, als Strafe für eine Unachtsamkeit. Aber mein Vater, gegen den ich mich darüber beklagte, hatte daraus Anlaß zu einer ernsten Rücksprache mit Herrn Ulrich genommen, und während ich durch dieselbe vor jeder weiteren Unbill bewahrt wurde, hatte jenes Aussprechen zwischen den beiden Männern eine gegenseitige Werthschätzung hervorgerufen, welche mir sehr zu Statten kam. Herr Ulrich neckte mich wohl bisweilen mit meiner Weichlichkeit, aber ich wurde stets rücksichtsvoll von ihm behandelt, und auch in dieser kleinen Welt erzeugten oder erhielten die Sklaven ihren Tyrannen selbst – sei es, daß die Verzagtheit der Kinder sie ihre Klagen verschweigen machte, oder daß die Eltern schwach genug waren, ihren Kindern ohne Widerstand ein Unrecht zufügen zu lassen.[97]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 1, Berlin 1871, S. 80-98.
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