Siebentes Kapitel

[98] Es ist sehr schwer, von den Erlebnissen der Kindheit, von den innern sowohl als von den äußern mit einer Art von Folgerichtigkeit zu sprechen, weil die Eindrücke in der ersten Zeit des Lebens das Kind in solcher Massenhaftigkeit bestürmen, daß man es, wenn man es unternimmt, dieselben nachzudenken, kaum begreifen kann, wie das Kind so Vieles auf einmal in sich aufzunehmen vermag.

Gleich mit dem Eintritt in die Schule tritt die Nothwendigkeit, für uns selbst zu denken und zu stehen, und mit ihr die Lebenssorge an das Kind heran. Der Eintritt in die Schule ist der Eintritt in das allgemeine Leben überhaupt. Aus dem engen Bereich des Hauses und der Familie, in welchem Jeder uns kannte, Jeder uns bekannt war, in welchem alle Liebe und Vorsorge uns als freie Gnade ungesucht und wie selbstverständlich zu Theil ward, finden wir uns bei dem Eintritt in die Schule plötzlich in einen Lebenskreis versetzt, in welchem zwar auch noch liebende Sorgfalt über uns wacht, in dem wir aber anfangen müssen, den Antheil von Liebe und alles dasjenige zu verdienen, was wir zu erreichen wünschen. Man fängt an unser Thun zu wägen, man[98] rechnet und rechtet mit uns. Liebe, Theilnahme, Vergebung kommen uns nicht mehr als selbst verständliche Gunst entgegen. Wir sind nicht mehr die Einzigen, denen sie zugewendet werden. Wir bekommen unseres Gleichen, wir bekommen Bessere und Geringere als wir zu Gefährten, wir sind nur noch ein Theil des Ganzen und müssen es lernen, in der Masse zu leben, uns in der Masse zu bescheiden. Wollen wir uns in derselben erhalten, so müssen wir suchen uns derselben anzupassen, wollen wir uns bemerkbar machen, müssen wir uns auszeichnen. Unsere Fügsamkeit wird geübt, unsere Selbstständigkeit erweckt, unser Ehrgeiz angeregt. Wir befinden uns nicht mehr allein neben den Eltern und den Geschwistern, die zu lieben uns angeboren und anerzogen, die nicht zu lieben, ein Unrecht ist. Unsere Liebe, unsere Abneigung gewinnen Freiheit, wir werden frei im Lieben und im Hassen. Alles, was da ist, ist noch für uns und unser Bestes da, aber nicht mehr allein für uns. Der Lehrer, so sehr er auch Rücksicht nehmen mag auf die Eigenthümlichkeit des Einzelnen, kann sich dieser doch nicht so anpassen, wie dies zu Hause im besonderen Unterricht geschah. Das Kind muß sich vielmehr den verschiedenen Unterrichtsweisen der verschiedenen Lehrer anzupassen suchen, und nicht nur für die Neigung zu seines Gleichen hat es freie Wahl, es kann sich jetzt auch die Gegenstände seiner Verehrung wählen nach eigenem Gefallen, es wird frei in sich, unter der Herrschaft eines Allen gemeinsamen Gesetzes. Wie in einer gut komponirten Dichtung alle handelnden Personen allmählich und kaum merklich in die Scene geführt werden, so[99] werden durch den Besuch der Schule auf die geschickteste Weise eine Menge der Kräfte und Fähigkeiten in dem Kinde in Thätigkeit gesetzt, welche die eigentlichen Triebfedern und Regulatoren unseres Lebens werden sollen.

Ich habe in diesem Betrachte diejenigen Mädchen, welche zu Hause erzogen werden, immer beklagt. Die Schule bietet grade ihnen, deren Dasein sonst ganz in der Familie verfließt, die eigentliche Vorbildung für das Leben in der Welt und unter den fremden Menschen. Zu Hause bleiben sie, auch wenn mehrere Geschwister bei einander sind, immer den schädlichen Einflüssen unterworfen, unter denen einzige Kinder und Fürstenkinder zu leiden haben. Sie werden nothwendig verwöhnt. Alles, was da ist, ist um ihretwillen da. Der Lehrer der kommt, kommt nur um ihretwillen, ist bezahlt für sie, hat keinen Zweck als sie. Ihre Spielgefährten, ihr Umgang werden ihnen ausgesucht. Das Unrecht, die Unart können ihnen fern gehalten werden, und werden ihnen fern gehalten, sie sehen es nicht so leicht, sie beurtheilen es nicht selbst, sie haben kein Verdienst daran, wenn sie sich davor bewahren. Sie werden nothwendig unfreier und beschränkter als diejenigen, welche man in größern Gemeinschaften mit Andern, in Schulen erzieht, und die sogenannte Reinheit und Zartheit des Empfindens, welche man in den reichen und vornehmen Familien mit einer solchen Sondererziehung zu erreichen vermeint, waren, so oft ich Gelegenheit hatte, die Resultate dieser Erziehung in der Nähe zu betrachten, meist nicht viel mehr als eine scheue Weichlichkeit, die sich in sich selbst mit wohlgefälligem Dünkel zurückzog, weil sie sich vor[100] dem Ernst und vor der rauhen Seite des Lebens fürchtete. Es ist aber dem Menschen, der im Leben viel zu irren bestimmt ist, ein großer Gewinn, wenn er es zeitig an sich und an Andern lernt, daß unsere Irrthümer und unsere Fehler ihre Strafe in sich tragen, wenn die Schule ihm die Gelegenheit bietet, sich durch fremde Fehler, durch fremde Irrthümer gelegentlich zu belehren, und es ist ihm besser, daß er zeitig zwischen Gut und Böse wählen lernt, als daß er vor dem Bösen erschrickt oder gar sich über dasselbe erhaben glaubt.

Abgesehen von diesem erziehenden Element der Schule, das man nicht hoch genug veranschlagen kann, hat sie noch den Vorzug, daß sie dem Akte des Lernens eine erhöhte, eine ernstere Bedeutung giebt. Denn wie der Mensch auf einer bestimmten Lebensstufe des Gotteshauses, der Kirche, welche ihn seiner täglichen Umgebung entrückt, für seine Erhebung nicht wohl entbehren kann, so empfindet das Kind ganz anders in den Räumen eines Schulhauses, als in den väterlichen Zimmern, in denen sein tägliches Leben sich bewegt. Es hört nicht die Stimme der Mutter, nicht den spielenden Ruf der Geschwister, nicht den Ton der häuslichen Arbeit, es wird nicht zerstreut, nicht abgezogen.

Die Schule ist dem Kinde sein erster Tempel, die Lehrer sind die Priester desselben, und losgetrennt von der gewohnten heimischen Umgebung empfindet das kleine Geschöpf sich nicht als Kind seines Vaterhauses, sondern rein als Schüler. Es ist nur um des Lernens willen da. – So aber muß der Boden vorbereitet sein, wenn die Saat des Unterrichtes gute Früchte tragen soll,[101] und ich erinnere mich noch mit Freude der bis zur Leidenschaft gesteigerten Wißbegier, mit welcher ich den Stunden mancher Lehrer entgegenharrte.

Die Zahl unserer Lehrer war gering, wie die Zahl unserer Bücher. In den unteren Klassen unterrichteten Madame Ulrich, Mademoiselle Aune und ein jüngerer Bruder des Direktors, der sogenannte kleine Ulrich, fast ausschließlich. Madame Ulrich, die durchweg geistreich und von dem feinsten Herzen, dabei auch sehr unterrichtet war, gab uns den Schreibunterricht und erzählte die biblische Geschichte. Mademoiselle Aune lehrte lesen und die Anfangsgründe des Französischen. Der kleine Ulrich, eine etwas verkommene, zaghafte Natur, ertheilte Unterricht in der Geographie, und nur das Rechnen behielt der Direktor sich selber vor.

Regelmäßige Versetzungen hatten wir, wie schon gesagt, eben so wenig als regelmäßige Schulzeugnisse oder regelmäßige Schulprüfungen. Diese wie jene fielen mitunter aus. Aber da in dem täglichen Thun und Treiben die strengste Ordnung unwandelbar gehandhabt wurde, so machten die Unregelmäßigkeiten in den äußern Dingen keinen nachtheiligen Eindruck auf uns, und die Zeugnisse unter allen schriftlichen Arbeiten boten den Eltern doch die nöthige Controlle über unsern Fleiß.

Ich selbst machte die drei untern Klassen schneller durch als es sonst gewöhnlich war, und befand mich denn mit dem Anfang meines neunten Jahres in der zweiten Klasse, in einem Kreise von Mädchen, die alle zwei, drei Jahre älter als ich, theils mit Geringschätzung auf mich herabsahen, theils geneigt waren, ein Spielzeug[102] aus mir zu machen. Mir dies Letztere gefallen zu lassen war ich aber zu ernsthaft, und von der Geringschätzung zu leiden, hinderte mich mein Hochmuth. Ich hatte eine außerordentlich große Meinung von meinen Anlagen und von meinem Wissen, und diese zu unterdrücken hatte Herr Ulrich nur ein Mittel: er hielt mir beständig das Beispiel eines Knaben vor, der kurz vor mir die Schule besucht hatte und viel schneller vorwärts gekommen war, viel mehr geleistet hatte, als ich. Dieser Knabe hieß Eduard Simson, und ist der in unserm politischen Leben rühmlich bekannt gewordene Präsident und Professor Eduard Simson.

Was ich auch thun mochte, was ich auch begann, selbst wenn er mich lobte, immer setzte Herr Ulrich hinzu: Eduard Simson war in Deinem Alter viel weiter! Eduard Simson rechnete in Deinem Alter schon Gleichungen! Eduard Simson konnte dies und das! – Kurz, Eduard Simson, der mir außer der Schule von Kindesbeinen an ein lieber Spielkamerad gewesen war, wurde bis in mein zehntes, eilftes Jahr in der Schule mir ein Schreckbild und ein Vorbild zu gleicher Zeit.

Wir befanden uns damals in den Tagen der Wunderkinder. Karl Witte lebte als Mirakel in aller Leute Munde, und wenn Herr Ulrich zu viel gesunde Vernunft hatte, um aus seinen Schülern Wunderkinder erziehen zu wollen, so setzte er doch einen Stolz darin, daß sein Schüler Eduard in sehr frühem Alter in eine der oberen Klassen des Gymnasium Fridericianum aufgenommen worden war; und mein schnelles Fortschreiten in das[103] Licht zu stellen, wenn einmal Fremde die Schule besuchten, machte ihm gleichfalls Freude.

Eine weniger gesunde Natur als die meine würde durch ein solch geflissentliches Darniederhalten mit einem Vorbilde leicht zu entmuthigen gewesen sein, in mir aber steigerte es nur den Ehrgeiz und den Wissensdurst, und ich war in jenen Zeiten auch so sehr beschäftigt, daß ich zum Grübeln oder zum Sorgen keine Muße hatte. Es waren lauter neue Welten für mich aufgegangen. Von der Spannung, mit welcher ich den Thaten des Kolumbus, des Cortez gefolgt war, von dem Antheil, den die Leiden Montezuma's mir einflößten, dessen Seelenruhe mich unbeschreiblich gerührt hatte, wendete sich mein Enthusiasmus den griechischen Helden zu, und ich weiß noch, mit welch flammenden Backen wir da saßen, wenn uns Herr Ulrich mit seiner etwas trockenen, aber sehr energischen Weise den Heldenmuth eines Leonidas, die Größe eines Themistokles schilderte, oder wenn er uns die bezaubernde Liebenswürdigkeit von Alcibiades und seine Anhänglichkeit an seinen Lehrer Sokrates darstellte. Man bedenkt es niemals genug, daß lebhafte Kinder die Thatsachen der Weltgeschichte ganz persönlich erleben, daß Amerika für sie eben jetzt erst entdeckt, daß alle Helden- und Großthaten für sie eben jetzt erst gethan werden, und daß sie in dem Raume weniger Jahre die Ueberraschungen und Entzückungen der ganzen Vorzeit gleichsam in sich selbst nachzuleben berufen sind.

Neben meinem Interesse an der Weltgeschichte, oder noch früher als dieses, war aber meine Leidenschaft für das Mährchen und überhaupt für die Poesie erwacht,[104] und man leistete zu Hause dieser Neigung Vorschub, indem man mir bereitwillig so viel Bücher zuführte, als ich nur verlangen konnte. Die Auswahl wurde jedoch von meinem Vater sorgfältig getroffen, und ich bekam niemals ein neues Buch, ehe ich das alte nicht mehrfach durchgelesen hatte.

Verwandte und Freunde des Hauses gaben es den Eltern manchmal zu bedenken, daß so viel Lernen und Lesen mir physisch schaden könne, indeß die Eltern hatten den praktischen Nutzen erfahren, den eine geistige Beschäftigung, welche mir von außen Bilder zuführte, für mich hatte, und ließen sich zu meinem Glücke nicht beirren. Denn seit ich in die Schule ging, seit ich lesen konnte, und mir also auf jede Weise Beschäftigung geboten wurde, war ich ein gesundes Kind geworden. Alle die thörichten unverstandenen Vorstellungen, welche mir Ruhe und Schlaf geraubt hatten, die Angst vor Erdbeben, Pest und Todesfällen, die wüsten Bilder, die mich gepeinigt, waren wie mit einem Schlage verschwunden. Ich hatte jetzt tausend Dinge an die ich denken konnte, und wollte meine Phantasie doch ihr Recht haben, so waren Schneewittchen und der Däumling, so waren das Rößlein Fallada und die Tarnkappe da, um mich zu beschwichtigen, bis die Mährchen der Tausend und einen Nacht alle anderen Mährchen bei uns verdrängten.

Die Vorliebe für diese orientalische Mährchenwelt hat mich auch jetzt noch nicht verlassen, und der breite, freie Realismus, in welchem die Phantastik dort ihr Wesen treibt, der große Styl, in welchem das Mährchen dort[105] behandelt wird, scheinen mir noch heute unvergleichlich. Das deutsche Volksmährchen hat, obschon es auch aus dem Orient herstammt, etwas Knappes, Anekdotenhaftes. Man erzählt es sich in kalten Winterabenden, es schildert wenig, seine Abenteuer stoßen den Armen und Gedrückten zu, seine Wunder klemmen sich in das enge Haus und selbst seine Könige und Prinzen kauern sich gleichsam in sich selbst zusammen. In den orientalischen Mährchen ist die Behandlung breit und episch. Man meint es ihnen anzuhören, daß sie in den weiten Hallen des Bazars, unter den Zelten der lagernden Karawanen ihren Ursprung hatten, daß warme Sommernächte sie bilden halfen, daß das Murmeln der Fontainen den Ton ihrer Worte begleitete, und daß Farbe und Licht, daß Pracht und Herrlichkeit vollauf zu finden war in der Phantasie Derjenigen, welche sie erzeugten. Ein großer, man möchte sagen ein historischer Zug durchweht sie, das Leben darin ist bewegt, die Aktion leidenschaftlich, und die Tragik und das Elend selbst sind darin mit jenem Humor behandelt, der sich das Herz von augenblicklichem Leid nicht betrüben lassen will, weil er das Unglück als etwas ansieht, das vorübergehen muß. Bagdad, der menschliche Kalif Harun Alraschid, Scheherezade, Sindbad, die redenden Fische waren mir eine Quelle immer neuer Freude. Und was mir diese Freude noch erhöhte, war, daß mein Vater alle diese Dinge gleichzeitig mit mir las, daß er die schöne Fähigkeit hatte, sich selbst jugendlich daran zu erfreuen, und daß er es nicht müde wurde, sich solch ein Mährchen immer wieder von mir vorlesen zu lassen, oder mit mir,[106] so oft ich wollte, die Verse der rothen, gelben und blauen Fische herzusagen, und mich nach Herzenslust davon sprechen und erzählen zu lassen.

Wenn ich mich aber in der Schule für die Griechen und Römer begeistert, und in meinen Freistunden in den Herrlichkeiten und Wundern des Orients geschwelgt hatte, bot das Leben im Vaterhause mir gegen das Alles ein sehr gesundes und praktisches Gegengewicht. Die Zahl meiner Geschwister hatte sich schnell vermehrt. Zu den beiden Brüdern war, noch ehe ich die Schule zu besuchen angefangen, eine Schwester Clara hinzugekommen, und im Jahre achtzehnhundert neunzehn ein dritter Bruder. Es war also viel Kinderspiel um mich her, und ich theilte dies um so lieber, da ich, als die Aelteste dabei, immer etwas anzuordnen und zu erfinden hatte.

Wir waren täglich sechs Stunden in der Schule beschäftigt, hatten zu Hause reichlich eine Stunde zu arbeiten, und da man mich zeitig in Musik zu unterrichten angefangen, und ich also auch täglich eine Weile Klavier zu üben hatte, so belief sich, als ich sieben, acht Jahre alt war, meine tägliche Arbeitszeit, mit Ausnahme des Sonntags, Mittwochs und Sonnabends, doch immer auf sieben bis acht Stunden. Ich lernte daher schon früh eine recht ernste Arbeit und mit ihr die Wonne des Feierabends kennen. Im Sommer ging es an den Tagen, an deren Nachmittagen wir Schule hatten, erst um halb sechs Uhr Abends in das Freie, und weil dann für große Wege unsere Zeit und unsere Kräfte nicht ausreichten, so wurden wir meist nach dem Kneiphöfischen[107] Junkergarten gebracht, der nur einige hundert Schritte von unserer Wohnung entfernt lag.

Der Junkergarten stammte noch aus den Zeiten, in denen jede der drei Städte von Königsberg ihr eigenes Regiment gehabt hatte. Dicht an das Kneiphöfische Rathhaus schloß sich ein nicht unbedeutendes Gebäude, der Junkerhof, mit einem großen Saale an, dessen Decke mit sehr schwerer Stuckaturarbeit verziert war, und von deren Ecken kolossale Hautrelief-Gestalten ihre muskulösen Beine und Füße in den Saal hinunterstreckten. Dieser Junkerhof hatte einst wohl den Banketten der Junker gedient, nun wurde er als Festhalle für die großen Bälle und Konzerte benutzt. Unfern, nur durch eine schmale Straße von ihm getrennt, befand sich der Junkergarten. Man ging durch ein sehr kleines finsteres Thor, unter den Bogen eines Hauses, das zu meiner Zeit eine Art Bürgerressource war, in den Junkergarten hinein, der hart am Pregel zwischen der grünen Brücke und der Köttelbrücke gelegen, an der einen Seite von den Häusern der Magistergasse, an der andern zum Theil von der Börse, zum Theil von einem hohen Bollwerk eingeschlossen war, und seinen Anspruch, ein Garten zu heißen, nur auf ein Paar Reihen alter Bäume gründen konnte. Aber der ganze Boden, aus dem sie emporwuchsen, war gedielt, weil die Kaufmannschaft den Platz als Sommerbörse benutzte, und er hatte für uns Kinder also den Vortheil, daß wir vollkommen sicher auf demselben spielen konnten, da er auch von der grünen Brücke mit einem nur für Fußgänger passirbaren Thore abgeschlossen war.

Es war nichts weniger als ein schöner, aber uns[108] Kindern ein sehr angenehmer Aufenthaltsort. Die Kinderfrauen, die dort immer einige ihrer Kollegen zu finden wußten, waren guter Laune; wir trafen Spielkameraden aus befreundeten Familien, und hatten unsere kleine Welt für uns. Eine Kuchenfrau, welche unter dem finstern Bogen an der Bürgerressource saß, verkaufte das unschuldigste, immer verstaubte und von der Luft ausgedörrte Backwerk, das wir dennoch köstlich fanden. Unter dem Bogen waren dort an den Wänden einige alte, zerschossene Scheiben von längst entschwundenen Königsschießen befestigt, deren fürchterliche und roth gekleidete Gestalten aus dem Staube der Jahrhunderte kaum noch kenntlich hervorsahen, und von der Decke hing ein ungeheurer Wallfischknochen herab.

Das Interessanteste aber waren mir immer eine Treppe, die aus der dunklen Halle in das obere Stockwerk leitete, und die Thüre, welche zu ebener Erde nach der Bürgerressource, der sogenannten Peilketafel führte. Die Treppe hatte gar nichts Besonderes. Sie sah wie alle anderen Treppen aus, nur daß sie finster war; und das obere Stockwerk, zu dem sie führte, hatte eben so wenig Etwas, wodurch es sich auszeichnete. In mir jedoch war einmal der Gedanke entstanden, daß die Treppe schaurig aussähe, und daß da oben irgend etwas Merkwürdiges sein, oder geschehen sein müsse. Aber auch in diesem Falle war es mir ganz unmöglich, diese Vermuthung irgend Jemand zu vertrauen, oder die Meinen zu fragen, wer da oben wohne? Ich hatte davor eine instinktive Scheu, die sich wohl auf die Furcht vor einer Enttäuschung gründete. Es wäre Alles aus gewesen,[109] hätte man mir gesagt, dort oben wohne der Gastwirth, oder ein Börsendiener, oder irgend eine Näherin. Ich hätte für ein Nichtwissen, das mich beschäftigte, ein Wissen eingetauscht, welches mir Nichts genützt und meine stille Unterhaltung gestört haben würde, und in allen solchen Fällen leistet man den Kindern gar keinen Dienst, wenn man sie unnöthig aufklärt, wenn man ihnen für ihre Ahnung ein positives Wissen, für ihre Träume ein Faktum giebt. Das ganze innere Leben der Kinder ist ein Halbwachen. Wie das Kind seines Lebens erste Monate im Halbschlaf hinbringt, so setzt sich dieser Zustand auch geistig noch lange in seiner Kindheit fort. All sein Denken ist Staunen, Vermuthen, sein ganzes Dasein ein bald ausgesprochenes, bald unausgesprochenes Fragen, und die Anlagen und der Entwickelungsgang der Kinder sind in jedem von ihnen so verschieden, daß man sie ruhig gewähren lassen muß, wenn nicht irgend eine bedenkliche Erscheinung es nothwendig macht, ihrem allmähligen. Erwachen zum Selbstprüfen und Selbsterkennen vorzugreifen. Je mehr man ein Kind in Ruhe läßt, um so richtiger findet es das ihm Angemessene. Ich ließ es mir still gefallen, von der Kinderfrau dafür gescholten zu werden, daß ich immer in der finsteren Halle steckte, statt unter den Bäumen zu spielen. Ich konnte nicht aufhören, die Treppe und die Thüre anzustaunen. Mir von den Dingen, die da oben sein konnten, eine Vorstellung zu machen, ist mir nie begegnet. Ich unterlag ganz einfältig jenem Banne, den das Fremde, Geheimnißvolle auf uns ausübt, und ich möchte behaupten, daß ich vor der Thüre und der Treppe nie[110] einen anderen Gedanken gehabt habe, als die Frage: was ist da oben?

Mit der Peilketafel aber war es ganz ein ander Ding. Das Peilkespiel, das ich sonst nirgend habe üben sehen, wurde damals noch in allen drei Junkergärten von Königsberg gespielt. Es gehörte dazu eine lange, dem Billard ähnliche Tafel, auf welcher Steine, nach Art großer Damenbrettsteine, ausgesetzt waren, und nach denen mit ähnlichen Steinen geschoben wurde. Das Zimmer, in welchem man Peilke spielte, lag zu ebener Erde, die niedrigen Fenster gingen nach dem Junkergarten hinaus, und obschon kleine weiße Gardinen davor waren, konnten wir doch ein Wenig hineinsehen. Weil ich aber nicht recht klug daraus werden konnte, was die Männer dort begannen, sprach ich zu Hause das Verlangen aus, einmal in die Peilketafel, so bezeichnete man im Volke das Lokal, hineinzugehen, und schon am andern Tage führte mein Vater uns in das Zimmer, in welchem eine Anzahl Männer, unser Nachbar, der Zinngießer Bethge unter ihnen, ihr Löbenichtsches Bier tranken, und mit ihren Kalkpfeifen im Munde theils Peilke spielten, theils dem Spiele zusahen.

Dieser Theil des Junkergartens verlor denn, seit ich ihn genau kannte, sein Interesse für mich. Um so lieber blieb mir aber der Ausgang aus dem Junkergarten, der nach der Köttelbrücke führte, denn da lagen am Bollwerk alljährlich ein oder ein Paar Schiffe, die Töpferwaaren, Steinkrüge und Näpfe, von Bremen nach Königsberg brachten. Die Eigenthümer der Schiffe, unter denen mir eine schöne, alte Frau, wir nannten sie schlechtweg[111] die »Bremerfrau«, im Gedächtniß und lieb in der Erinnerung geblieben ist, wohnten in ein Paar hölzernen Buden am Ufer, und hatten ihre Waaren auf dicken Strohunterlagen weit um sich her ausgebreitet. Da unsere Mutter ihren Bedarf von dieser Frau entnahm, unsere Kinderfrau sehr befreundet mit ihr war, und sich unter ihren Waaren sehr viel Spielzeug für uns befand, so war es immer ein Festtag für uns, wenn wir im Frühjahr endlich das Bremerschiff wieder am Bollwerk liegen sahen, wenn die alte Bremerfrau mit ihren rothen Wangen und ihrer schwarzen, fast holländischen Tracht, wieder auf dem Verdeck zu sehen war, wie sie das Stroh am Ufer ausbreiten, und ihre Waare an das Land tragen ließ.

Alles an der Frau gefiel mir: ihr gutes Gesicht, ihr fremder Dialekt, ihre große herzliche Freundlichkeit für uns Kinder. Sie kannte uns alle beim Namen, sie schenkte uns Schiffszwieback und Aepfel, wenn sie ankam, und weil ganze Haufen der Krüge, Näpfe, Wasserschweinchen und sonstigen Herrlichkeiten, die wir erstrebten, ihr eigen waren, so kam sie mir, obschon die Schätze des Krösus und die Pracht des Orients mir schon sehr geläufige Begriffe geworden waren, doch sehr reich, ja eigentlich ganz unermeßlich reich vor. Sie schenkte uns auch gar häufig von ihrem Spielzeug, und auf einem umgedrehten Napfe mitten unter ihrem Stroh zu sitzen, zuzusehen wie sie mit ihren Käufern handelte, oder Sonntag, wo wir auch am Vormittage in den Junkergarten gingen, dabei zu sein, wenn sie mit ihren Leuten Mittag aß, von dem wir zuweilen in unsern[112] kleinen Näpfen. Etwas zu schmecken bekamen, das war ein großes Vergnügen. Nur die Freude ging noch darüber, wenn der Christian, der wohl ein Schiffsjunge gewesen sein wird, mir beschrieb, wie groß das Meer sei, und wie finstere Nächte es habe, und wie schlimm es sich auf dem Wasser fahre, wenn der Wind heule und die Wellen über das Verdeck schlügen, daß man jeden Augenblick denken müsse, nun sei es aus. Kolumbus, Kortez, Pizarro, Sindbad und Ulysses waren in solchen Augenblicken für mich gar Nichts, im Vergleich zu Christian.

Das waren die Freuden der Schultage. An den freien Nachmittagen gingen wir in einen Bleichgarten, den Dey'schen Garten, der ebenfalls in der Stadt, zwischen den Holzplätzen, aber doch viel freier als der Junkergarten gelegen war. Die Hausfrauen des Kneiphofs ließen dort ihre Wäsche bleichen, und es waren, wie ich glaube, auch eine Kegelbahn und eine kleine Restauration dort eingerichtet. Wir blieben meist die ganzen Nachmittage dort, und gegen Abend, wenn mein Vater sein Comptoir geschlossen hatte, kamen die Eltern uns nach, und spielten noch mit uns, bis die Zeit zur Rückkehr da war. In diesem Garten geschah es, daß mein Vater im Spiel mit uns einen Kassenschein von fünfhundert Thalern aus der Brusttasche seines Rockes verlor, der aber am anderen Morgen, wenn auch von einem Gewitterregen ganz durchweicht, doch glücklich wiedergefunden wurde.

Bisweilen machten wir auch in einer der Vorstädte, auf dem Haberberg, mit der Kinderfrau Besuche bei[113] ihrer Schwester, der Frau Runge, die Wäscherin, und an einen Fuhrmann verheirathet war. Die Tochter der Kinderfrau, einige Jahre älter als wir, und der Sohn der Frau Runge machten dann unsere Spielgefährten. Wir saßen in einem ganz kleinen Gärtchen, in dem blaue Perlblumen, weiße Sternblümchen, Gilken und Marienblätter wuchsen, und ein Mitbewohner des Hauses, ein bejahrter Bombardier, der die Feldzüge mitgemacht hatte, saß rauchend bei uns, und erzählte vom Kriege, wenn wir ihn darum baten.

Dann hatten wir den eigentlichen Spaziergang des damaligen Königsberg, den Philosophendamm. Hippel hatte ihn angelegt, Kant ihn täglich benutzt, und man hatte ihm deshalb den hochtönenden Namen »Philosophendamm« gegeben, obschon er Nichts war als ein kreisförmig angelegter, mit Bäumen, zumeist mit Weiden, besetzter Damm, der sich durch ein Stück Wiesenland an den Gärten der Gemüse- und Kräuterzüchter hinzog. Ein Paar Wassermühlen zum Ablassen des Wassers im Frühjahre, ein Gasthaus, in welchem Artillerieoffiziere Kegel spielten, und vor dem es immer nach brennendem Zündschwamm und nach Lunte roch, eine Reifschlägerbahn, ein Pulverhaus, und weiterhin die feste Friedrichsburg, ein kleines Fort mit einigen Schanzen und Wällen, das wie ein Spielzeug da lag, das war Alles was wir auf diesem Spaziergange erblicken konnten, wenn wir den Hafen verlassen hatten, dessen Kais wir vorher passiren mußten. Aber das ist grade das Schöne an der Kindheit, daß sie überall für sich Gegenstände der Unterhaltung zu finden weiß, und man darf behaupten,[114] daß dieses Auffinden des Genußreichen sich steigert, je enger der Kreis ist, in welchem es gesucht werden muß.

Wir konnten, je nachdem die Jahreszeit vorschritt, das Düngen, Graben, Säen, Pflanzen und Erndten in den Gemüsegärten betrachten. Wir sahen, wie das Wasser allmählich von den Wiesen abgelassen wurde, wir fanden Genuß daran, dem rückwärtsgehenden Seiler mit den Augen zu folgen, wenn er, wie eine Riesenspinne, aus seiner Schürze voll Hanf die Schnüre herausspann. Wir kannten in der Festung den Thürhüter, und einen halbblödsinnigen Burschen, der aus gefärbtem Stroh allerlei Kästchen und Körbe flocht und verkaufte. Wir ließen uns vom Thürhüter erzählen, wie einmal irgendwo ein Pulverthurm geplatzt sei, und gingen dann so fern als möglich um das Pulverhäuschen herum; wir fürchteten uns vor den schweren Verbrechern in den Kasematten, obschon vielleicht gar keine darin waren, und sahen mit neugierigem Mitleid die Strafgefangenen in ihren Ketten bei der Arbeit.

Ueberall wohin wir geführt wurden, hatten wir Vergnügen, und überall waren wir sicher; denn meine Eltern beobachteten die Vorsicht, uns ganz unbemerkt nachzukommen, so daß unsere Wärterinnen sich nicht wohl eine Vernachlässigung oder Unregelmäßigkeit erlauben konnten. Mich gelangweilt zu haben, erinnere ich mich nie, und kein Kind langweilt sich, dem man es möglich macht, nach seiner Neigung sich in der Welt umzusehen, und sich unter den Menschen der verschiedenen Stände zurecht zu setzen. Diese Art von Freiheit, welche uns ohne besondere Ueberlegung, sondern weil es eben das Nächstliegende[115] war, in unserer Kindheit geboten wurde, hat mir durch mein ganzes Leben die besten Früchte getragen, denn ich habe mich von jeher zu Hause gefühlt unter den Leuten aus den handarbeitenden Ständen. Das wird aber den Kindern, und vollends den Mädchen aus den sogenannten gebildeten Klassen im Allgemeinen nicht zu Theil. Sie werden in vornehmer Abgeschiedenheit erzogen; man meint ihnen etwas Gutes zu thun, wenn man ihnen Scheu einflößt vor der Unbildung, vor Allem, was nicht ist wie sie. Und wenn man ihnen dann später auch die Pflicht auferlegt, für ihre armen Mitmenschen in jeder Weise und nach besten Kräften zu sorgen, so hat man ihnen schon die Leichtigkeit genommen, dieser Pflicht zu genügen, indem sie in ihrem Verkehr mit den Ungebildeten, bei ihrem Eintritt in die enge Wohnung der Armen, in sich Etwas zu überwinden, ein Opfer zu bringen haben. Sie leisten damit in sich selbst, von einem gewissen Standpunkte aus betrachtet, vielleicht ein Größeres als wir; was sie aber Denjenigen leisten, denen zu helfen, die zu trösten sie gekommen sind, das ist wieder eine andere Frage.[116]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 1, Berlin 1871, S. 98-117.
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