Einleitung

Wie der Reisende sich Empfehlungen von verehrten Personen zu verschaffen sucht, um sich einen freundlichen Empfang und gütige Theilnahme unter den Fremden zu sichern, so schicke ich dieser Arbeit eine Bemerkung Goethe's über die Bedeutung des Individuellen voran, die mich seit lange beschäftigt und mir während des Arbeitens oft im Sinne gelegen hat.

»Das Individuum, sagt Goethe, geht verloren; das Andenken desselben verschwindet; und doch ist ihm und andern daran gelegen, daß es erhalten werde.

Jeder ist selbst nur ein Individuum und kann sich auch eigentlich nur für's Individuelle interessiren. Das Allgemeine findet sich von selbst, dringt sich auf, erhält sich, vermehrt sich. Wir benutzen's, aber wir lieben es nicht.

Wir lieben nur das Individuelle; daher die große Freude an Vorträgen, Bekenntnissen, Memoiren, Briefen und Anekdoten abgeschiedener selbst unbedeutender Menschen.

Die Frage: ob Einer seine eigene Biographie schreiben dürfe, ist höchst ungeschickt. Ich halte den, der es thut, für den höflichsten aller Menschen.[3]

Wenn sich Einer nur mittheilt, so ist es ganz einerlei, aus was für Motiven er es thut.

Es ist gar nicht nöthig, daß Einer untadelhaft sei, oder das Vortrefflichste und Tadelloseste thut; sondern nur, daß Etwas geschehe, was dem Andern nützen oder ihn freuen kann.«

Ein andermal, als er die Entstehung seiner biographischen Annalen schildert, spricht er sich, auf das Urtheil Cellini's gestützt, dahin aus, daß man sich nicht zu spät daran machen dürfe seine Erinnerungen aufzuzeichnen, wenn man überhaupt die Neigung fühlt, dieses zu thun.

»Es ist keine Frage, heißt es dort, daß uns die Fülle der Erinnerung, womit wir jene ersten Zeiten zu betrachten haben, nach und nach erlischt, daß die anmuthige Sinnlichkeit verschwindet, und ein gebildeter Verstand durch seine Deutlichkeit jene Anmuth nicht ersetzen kann.

Hierbei ist aber noch ein bedeutender Umstand wohl zu beachten: wir müssen eigentlich noch nahe genug an unsern Irrthümern und Fehlern stehen, um sie liebenswürdig und in dem Grade reizend zu finden, daß wir uns lebhaft damit abgeben, jene Zustände wieder in uns hervorrufen, unsere Mängel mit Nachsicht betrachten und mancher Fehler uns nicht schämen mögen.«

An diese Aussprüche habe ich oftmals gedacht, wenn ich bei meinen dichterischen Arbeiten, im Gestalten der einzelnen Figuren, den Boden zeichnete, dem sie entstammten, die Einflüsse welche zu ihrer Entwicklung beitrugen, und den Weg auf dem sie an ihr Ziel zu[4] gelangen hatten. Dann ist mir häufig die Lust gekommen, mir einmal mein eigenes Leben und meine eigene Entwickelung in solcher Weise übersichtlich und zusammenhängend darzulegen, und seit Jahren habe ich die Neigung gehabt, meine Erinnerungen aufzuzeichnen.

Meine Freunde haben mich in dem Gedanken bestärkt, mich zu dem Unternehmen angetrieben, und nun ich mir endlich einmal die Muße dazu geschafft, nun ich mich an den Schreibtisch setze um an das Werk zu gehen, bewegt es mir feierlich das Herz. Denn wie man in der Jugend ahnungs- und hoffnungsvoll in die ungewisse Zukunft hineinblickt, so schaue ich in diesem Augenblick ruhig und befriedigt auf den Pfad zurück, der jetzt hinter mir liegt.

Es ist etwas Besonderes um das Festhalten und Aufschreiben seiner eigenen Schicksale, um das Wiedererwecken seiner eigenen Vergangenheit. Man ist Darsteller und Zuschauer, Schöpfer und Kritiker, jung und alt zugleich. Man empfindet alle seine genossenen Freuden mit der Kraft der Jugend, man blickt auf seine vergangenen Leiden mit dem Gefühle eines Ueberwinders zurück. Man durchlebt das Leben noch einmal, aber ruhig und mit unverwirrtem Bewußtsein. Und was uns im Affekte des Erlebens einst räthselhaft, was uns getrennt und zusammenhanglos, was uns zufällig, unwesentlich oder auch gewaltsam und ungerecht erschien, das gestaltet sich vor dem überschauenden Blicke zu einem übersichtlichen Ganzen, in welchem eigenes und fremdes Handeln, in welchem Irrthümer und Schmerzen, in welchem unser Denken und Streben, unser Mißlingen[5] und unsere Erfolge uns nur noch als eben so viele Ursachen und Wirkungen entgegentreten. Jedes Menschenleben trägt eben seinen vernünftigen Zusammenhang in sich, und mehr oder weniger habe ich in dem Schicksal aller mir bekannt gewordenen Menschen das alte Sprichwort bestätigt gefunden, das mein theurer Vater uns von Jugend auf als Lehre und Warnung auszusprechen pflegte: es ist Jeder seines Glückes Schmied!

In diesem Sinne haben Biographien, und vor allen Dingen ehrlich gemeinte Selbstbiographien, mich immer lebhaft angezogen. Sie sind mir bedeutsam gewesen als Bilder einer bestimmten Zeit und ihrer Kulturverhältnisse, sie sind mir lehrreich, tröstlich und erhebend gewesen. Der Hinblick auf das arbeitsvolle Ringen Anderer hat mich im Arbeiten und Beharren bestärkt. Bevorzugte, glückliche Lebensläufe haben mir Hoffnung auf Erfolg und Streben nach ähnlicher Befriedigung gegeben; und wenn ich Menschen, die ich über mich zu stellen hatte, mit Mißgeschicken kämpfen oder gar den sie umgebenden Verhältnissen unterliegen sah, so hat mich das vor thörichten Anforderungen an ein sogenanntes unbedingtes und müheloses Glück behütet, hat mich auf thätige Geduld verwiesen und mich gelehrt, sowohl das Gute, das mir durch meine angeborenen Verhältnisse geworden, als dasjenige, welches mir durch eigene Kraft zu erringen gelungen ist, in jedem Augenblicke doppelt bewußt zu genießen, doppelt dankbar anzuerkennen.

Und so mögen diese Aufzeichnungen, die ich im Gedenken an meine theuren verstorbenen Eltern und an mein liebes Vaterhaus beginne, allen Denen eine[6] freundliche Erinnerung bereiten, denen es einst wohl geworden in dem gastlichen Hause meiner Eltern, oder die mir sonst theilnehmend auf dem Lebenswege begegnet sind. Kommen sie nebenher einem oder dem andern Menschen hier und da aufklärend und beruhigend zu statten, so würde mich das von Herzen freuen. Gelingt das diesen Erinnerungen nicht, nun so bereiten sie doch vielleicht den Lesern einen Theil des Vergnügens, welches ich selbst bei dem Niederschreiben immerfort empfunden habe.


Berlin, im Juni 1858.[7]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 1, Berlin 1871, S. 3-8.
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