Zehntes Kapitel

[167] Die Untersuchung gegen Ebel und Diestel war schon eine geraume Zeit im Gange, als der Oberlandesgerichtsrath Ludwig Crelinger als Justizcommissarius aus Schlesien nach Königsberg versetzt wurde.

Er war völlig fremd in dem Orte und meinen Eltern von unsern Verwandten angelegentlich empfohlen worden. Ich hatte ihn schon in Breslau kennen lernen, als er eben von irgend einem kleinen schlesischen Orte nach der Hauptstadt der Provinz an das Oberlandesgericht von Breslau gekommen war. Damals war er mit einem Mädchen aus geringem Stande verheirathet, das, wie man sagte, früher schon seine Geliebte gewesen war, und dieser Umstand erschwerte ihm den Eintritt in die Breslauer Gesellschaft.

Die Männer jedoch schätzten ihn sehr. Sie sprachen mit dem größten Lobe von der Aufopferung, welche er in dem kleinen Städtchen während einer furchtbaren Cholera-Epidemie bewiesen, man rühmte seinen glänzenden Geist, seine tiefen und umfassenden Kenntnisse in seinem Fache, seine universelle Bildung und seine Freunde gaben es zu bedenken, daß sicherlich mehr Liebe, Muth und Ehrenhaftigkeit dazu gehörten, ein armes verführtes[167] Geschöpf zu seiner Frau zu machen, als es zu verstoßen. Indeß die weibliche Tugend der Breslauerinnen blieb unerbittlich, es verstanden sich kaum die Frauen von Crelinger's nächsten Freunden dazu, der armen Zurückgewiesenen einen Gegenbesuch zu machen, und da eine meiner nächsten Verwandten zu der kleinen Anzahl der Duldsamen gehörte, so hatte ich, eingedenk der Mahnung meiner polnischen Freundin, nie in hartherzige Tugend zu verfallen, mich dazu erboten, meine Cousine bei dieser Visite zu begleiten.

Die arme verfehmte Frau war seitdem gestorben, Rath Crelinger war, etwa ein Jahr nachdem ich Breslau verlassen hatte, wegen einer aus seiner früheren Amtsführung herrührenden Vernachlässigung mit einer Untersuchung bedroht worden, und hatte das Unrecht gegen sich begangen, sich dieser Untersuchung zu entziehen, indem er sein Amt freiwillig niederlegte. Es hatte sich, so viel ich weiß, darum gehandelt, daß er die Auszahlung einer sehr geringen Summe auf Ansuchen der betreffenden Personen zu früh gemacht, und es versäumt hatte, sich darüber eine Quittung zu fordern. So hatte er, neben einer wirklichen Ueberschreitung seiner Befugnisse, den Anschein einer Unterschlagung auf sich gezogen, und er hatte, in seiner Ehre angegriffen und gekränkt, amtlos und erwerblos ein paar Jahre in schweren Sorgen und drückenden Verhältnissen gelebt, als seine Ernennung zum Advokaten in Königsberg ihn in der öffentlichen Meinung wieder herstellte, und ihm zugleich die Gelegenheit bot, sich von den Folgen seines zu schnellen Austrittes aus seinem Amte frei zu machen.[168]

Da seine Mittel, als er nach Preußen kam, ihm keine unnöthigen Ausgaben verstatteten, war ihm daran gelegen, sobald als möglich das Hôtel, in welchem er abgestiegen war, gegen ein Privatlogis zu vertauschen. Es wollte sich aber ein Quartier, wie er es für sich und sein Büreau nöthig hatte, nicht gleich finden lassen, und da grade die mittlere Etage unsers Hauses, die auch früher schon einmal vermiethet worden war, weil wir ohne dieselbe eilf Zimmer und damit Raum genug hatten, in dem Augenblicke leer stand, machten die Eltern ihm das Anerbieten, diese Etage für ihn zu meubliren, so gut es sich eben thun ließ, und sie ihm vorläufig für Jahr und Tag zur Miethe zu überlassen. Crelinger nahm das mit Freuden an, die Wohnung wurde schnell hergerichtet, und schon nach wenig Tagen zog er in unser Haus ein.

Er mochte damals gegen vierzig Jahre alt sein, aber er sah bei dem ersten Anblick zu jener Zeit weit älter aus, als er wirklich war, denn die Spuren vieler Sorgen und schweren Kummers lagen auf seinem Gesichte. Er war sehr groß und mager, und trug sich mit Brust und Kopf vorn über gebückt. Sein schwarzes Haar lag schlicht an den schmalen Schläfen, die ungewöhnlich große Nase sprang weit zwischen den nicht großen, grauen, von einer Brille verdeckten Augen hervor, der Mund hatte sehr volle Lippen, die Unterlippe war besonders stark ausgeprägt, und man hätte ihn sehr häßlich nennen müssen, hätte nicht das Gesicht ein ungemein feines Mienenspiel gehabt, in welchem die ganze Kraft und Anmuth seines Geistes sich, namentlich durch die Züge um den Mund, zum Ausdruck brachte.[169]

Mit großer Herzenswärme und Güte verband er einen satyrischen Geist, und es war eigenthümlich anzusehen, wie seine Muskeln sich bewegten, wie es um seine Lippen zuckte, wenn er etwas ihm Lächerliches beobachtete und sein Urtheil darüber nicht aussprechen mochte. Sein Witz war je nach dem Anlaß von spielender Anmuth und von vernichtender Schärfe. So war auch sein Betragen gegen Fremde ein wechselndes. Während die Einen seine Liebenswürdigkeit priesen, scheuten Andere ihn; darin aber stimmten Alle überein, ihm einen vornehmen Geist und eine dem entsprechende Haltung zuzuerkennen, und er selbst war sich dieser Vorzüge wohl bewußt.

Es war ein Vergnügen, seinen edlen Handbewegungen zu folgen, ein Vergnügen, ihn den Wirth an seinem Tische machen zu sehen, und eine Gefälligkeit von ihm zu empfangen, wurde zu einem Genusse durch die Art, in welcher er sie erzeigte. Obschon sein Organ stumpf war, las er vortrefflich, und seine Beredtsamkeit, die sich auch in seiner amtlichen Thätigkeit bewährte, war hinreißend, weil sie ihre Mittel eben so sehr aus dem Kopfe als aus dem Herzen zog.

Dabei wußte er den Männern und den Frauen gegenüber seine besondere Stellung wohl zu nutzen. Er war verheirathet gewesen und war Wittwer. Er war nicht so alt, daß er sich nicht zu den jüngern Männern zählen durfte, und nicht so jung, daß die ältern ihn nicht bereitwillig als ihres Gleichen gelten lassen konnten, und Alt und Jung fühlte sich behaglich mit ihm, weil die große Beweglichkeit seines Geistes und seiner Phantasie[170] es ihm möglich machte, sich stets völlig in die Wesenheit Desjenigen zu versetzen, mit dem er sich eben beschäftigte. Man wurde, wenn man ihn näher kannte, durch seine Art sich zu betragen häufig an den auch in Frankreich fast ausgestorbenen Typus des unverheiratheten Marquis erinnert, der in den alten Schauspielen und Romanen als galanter und getreuer Hausfreund eine Rolle spielt. Alles vertraut ihm, überall hilft er aus, er hat an sich und seiner Stellung und seinen Leistungen sein eigenes Vergnügen, ist der größten Selbstverläugnung fähig, und hat doch aus seiner Jugend her eine Ader von Leichtsinn bewahrt, welche ihn gelegentlich mit in die Verwirrung hineinzieht, die er zu lösen beabsichtigt. Diese Gestalt ist eine überaus liebenswürdige, und Crelinger hatte ihre besten Eigenschaften. Er war nur viel bedeutender, als der französische Roman seinen Marquis zu schildern pflegte, und er würde sicherlich ein großer Mensch gewesen sein, hätte ihm nicht die letzte Eigenschaft gefehlt, welche den Charakter eines Mannes vollendet: der rechte, in sich selbst beruhende, moralische Muth. Daß dieser ihm mangelte, das empfand er bisweilen selbst, und der Mangel desselben war es auch, der ihn in spätern Jahren, als Preußen durch die Revolution zu einem constitutionellen Staate geworden war, verhinderte, die Stellung einzunehmen, welche seinem Geiste, seinem Wissen, seinem Organisationstalent und seiner weltmännischen Bildung die allein angemessene gewesen wäre.

In einer Stadt mittler Größe ist der Eintritt eines Fremden in ansehnliche Amtsverhältnisse immer ein bedeutendes Ereigniß. Seine Person, seine Vergangenheit[171] werden einer genauen Kritik unterworfen, und Ludwig Crelinger war wie dazu geschaffen, den Leuten Stoff für ihre Betrachtungen und Unterhaltungen zu liefern. Er war der Sohn eines sehr reichen Mannes, der während des Krieges in Berlin als Lieferant große Geschäfte gemacht, großes Vermögen erworben und ein glänzendes Haus geführt hatte. Blücher, Hardenberg und die andern hervorragendsten Kriegs- und Staatsmänner der Epoche waren die Gäste desselben gewesen. Bernadotte hatte als Einquartierung lange in dem Crelinger'schen Hause gewohnt, und als er dann später König geworden, der Hausfrau ein prächtiges Ameublement als Andenken und Schadloshaltung gesendet. Was sich in der Kunstwelt ausgezeichnet, war in der Crelinger'schen Familie eingeführt gewesen, und den Söhnen auf diese Weise eine glänzende Jugend und ein wohl vorbereitetes Auftreten in der Gesellschaft zu Theil geworden.

Ludwig Crelinger war der älteste dieser Söhne. Geistvoll, witzig, von lebhafter Sinnlichkeit, für das Große und das Schöne gleich begeistert, hatte er sich die Verhältnisse seiner Familie zu Nutze zu machen gewußt. Er hatte Jura studirt, und danach seine praktische Carriere als Auskultator in Berlin begonnen. Indeß in jenen Tagen mag die Arbeit nicht eben seine größte Leidenschaft gewesen sein. Er hatte viel mit Schauspielern verkehrt, Ludwig Devrient und die Freunde desselben waren ihm früh bekannt geworden, und der Lebensgenuß mag ihn damals vor allen Dingen beschäftigt haben. Man erzählte, daß sein Freund Carl v. Holtei den Referendarius in den Wienern in Berlin als eine harmlose[172] Verspottung des jungen Crelinger geschaffen, und die zum Sprichwort gewordene Redensart: »ich habe unmenschliche Reste!« von diesem für sein Singspiel entlehnt habe.

Später war Crelinger zur Zeit des Ministerium Villele einige Zeit in Paris gewesen, hatte dort die Gesellschaft und die große Welt ebenfalls kennen lernen, und war dann plötzlich aus diesen günstigen Verhältnissen dadurch herausgerissen worden, daß sein Vater sein Vermögen verlor.

Nun hatte Crelinger zu arbeiten begonnen, und der Abstand von den Berliner und Pariser Salons zu dem schlesischen Landstädtchen, in welchem er eine Anstellung erhielt, der Abstand von einem fast fürstlichen Luxus zu den Lebensbedingungen eines knapp besoldeten Stadtrichters, mögen fühlbar genug gewesen sein. Indeß er trug die veränderten Verhältnisse wie er mußte, und er besaß in seiner Bildung eine Quelle von geistigen Genüssen, an die er sich zu halten verstand.

Dennoch hatte er etwas Gedrücktes, als er nach Königsberg kam, wo seine geistige Bedeutung bald Aufsehen machte und ihm schnell Freunde gewann. Auch eine advokatorische Praxis bildete sich für ihn schon nach kurzer Zeit, und vor Allem kam es ihm zu statten, daß die angeklagten Geistlichen, daß die Prediger Ebel und Diestel ihn zu ihrem Vertheidiger erwählten. Ein solcher berühmter und berüchtigter Prozeß bot ihm das Feld, sich und seine Kraft geltend zu machen, und das war Alles, was ihm in dem Augenblicke nöthig war.

Wir hatten nun die Angelegenheiten des Mucker-[173] Prozesses, wie man ihn nannte, aus der ersten Hand. Mein Bruder, der Referendarius war, diente dem Untersuchungsrichter als Protokollführer, und unser Hausgenosse Crelinger den Angeschuldigten als Vertheidiger. Beide Männer hatten dabei die sicherste Gelegenheit, die Anhänger der Sekte kennen zu lernen, und Beide sprachen mit Erstaunen, ja oftmals mit Bewunderung von der geistigen Energie, von der Klarheit und Festigkeit, welche viele der Männer und Frauen bei den Verhören und bei ihren Auslassungen an den Tag gelegt hatten. Namentlich gaben sie den Frauen das Zeugniß großer Bildung und Bedeutung, großer Fassung und ungemeiner Haltung; und die Anklagen, gegen welche sie sich zu rechtfertigen hatten, waren doch der Art, daß sie für Frauen quälend und vernichtend sein mußten.

Einzelne Vorgänge, Scenen und Aussagen aus der Untersuchung drangen auf den verschiedensten Wegen in das Publikum, und man konnte sich oft des tiefsten Mitleids nicht erwehren, wenn man die wackersten Männer und Frauen in diese Untersuchung hineingezogen und verwickelt sah, die theils als Zeugen gegen die Sekte aufgetreten, theils herbeigerufen waren, um Auskunft über ihre nächsten Angehörigen, über ihre Geschwister, Kinder und Gatten zu geben. So erinnere ich mich, daß eine der edelsten Matronen der Stadt, die Frau des Kanzlers von Preußen, Frau von Schrötter, eine geborene Gräfin Dohna, vernommen wurde, deren Tochter zu den vertrauten Anhängern Ebels gehört haben und in die Mysterien der Sekte eingeweiht gewesen sein sollte. Man hatte die Greisin gefragt, ob sie die Doktrin der Sekte gekannt,[174] ob sie ihre Zustimmung zur Betheiligung ihrer Tochter an den geheimnißvollen Uebungen derselben gegeben habe? Da hatte die schöne alte Frau mit ruhigem Blicke umhergesehen, hatte die sie verhörenden Männer der Reihe nach angeschaut und Nichts geantwortet als: »Sie haben wohl selbst noch Mütter, meine Herren! lassen Sie sich von diesen die Antwort auf Ihre Frage geben!« –

Daneben erfuhr man denn auch wieder, wie viel Unheil von den Anhängern der Sekte ausgegangen war. Wie überall in solchen Fällen hatte die Gemeinde sich als die eigentliche Familie ihrer Anhänger hingestellt, und es war durch sie der heftigste Zwiespalt in Häuslichkeiten getragen worden, die sich bis dahin eines ungetrübten Glückes erfreut. Gatten waren einander entfremdet, Kinder ihren Eltern abgewendet, schwache Frauen von ihren frommen Freundinnen förmlich gefangen gehalten und tyrannisirt worden. Der Prozeß hielt die Spannung und die Theilnahme des Publikums eine Weile rege, und trug gründlich dazu bei, die ohnehin sehr rationellen bürgerlichen Kreise meiner Vaterstadt gegen alles Frömmeln noch mehr einzunehmen. Da sich aber die Untersuchung lange hinzog, so war das Interesse an derselben fast erloschen, als mehrere Jahre später die Amtsentsetzung und die Bestrafung der beiden Geistlichen erfolgte.

Was aus dem Prediger Diestel geworden ist, weiß ich nicht. Für Ebel kauften seine Anhänger einen Landsitz nicht fern von Königsberg; die Gemeinde blieb, so weit sie sich nach außen kund gegeben hatte, nach wie vor bestehen; ob die Behörden sie überwachten, ist mir nicht bekannt. In der Stadt hörte man auf, sich um sie zu[175] bekümmern, und ich weiß nicht einmal, ob noch einer der beiden Geistlichen am Leben ist.

In unserm Familienleben ging aber während dessen vielerlei Gutes vor. Mein Vater, der schon mehrere Jahre Stadtverordneter gewesen, wurde zum Stadtrath erwählt, und wir Alle, besonders aber unsere Mutter, hatten eine große Genugthuung darüber. Von dem Vertrauen seiner Mitbürger ein Amt zu empfangen, ist sicherlich das Ehrendste, was einem Manne in seinen bürgerlichen Verhältnissen widerfahren kann, und mein Vater war der Mann, es in diesem Sinne aufzufassen. Er hatte schon seine Stelle im Stadtverordneten-Collegium mit Vorliebe eingenommen, und sich gern und viel in demselben bethätigt. Sein Uebergang in den Magistrat entsprach aber seiner Neigung noch mehr, denn jeder reife Mann hat das Bedürfniß, seine Wirksamkeit über seine Familie hinaus für die Gesammtheit zu bethätigen. Wo dem Manne diese Möglichkeit entzogen ist, leidet sein Wesen darunter, und er versinkt nur zu leicht in das Kleinleben der Frauen und des Hauses.

Meinem Vater that die Anerkennung seiner Mitbürger doppelt wohl, denn es war seit der Verleihung der Städteordnung in Königsberg bisher nur einmal ein Jude in den Magistrat gewählt worden. Die Auszeichnung, welche er erfuhr, war also zugleich ein Zeichen verständiger Toleranz, und die neue Thätigkeit selbst war meinem Vater sehr zusagend. Er wendete große Liebe und viel Zeit auf seine Amtsgeschäfte, und fand in dem Zusammenwirken mit seinen Collegen besonders später viel Befriedigung, als der jetzige Minister Rudolf von[176] Auerswald nach dem Abgange des Oberbürgermeisters List dessen Nachfolger wurde, und mit ihm ein frischer, unternehmender Geist in das Collegium kam.

Unsere Mutter, der im Ganzen wenig persönliche Befriedigungen zu Theil wurden, und die eine Neigung für das Beamtenwesen und seine Titel hatte, hörte sich gern Frau Stadträthin nennen, und uns Allen kam die Wahl des Vaters in unsern gesellschaftlichen Verhältnissen vielfach zu Nutze. Es ging uns in jenen Zeiten recht nach Wunsch, wir brauchten in keinem Sinne mehr Etwas zu entbehren, meine Brüder schritten auf ihrem Wege fort, und das alte, liebevolle Familienleben blieb dasselbe. Den Söhnen war ihre Zukunft gewiß, wenn sie fortarbeiteten wie bisher, die jüngern Töchter versprachen zum Theil sehr hübsch zu werden, und waren gutgeartete, und einzelne von ihnen auch begabte Mädchen, von denen man sich jedes Guten und Folgsamen gewärtigen und keine der Besonderheiten fürchten durfte, welche in dem Charakter eines Mädchens zu den Unbequemlichkeiten für die Familien gerechnet werden. Ich meinerseits hatte die Macht der Gewohnheit wieder wohlthätig über mich wirksam gefühlt, und war zu einer verhältnißmäßigen Resignation gelangt. Ich las viel, ging viel in Gesellschaft, und lebte dabei mein Innenleben für mich allein.

Im Herbste verließ mein jüngster Bruder uns, um seine medicinischen Studien in Berlin fortzusetzen. Er war noch nicht einundzwanzig Jahre alt, und der Vater trug Bedenken, den leidenschaftlichen und tollkühnen Jüngling aus seiner Zucht, und namentlich aus der ihn mäßigenden Nähe des ältern Bruders zu entlassen, die[177] sich vielfach behütend und ausgleichend erwiesen hatte, da die Brüder mit der größten Liebe aneinander hingen. Indeß Moritz hatte sich so tief in die Maßlosigkeiten und Thorheiten des sogenannten Studentenlebens in Königsberg verstrickt, der Händel, der Duelle, der ernstlichen Verwundungen waren so viel geworden, daß er selber endlich, da noch ein Liebesverhältniß mit einer verheiratheten Dame dazu kam, die den leicht zu Entflammenden gefesselt hatte, seine Entfernung wünschte. Seine Universitätslehrer, welche sich gegen den Vater sehr günstig über die große Begabung und den glücklichen Blick meines Bruders ausgesprochen hatten, riethen gleichfalls, ihn fortzuschicken, und an einem der letzten Abende vor seiner Abreise, an dem er in schwerer Sorge über eine Kranke war, welche er aus der Polyklinik zu behandeln hatte, kam er, als es schon dunkelte, in meine Stube, setzte sich zu mir an das Fenster, sprach ernst von seiner Kranken, von seiner Zukunft, und fragte dann plötzlich: »was wird denn aus Dir werden?«

Ich war sehr verwundert über diese Frage. Er hatte sich verhältnißmäßig wenig um mich bekümmert. Er war viel außer dem Hause, wußte in der Regel nicht, was im Innern der Familie vorging, hatte dabei Alle von Herzen lieb und pflegte sich gelegentlich darüber zu beschweren, daß ihm Alles verheimlicht werde. Die Geschwister neckten ihn damit, daß er stets mit der Frage: was? – in die Thüre und in die Gespräche hineinfalle, und wenn es sich dann herausstellte, daß er wirklich wieder mehrere Abende nicht zu Hause gewesen war, so that ihm das leid, er ärgerte sich selbst darüber, wollte[178] es ändern, aber ihm fehlte die ertragende Geduld, ohne die man in einer großen Familie nicht auskommen kann. Wenn er dann höchst liebenswürdig und hingebend gewesen war, und eine Weile von all den Kleinlichkeiten hatte sprechen hören, aus denen sich unsere Zufriedenheit zusammensetzte oder unsere Verdrießlichkeiten ihren Ursprung hatten, so sah man, wie unbehaglich ihn das machte, und mit den besten Vorsätzen, häuslich zu sein, lief er davon, um Raum für sich und seine Weise in der Mitte seiner Freunde in dem Wirthshaus seines Studentenkränzchens zu suchen.

Allen hatte er schon Sorge gemacht. Wir hatten ihn bei schweren Verwundungen nach seinen Duellen gepflegt, und seine Geduld im Leiden und seine warmherzige Dankbarkeit waren dann gleich bezaubernd gewesen. Wir hatten manche seiner Thorheiten der strengen Ahndung des Vaters zu entziehen gesucht, ja man war eigentlich immer in Sorge um ihn, denn er stürmte auf sich und sein Leben mit jenem Uebermuthe los, den nur eine Fülle körperlicher und geistiger Kraft zu erzeugen pflegt. Bald hatte er, um einem Zollbeamten zu trotzen, die halbe Nacht bei eisigem Herbstwetter auf einem Balken im Wasser sitzend zugebracht, bald hatte er auf der Anatomie die unnützesten und bedenklichsten Experimente gemacht. Stellte man ihn dann zur Rede, mahnte man ihn zur Vernunft, verwies man ihn auf die Pflicht gegen seine Eltern, so war er eine Weile ernsthaft, aber gleich darauf ging die ganze Helligkeit seines Jugendübermuthes wieder wie Sonnenschein über sein breites, treuherziges Gesicht, und man mußte sich von ihm abwenden, wenn[179] man ihm nicht zeigen wollte, daß man von ihm bestochen, selbst bereits wieder über und mit ihm lachte.

Vor all den Dingen, welche man Familien-Calamitäten nennt, hatte er die größte Scheu. »Davon verstehe ich Nichts!« sagte er, und machte sich aus dem Staube. Aber als Krankenpfleger war er unermüdlich, und seine Jugend schien dann weit hinter ihm zu liegen; ich glaube, er war für das Krankenbett und zum Arzte geschaffen.

Auf seine Anrede: »was soll denn aus Dir werden?« war ich also gar nicht gefaßt gewesen, und ich fragte ihn daher, was er damit wolle? Er wußte es mir Anfangs selber nicht zu sagen, und meinte endlich: »Ich glaube, sie wollen Dich verheirathen.« »Mich?« rief ich aus, »mit wem? wie kommst Du darauf?« »Ich weiß nicht, ich habe so Etwas gehört!« »Aber mit wem denn?« wiederholte ich beängstigt. »Das weiß ich nicht!« versicherte er.

Ich beschwor ihn, mir zu gestehen, was er erfahren, wer davon gesprochen, er wußte aber wirklich Nichts, und hatte in der That nur einmal zufällig von den Eltern ein Wort davon reden hören.

»Du kannst Dir ja denken, mir sagen sie davon Nichts, und das ist mir auch ganz lieb!« versicherte er; und mit einem Male die Stimme ändernd, sprach er sehr zärtlich: »Thu's aber nicht, wenn Du nicht willst! Ich hab's an der N ... (er nannte den Namen der Frau, die ihn beschäftigt hatte) gesehen, es ist eine elende Geschichte, wenn eine Frau sich aus ihrem Manne Nichts macht; und so widerwärtig solch ein Leben als alte Jungfer ist, besser als eine Heirath ohne Neigung ist es doch!« Er kam dann auf seine Zukunft zu sprechen,[180] und daß er gern, wenn er seine Examina gemacht hätte, als Schiffsarzt die Meere durchziehen und die Welt kennen lernen möchte, und nachdem wir stundenlang vor einander die Herzen ausgeschüttet hatten, und ich mit wahrer Angst daran dachte, was man mit mir vorhaben könne, war er schon wieder mit der Ausmalung heiterer Lebensaussichten für sich beschäftigt, und rief, wie er es als kleiner Junge gethan hatte, lachend aus: »Wenn ich nur erst in irgend einem Urwalde bin, und habe einen ordentlichen großen Hund, dann heirathe ich gewiß nicht!«

Er half sich mit solchen Scherzen gern über Rührung und Wehmuth, über Sorgen und Verlegenheiten weg, und es machte eine fühlbare Lücke in unserm Leben, als der immer heitre, von Allen geliebte und umsorgte wilde Bruder nicht mehr bei uns war, hinter dessen übermüthiger Außenseite das weichste Herz und ein feuriger Geist verborgen lagen. Ich aber hatte keine Ruhe mehr seit jener Unterredung, und das angedrohte Unheil ließ denn auch nicht lange auf sich warten.

Moritz war erst kurze Zeit von uns entfernt, als ich eines Vormittags in die Eßstube kam, und den Vater mit zwei andern, mir unbekannten Männern bei einem Glase Wein am Fenster sitzen sah. Darin lag an und für sich nichts Auffallendes, denn es kam öfter vor, daß der Vater einen seiner Geschäftsfreunde, wenn er längere Auseinandersetzungen mit ihm hatte, in die Wohnung hinauf nöthigte. Ich machte also eine Verbeugung und wollte in die Nebenstube gehen, in welcher ich Etwas zu besorgen hatte, aber mein Vater rief mich an, und stellte mir die Herren vor.[181]

Der Aeltere war ein Kaufmann aus einer Provinzialstadt, der Andere, ein Mann in der Mitte der dreißiger Jahre, ein zum Landrath erwählter Assessor, der in einer der unwirthbarsten Gegenden der Ostprovinzen, in der Tuchler Heide, seinen Wohnsitz hatte. Wir wechselten einige Worte mit einander, ich machte die gewöhnliche Frage, ob die Herren länger in Königsberg verweilen würden, und erhielt die Antwort, der Aeltere, der Onkel, würde abreisen, der Neffe wolle sich, da er die Stadt nicht kenne, einige Zeit in derselben umsehen, und der Vater lud ihn darauf ein, am nächsten Tage, da dies ein Sonntag war, mit uns zu essen.

Auch das war nur ganz in der Ordnung, aber mir schoß plötzlich der Gedanke durch den Kopf, das könne der mir zugedachte Bräutigam sein, und ich hatte mich nicht geirrt. Der folgende Mittag brachte mir denn seine nähere Bekanntschaft.

Es war Niemand von den gewöhnlichen Sonntagsgästen geladen, wahrscheinlich damit der Prätendent sich um so ungestörter geltend machen konnte, und er that das auch auf seine Weise. Er erzählte von den hübschen Honoratioren-Kränzchen in seinem Wohnorte, beschrieb sein Haus, sprach von seinen angesehenen Verwandten in Berlin und Breslau, und daß er hoffe, bald versetzt und nicht immer Landrath in seinem jetzigen Kreise zu bleiben. Dazwischen nannte er die schönen Hyazinthenspecies, die er erziehe, und schilderte ausführlich und liebevoll das Vergnügen, Krebse bei Fackelschein zu fangen. Das half mir und ihm aber gar Nichts, er mißfiel mir über alle Maßen. Seine untersetzte fette Gestalt,[182] und ein Ausdruck satter, hochmüthiger Selbstzufriedenheit, eine gewisse zuversichtliche und landläufige Sprechweise, und die anmaßende Sicherheit, mit der er sich mir gegenüber stellte, würden ihn mir unangenehm und antipathisch gemacht haben, hätte ich auch nicht eines anderen Mannes Bild und eine leidenschaftliche Liebe für denselben im Herzen getragen; und ich sah meinen Vater, der sonst für Unarten, wie mein Prätendent sie hatte, ein nachsichtsloser Richter war, fortwährend darauf an, ob er den Mann nicht ebenso widerwärtig fände, als ich selbst. Aber der Vater sowohl als die für das Komische leicht zugängliche Mutter schienen diesmal völlig blind. Der Assessor-Landrath kam in dem Laufe der folgenden Tage noch verschiedene Male wieder, meine Schwestern machten ihre Scherze über ihn, die Eltern lobten ihn, und ich war im tiefsten Innern empört und erbittert darüber, daß man nur daran denken konnte, mir einen Mann zum Gatten zu geben, den beide Eltern sicherlich nicht zu unserm Umgangskreise gezogen haben würden, hätte er mich nicht zur Frau zu nehmen gedacht.

Endlich an einem Nachmittage kam das Stubenmädchen mit der Meldung zu mir, der Herr lasse mich bitten, auf des jungen Herrn Stube zu kommen. Jetzt wußte ich, was mir bevorstand, und mit klopfendem Herzen, aber mit fester Ueberzeugung von dem, was ich zu thun hatte, stieg ich die drei Treppen hinauf.

Ich fand meinen Vater allein und sehr bewegt. Er sagte, ich würde mir denken können, weshalb er mich habe rufen lassen. Der Assessor habe ihn um meine Hand gebeten, und er wünsche und hoffe, daß ich mich bereit[183] finden lassen würde, sie anzunehmen. Diese Redeform, die ganz gegen meines Vaters sonstige Ausdrucksweise verstieß, gab mir deutlich kund, daß er selbst von meinem Bewerber nicht eben eingenommen war, und ich erklärte daher unumwunden, daß es mir leid thue, meinem Vater seinen Wunsch und seine Hoffnung nicht erfüllen zu können.

Er schwieg einen Augenblick und bemerkte danach: »Ueberlege Dir die Verhältnisse, mein Kind! Du bist nicht mehr jung, Du bist fünfundzwanzig Jahre. Ich befinde mich leider nicht in der Lage, Dir ein Vermögen zur Mitgift zu geben, man weiß, daß ich kein reicher Mann bin, und ich habe fünf Töchter außer Dir. Zwei davon sind bereits erwachsen, die Andern werden es in wenig Jahren sein, und sechs erwachsene Töchter können sich in einem Hause neben einander nicht wohl befinden. Der Assessor wählt Dich um Deiner selbst willen, das wird vielen reichen Mädchen nicht zu Theil, und Du hast als Frau eines Landraths, der sicher eine gute Carriere machen wird, eine ehrenvolle Stellung und ein gesichertes Auskommen; ganz abgesehen davon, daß eine Frau selbst in einer nicht ganz glücklichen Ehe noch immer besser daran ist, als ein altes Mädchen.«

Ich fragte, ob der Vater diese letztere Erfahrung an seiner jüngsten Schwester gemacht habe, deren unglückliche Ehe uns Allen stets ein Gegenstand des Kummers gewesen war. Er erwiderte mir, der Assessor sei ein Mann von Bildung, den man mit dem Manne meiner Tante nicht zu vergleichen habe, und fügte dann hinzu: »Ich weiß nicht, welche Wünsche und Erwartungen Du in Dir hegst, ich glaube aber, daß sie unbegründet sind,[184] und Du könntest es vielleicht später bereuen, die Hand eines Ehrenmannes ausgeschlagen zu haben. Ein Ehrenmann aber ist der Assessor nach Allem, was ich selbst von ihm gehört und über ihn erkundet habe.«

Die Unterhaltung ging so eine Weile fort. Mein Vater war sehr weich und äußerst gelassen. In mir wogten die verschiedensten Empfindungen auf und nieder. Ich wollte gern auch gelassen bleiben, aber das Herz schlug mir, daß ich kaum athmen konnte, und in den Schläfen hämmerte mir das Blut. Ich mußte solchen Heirathsvorschlägen ein für allemal ein Ende machen, das fühlte ich. Ich erklärte meinem Vater also, daß Nichts auf der Welt mich bestimmen könne, eine Heirath ohne Neigung einzugehen; wenn er mich zu einer solchen zu überreden gewünscht, wenn er die Absicht gehabt hätte, aus mir Nichts zu machen, als eine der Frauen, die sich für ein gutes Auskommen einem Manne verkaufen, so hätte er mir die Erziehung nicht geben dürfen, die ich von ihm erhalten, so hätte er mich nicht selbstständig werden lassen müssen. Mir sei eine Dirne, die sich für Geld verkaufe, wenn sie Nichts gelernt habe und ihre Familie arm sei, nicht halb so verächtlich als ein Mädchen, das genug gelernt habe, um sich zu ernähren, und sich für Haus und Hof verkaufe.

Mein Vater unterbrach mich, da ich heftig geworden war. »Ehe Du weiter sprichst«, sagte er, »will ich Dir nur das Eine noch bemerken. Ich weiß, wie Du an Tante Minna hängst. Ich habe in diesem Falle nicht allein über Dich entscheiden wollen. Ich habe an die Tante geschrieben und sie gefragt, was sie in solcher Lage thun,[185] und ob sie sich nicht berechtigt glauben würde, ihre Töchter zu einer Heirath zu zwingen, wenn sie eine solche ohne vernünftigen Grund von sich wiesen; und die Tante stimmt mir darin bei, daß man alle Mittel aufbieten müsse, solchen Zwang auszuüben.«

Er reichte mir eine Abschrift seines Briefes an die Tante und deren Antwort hin. Ich sollte sie lesen, ich sah sie auch durch, aber ich verstand vor Zorn, vor Scham, vor Kränkung kaum was ich las. Ich fühlte nur, daß man mir mit diesen Briefen den Zusammenhang mit Heinrich habe stören, mir jede Hoffnung auf seine Liebe nehmen wollen, und daß man mich zwingen zu können glaubte. Diese Vorstellung, daß mein Vater, den ich so unsäglich liebte, mich zu zwingen, mich in's Unglück zu stoßen dachte, um, wie ich es in meiner Empörung nannte, der Sorge für mich zu entgehen, brachte mich außer mir.

»Du willst mich zwingen, wie willst Du das machen, lieber Vater?« fragte ich. »Meinst Du mich einzusperren oder mich hungern zu lassen? Oder was kannst Du mir thun, wodurch ich mich zu einer Erniedrigung meiner selbst bewegen lassen würde? Bin ich Dir zur Last, lieber Vater, so sage es, und ich will gehen und mir mein Brod selbst verdienen, da Du mir ja die Mittel hast angedeihen lassen, es zu können; und es wird vielleicht für mich und für uns Alle am besten sein, wenn das geschieht!«

Meinem armen Vater traten die Thränen in die Augen, er mochte darauf nicht vorbereitet gewesen sein, und es mochte ihm plötzlich der Gedanke kommen, daß ich nicht mehr glücklich in seinem Hause und überhaupt[186] nicht glücklich sei. Er nahm mich bei der Hand und sprach mit der Stimme, die mir so unwiderstehlich war: »Fanny! wer denkt denn daran! Aber ich bitte Dich, Dein Vater bittet Dich darum, diese Heirath einzugehen, Du würdest mich und die Mutter sehr glücklich dadurch machen.« –

Ich fing zu weinen an. Den Vater mich bitten zu hören und nicht Ja sagen zu können, zerriß mir das Herz. »Quäle mich nicht, lieber Vater!« flehte ich, »ich kann nicht! ich kann nicht heirathen!« –

Mein Vater saß auf dem Sopha, ich stand vor ihm. Er hatte den Kopf auf die Hand gestützt. Mit einem Male stand er auf. »Also das ist Dein letztes Wort, es bleibt bei Nein!« –

»Ich kann nicht anders!« wiederholte ich.

»Gut denn! also Nein! und ich will hoffen, daß Du es später nicht einmal bedauerst.« Er küßte mich und ging hinaus; als ich ihm folgen wollte, gab er mir die Weisung, zurückzubleiben. »Beruhige Dich erst, und wasche Deine Augen, damit man im Hause nicht sieht, daß Du geweint hast!« sprach er, und ließ mich nach wiederholter Umarmung zurück.

Und ich blieb zurück, um meine Verzweiflung in heißen, bitteren Thränen auszuweinen. Elender als in der Stunde habe ich mich in meinem ganzen Leben nicht gefühlt. Ich habe in spätern Jahren manchen großen Schmerz durchlebt, aber es waren reine Schmerzen, und sie thaten nicht so weh, denn sie kamen mir nicht von einem Vater, den ich mit einem wahren Cultus liebte. Es ist mir viel Unbilliges, viel Unvernünftiges zugemuthet worden,[187] indeß es kam dann von Personen, die mich nicht so kannten, wie ich mich von meinem Vater gekannt wußte oder glaubte, und sie konnten nicht ermessen, wie sie mit ihren Forderungen gegen meine eigenste Natur verstießen. Mir war der Boden unter den Füßen fortgezogen, ich hatte zu Niemandem mehr Vertrauen, nicht zu meinem Vater, nicht zu meiner Tante. Ich sagte mir nur immer: »Wie überlästig muß ich in unserm Hause sein, wie wenig muß selbst der Vater mich kennen, wenn er mich fortstoßen, mich zwingen will, unglücklich zu werden, nur um mich nicht mehr versorgen zu müssen.«

Es war ganz vergebens, daß ich mir vorhielt, wie die meisten Eltern im gleichen Falle das Gleiche thun würden, wie die und jene meiner Bekannten den guten Landrath mit tausend Freuden zum Manne nehmen, wie die meisten Leute finden würden, daß ich eine höchst annehmbare Heirath ausgeschlagen hätte. Ich hielt mir alles Allgemeine vor, um für das Persönliche einen Trost daran zu finden, aber es wollte nicht verschlagen. Ich war einmal nicht wie alle Welt. Es lebte in mir ein großer, starker Glaube an eine hohe Liebe und an eine idealische Ehe, die mir ein Heiliges war; es lebte in mir das Gefühl von der wahren Menschenwürde, die man erniedrigt, wenn man den Menschen zwingen will, gegen sein eigenstes Wesen zu handeln; und all der Jammer, all die Kränkung, all die zornige Empörung, welche aus tausend Frauenherzen den Aufschrei nach Emancipation hervorgebracht haben, ich habe sie von jener Stunde an zu empfinden nicht aufgehört, bis ich erreicht, was ich bedurfte, mich vor der beleidigenden Zumuthung[188] zu sichern, welche in den Worten liegt: »Was soll denn aus Dir werden?«

Diese Worte, die Jeder sich für berechtigt hält, einem unbemittelten Mädchen zuzurufen, schließen ganz einfach und selbstverständlich den Gedanken in sich: »Was soll denn aus Dir werden, wenn Du Dich nicht mit oder ohne Liebe, mit Allem was Du bist, für den Preis Deines Lebensunterhaltes einem Manne in die Arme wirfst?«

Wer aber unsere socialen Einrichtungen, unsere geselligen Sitten und unser Familienleben, so wie sie jetzt sich gestaltet haben, zu lobpreisen vermag, wenn diese Frage einmal an ihn gerichtet worden ist, der hat nicht viel in sich von dem wahren Ehrgefühl und Schamgefühl, ohne die weder Mann noch Frau sich selbst achten, oder wahre Achtung verdienen können.

Ich kann noch heute nicht ohne wirkliches Entsetzen daran denken, was mein Loos gewesen sein würde, wäre ich in jener Stunde weniger selbstgewiß, weniger charakterfest und weniger idealistisch gewesen. Aus Vorurtheil und Kurzsichtigkeit hätte mein sonst so kluger und guter Vater mich in ein für mich unabsehbares Elend gestoßen – und immer noch, wenn ich auf den Höhen des Lebens, im Voll-Genuß des Erhabenen, Großen, Schönen, das es uns zu bieten hat, mein Dasein gesegnet habe, sind mir die Tuchler Heide und der unglückliche Mann eingefallen, die mein Vater mir für meine Zukunft ausersehen hatte. Ich wäre in Verzweiflung an mir selbst zu Grunde gegangen, ohne den mich rettenden Selbsterhaltungstrieb.[189]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 2, Berlin 1871, S. 167-190.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Meine Lebensgeschichte
Meine Lebensgeschichte (1; V. 3); Von Fanny Lewald
Meine Lebensgeschichte (2-3); Von Fanny Lewald
Meine Lebensgeschichte (1)

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Der Vorzugsschüler / Der Herr Hofrat. Zwei Erzählungen

Der Vorzugsschüler / Der Herr Hofrat. Zwei Erzählungen

Zwei späte Novellen der Autorin, die feststellte: »Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde: alle dummen Männer.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon