Neuntes Kapitel

[150] Das Frühjahr von achtzehnhundert vierunddreißig brachte uns ein schweres Unglück. Eine meiner jüngeren Schwestern, ein schönes, begabtes Kind, das die prächtigen Augen meines Vaters geerbt hatte, erkrankte an einer plötzlichen Augenentzündung, und hatte das Unglück, ein Auge zu verlieren.

Schon am Charfreitage erklärten die Aerzte, die Sehkraft des Auges sei unwiederbringlich verloren; man meinte jedoch, die äußere Form des Auges noch erhalten zu können, aber auch diese Hoffnung schlug fehl, und Anfangs Juni mußte das Auge extirpirt werden.

Der Schmerz meiner Eltern war unsäglich groß. In allen ihren Leidensjahren, in den Tagen voll Sorge, Kummer und Nöthen, war es immer meines Vaters Trost gewesen, acht gesunde Kinder zu haben. Dies Glück ward den Eltern jetzt zerstört, und während meine Mutter von dem augenblicklichen Leiden des Kindes selbst fast zu Boden geworfen wurde, sah mein Vater mit schwerer Bekümmerniß voraus, welch einen Einfluß dieses Unglück auf das Leben meiner Schwester haben, und wie viel Entbehrungen ihr dadurch unvermeidlich auferlegt werden mußten.[150]

Mein Vater und mein jüngster Bruder, der Medicin studirte und an den Anblick von Operationen bereits gewöhnt war, wohnten derselben bei, wir Anderen waren bei unserer Mutter, die auf ihren Knieen lag und händeringend und in Verzweiflung betete. Es war ein entsetzlicher Morgen.

Das Kind bewies eine große Energie. Es verlangte, als man ihm das andere Auge zuband, daß man ihm die Binde noch einmal abnehmen solle, es müsse den Vater noch einmal sehen. Das gestand man zu, und nun hielt die Kleine ohne zu zucken, ohne einen Laut von sich zu geben, die Operation geduldig aus; ja, als man bei dem Verbande einer Stecknadel benöthigt war, zog sie dieselbe aus ihrem Gürtel und reichte sie dem Arzte hin.

Natürlich wurde diese Tochter von da ab der Gegenstand größter Sorgfalt und größter Achtsamkeit für das ganze Haus. Sie hatte schon während der langen Kur, welche der Operation vorausging, die schwersten Schmerzen ausgestanden, und fast eben so schwer von der Unthätigkeit gelitten, zu welcher sie verdammt war. Lange Wochen hindurch hielt man die zehnjährige Kleine, die bereits an die Schule gewöhnt war und die Arbeit liebte, in einem völlig dunkeln Zimmer. Man konnte also kein rechtes Spiel mit ihr treiben, konnte ihr nicht vorlesen, die ihr gleichaltrigen Geschwister hielten es auch nach Kinderart nicht lange in der Finsterniß aus, und so hatten die Mutter, die zweite Schwester und ich nun die Aufgabe, die kleine Kranke zu unterhalten, deren Lebhaftigkeit das nicht leicht machte. Sie hatte schon viel Mährchen gelesen,[151] hatte ein Gedächtniß, dem Nichts von dem Gelesenen entschwand, und wollte doch immer Neues hören. Das brachte mich eines Tages auf den Einfall, ihr Etwas zu erzählen, was ich in dem Augenblick für sie erfand.

Sie war mit der Mutter und mir im verwichenen Sommer an der Ostsee gewesen, ich erzählte ihr also ein Mährchen von der Frau Balta, der mächtigen Seekönigin, und von deren zwei ungerathenen Töchtern, dem frischen und dem kuhrischen Haff, welche Frau Balta hinter den Dünen eingesperrt habe, um sie für ihren Ungehorsam zu bestrafen; und ich putzte das mit allerlei dem Kinde verständlichen Allegorien und personifizirten Naturerscheinungen auf. Marie hatte die größte Freude daran. Ich mußte ihr die Geschichte wiederholen, schrieb sie mir darnach auf ein Blatt Papier, um sie nicht zu vergessen, und wenn es gewünscht würde, sie in gleicher Weise und ohne Auslassungen oder Aenderungen, denn Kinder lieben diese nicht, wieder vorbringen zu können; und da ich sah, daß meine Schwester von dieser Erfindung, die sich an ihr bekannte Gegenden und Namen lehnte, mehr Vergnügen hatte, als an allem Andern, so erdachte ich im Laufe der nächsten Tage noch zwei kleine Geschichten, die sich an den Spazierort Judithen und an Schloß Aarnau knüpften, welche Beide nahe bei Königsberg gelegen sind. Die Mährchen oder Sagen waren nicht bedeutend, erfüllten jedoch ihren Zweck, und wie sie die ersten Versuche waren, welche ich im erzählenden Dichten machte, so blieben sie auch die Einzigen bis zum Jahre achtzehnhundert einundvierzig, in welchem ich mit der bestimmten Absicht, etwas Dichterisches[152] zu schaffen, mich wieder im Erfinden und Erzählen versuchte.

Wir zogen zur Erholung für die Mutter und die kleine kranke Schwester in der Mitte des Sommers vor das Thor hinaus, und wie im ersten Jahre nach meiner Heimkehr war mir auch diesmal der Aufenthalt im Freien erwünscht, denn mein Zusammenhang mit der Natur wurde immer tiefer und ernster. Ich hatte in früheren Jahren eine Abneigung gegen Naturschilderungen gehabt und es nicht recht begreifen können, wie Jemand darauf kommen möge, eine Elegie zu schreiben. Jetzt ging mir das Verständniß dafür auf.

Ich konnte mich in der Umgebung unseres Hauses, die nichts weniger als anmuthig war, stundenlang in das Anschauen der Bäume, des Grasplatzes, des kleinen Teiches versenken, in dem die Sonnenstrahlen sich spiegelten; ich konnte mit selbstquälerischer Wollust am Abend das ungezählte Heer der Sterne sich am Firmamente ausbreiten und zu mir herniederleuchten sehen, und mir sagen, wie thöricht es sei, wenn das Atom, das sich Mensch nenne, es sich beikommen lasse, sein Glück und sein Leid als etwas Wesentliches zu betrachten. Neben der Unendlichkeit der Natur kam mir die Spanne unseres Lebens so kurz vor. Wenn ich mich aber recht tief in die Entsagung hinein gedacht hatte, wenn ich mir die Seele erfüllt hatte mit der Vorstellung an unsere Vergänglichkeit, wenn unser ganzes Leben mir wie ein Tag erschien, so erschienen mir plötzlich wieder die Stunden eines jeden Tages und die sechszig Minuten jeder Stunde als eine lange Zeit, denn ich hatte es bereits erfahren,[153] wie viel Glück und wie viel Leid das Menschenherz in dem Raume weniger Stunden durchleben kann.

Es war ein beständiger Wechsel von Kleinmuth und Selbstgefühl, von verzagendem Lebensüberdruß und nicht zu ertödtender Lebenslust in mir, aus denen sich doch immer wieder der Gedanke herausarbeitete, daß die Natur in ihrem Werden und Vergehen allmächtige Kräfte entfalte, daß sie immer schöpferisch, immer neu, Jedem das Spiegelbild des eigenen Daseins entgegenhalte, und daß sich nothwendig in dem kleinsten Geschöpfe derselbe Prozeß vollziehen müsse, der zerstörend, um neu zu bilden, das Weltall zusammenhalte. Und da ich nach jedem Winter den Frühling wiederkehren sah, meinte ich immer: auch für mich müsse er noch kommen, und es müsse mir im Leben noch irgend Etwas beschieden sein, das mich schadlos halte für die Freudlosigkeit, von welcher ich innerlich befangen war.

In unserm häuslichen Leben und in unsern geselligen Verhältnissen waren inzwischen manche günstige Veränderungen eingetreten. Meines Vaters Vermögenslage besserte sich fortdauernd. Wir hatten mit einigen Professoren-Familien, theils durch unsern Aufenthalt im Seebade, theils durch meine beiden studirenden Brüder näheren Umgang gewonnen, es waren uns auch ein paar geistvolle Docenten, welche sich von Berlin nach Königsberg übergesiedelt hatten, empfohlen worden, und da wir jetzt die Möglichkeit besaßen, für den Haushalt mehr als früher aufzuwenden, so sahen wir häufig Leute bei uns, ohne daß der Zuschnitt der Bewirthung dadurch wesentlich verändert worden wäre.[154]

Es wurde nach wie vor mit dem Essen keine Art von Luxus getrieben, wenn Sonntags, wie das inzwischen zur Sitte geworden war, einer oder der andere Gast mit uns speiste. Man aß eine Suppe, einen Braten, trank Bier und damit war die Sache abgethan; und selbst wenn größere Gesellschaften geladen wurden, für welche eine entsprechende Veränderung gemacht werden mußte, sah man nur darauf, daß Alles, was dargeboten wurde, gut war, nicht daß Vielerlei und Ungewöhnliches gegeben wurde.

Aber eben dadurch war es den Menschen behaglich bei uns. Sie sahen, daß sie nicht belästigten, und daß sie zwanglos und mit Freude aufgenommen wurden. Der Vater hatte uns aus einem der Lagerräume ein Zimmer einrichten lassen, das sich als Eßstube bequem an die übrigen Stuben anreihte, die Service, die Gedecke, das Silber waren erneut worden, und uns Töchtern wurde für unsere Garderobe alle wünschenswerthe Freiheit gewährt, denn beide Eltern hatten Freude daran, uns wohlgekleidet zu sehen. Hie und da machte wohl Einer unserer Verwandten die Bemerkung, daß solcher relativer Toilettenluxus uns verwöhne; indeß die Eltern waren der Meinung, daß Entbehrung den Anreiz zu den Dingen steigere, und daß in der Regel die Mädchen und Frauen, welchen in der Jugend die Möglichkeit gefehlt hatte, ihrer Neigung für Putz und Schmuck zu genügen, in späteren Jahren weit größeren Werth darauf legen, als diejenigen, welche dieselbe befriedigen können; und so weit es ihre sechs Töchter betraf, hatten die Eltern sich darin nicht getäuscht.[155]

Ich für mein Theil liebte die Gesellschaft und liebte den Putz eigentlich mehr als alle meine Schwestern. Die geistige Bewegung durch das Gespräch, die körperliche Bewegung durch den Tanz waren mir Zerstreuung, Erfrischung, ja recht eigentlich ein Bedürfniß, und ein Mittel, meiner selbst froh zu werden, denn ich fühlte mich für den Verkehr mit Menschen und für den geistigen Austausch geschaffen. Es machte mir auch große Freude, mir einen hübschen Anzug auszudenken, und noch größere Freude, mir in demselben zu gefallen. Ich konnte mich mit einer Befriedigung, die halb der Eitelkeit und halb einer künstlerischen Lust angehörte, in aller Ruhe am Spiegel stehend, lange betrachten, und ich that das in jenen Zeiten niemals lieber, als wenn ich mich recht elend fühlte.

Mit der selbstquälerischen Wollust der Leidenschaft klagte ich dann mein Schicksal an. Ich gestand mir, daß ich gut aussehe, ich wußte im Voraus, daß Dieser und Jener es mir sagen, daß ich gefallen würde, und ich hatte dann einen wahren Zorn darüber, daß mein Vetter dafür nicht das rechte Auge gehabt, und wieder einen andern Zorn gegen Diejenigen, denen angenehm zu sein ich sicher war. Ich fand einen Trost darin, mir vorzuhalten, daß ich in jedem Betrachte geliebt zu werden verdiene, und mich vor mir zu erheben, um es doppelt hart und unbegreiflich zu finden, daß ich von dem Gegenstand meiner Liebe so verschmäht ward. So thöricht der Heine'sche Ausspruch: »ich wollte unendlich glücklich sein oder unendlich elend, und jetzo bin ich elend!« auch klingen mag, er drückt die Maßlosigkeit jugendlicher[156] Leidenschaft vortrefflich aus, und ich habe ihn mir oft genug vorgesagt, wenn ich mit farbenstrahlenden Kränzen im Haar, zum Balle geputzt, mein Zimmer verließ. Jetzt weiß ich, daß in jenem Empfinden noch ein Theil von Selbstbetrug verborgen lag; aber man macht sich von demselben nur sehr schwer und erst bei völliger Reife frei, und ich war in der That recht übel daran.

Daß mein Vater, der meiner jugendlichen Neigung für Leopold so streng und selbstherrlich seinen Willen und sein Verbot entgegengesetzt hatte, mich ohne alle Hinderung, ja, ohne eine Anfrage oder Mahnung, meiner Leidenschaft leben ließ, ist mir jetzt nur dadurch erklärlich, daß er entweder die Kraft dieser Liebe unterschätzte, oder sie erkannte und in ihrer Stärke würdigte. In dem ersten Falle hätte es in seiner Weise gelegen, die Zeit walten zu lassen; in dem anderen würde er sich nicht in eine Lage gebracht haben, in welcher seiner väterlichen Gewalt Trotz geboten werden konnte; denn seine Gewalt über uns zu bewahren, sah er als seine erste Pflicht und sein Recht gegen uns an, so lange er die volle Energie seines Charakters behalten hat.

Mitten in diese Zeit voll innerer Kämpfe für mich brach plötzlich ein Ereigniß herein, das in Königsberg eine allgemeine Bestürzung, und auch über unsere Vaterstadt hinaus ein schlimmes Aufsehen erregte. Ich meine die Enthüllungen und Anklagen, welche gegen die Prediger Ebel und Diestel, und die von ihnen gestiftete religiöse Gemeinschaft erhoben wurden.

Ich habe in dem ersten Bande meiner Lebensgeschichte dieser Sekte bereits Erwähnung gethan, und den Prediger[157] Ebel als den in meiner Kindheit von mir sehr verehrten Religionslehrer unserer Schule bezeichnet. Von dem Unterricht an Schulen hatte er sich, wie ich glaube, nach dem Eingehen des Ulrich'schen Institutes, ganz und gar zurückgezogen, aber seine Wirksamkeit als Kanzelredner und Seelsorger hatte er immer eifriger und erfolgreicher fortgesetzt, und die Gemeinde, welche sich ihm und seinem Collegen Diestel angeschlossen, war mit den Jahren bedeutend gewachsen.

Ebel war Prediger an der altstädtischen, Diestel an der Haberberger Kirche, und der Letztere war zugleich Divisionsprediger. Die Diöcese des Ersteren umfaßte einen der mittleren Theile der Stadt, in welchem viele angesehene Kaufleute und Gewerbtreibende angesessen waren, während die Gemeinde der in der Vorstadt belegenen Haberberger Kirche sich zum großen Theile aus den Ackerbürgern der Vorstädte zusammensetzte. Indeß die Sekte, welche sich zu Ebel's Lehren bekannte, zählte nicht viel Gewerbetreibende unter ihren Anhängern, und hatte, so viel ich weiß, ihre eigentlichen Glieder nicht unter den Eingepfarrten der einen oder der anderen Kirche. Sie bestand vornehmlich aus Beamten, Theologen und Aristokraten, und war unter dem ostpreußischen Adel weit verzweigt. Zu diesem Kern der Gesellschaft gehörten denn auch noch eine Menge alter Mädchen. Es waren unter diesen mehrere Fräulein aus alten Kurländischen und Lievländischen Adelsgeschlechtern, einige Töchter reicher, auswärtiger Kaufmannsfamilien, und verschiedene theils zum Christenthum übergetretene, theils noch unbekehrte Jüdinnen aus armen Familien. Eine nicht unbedeutende[158] Anzahl von Handwerkern und armen Leuten reihten sich dem gebildeten Theile der Sekte als Hülfesuchende und Unterstützte an.

Da die stille Gemeinde Niemandem Etwas in den Weg legte, hatte man sich im Publikum nicht viel um sie gekümmert. Man begnügte sich damit, sie mit dem Spottnamen »Mucker« zu bezeichnen. Sprach man einmal von ihrem Glauben und Treiben, so hieß es, sie seien Anhänger und Nachfolger von Schönherr; und Schönherr, darüber war man einig, war ein halbverrückter Theologe gewesen, von dessen Ansichten es also gar nicht erst zu sprechen lohne. Man erinnerte sich lachend, wie der lange, blasse Mann mit seinem wallenden schwarzen Haar durch unsere Straßen gegangen, wie er mit den dunkeln, tiefliegenden Augen vor sich niedergesehen hatte, und man wußte auch, daß er in Memel zu Hause, und irgendwo in der Nähe von Königsberg vor nicht langen Jahren, das hieß zu Ende der zwanziger Jahre gestorben war. Die Mittelstände waren in jener Zeit in unserer Heimath ganz und gar nicht kirchlich. Um im Staate und Amte vorwärts zu kommen, brauchte man nur rechtschaffen und befähigt, aber nicht kirchlichfromm und dogmatisch-gläubig zu sein. Zu religiösen Spekulationen war man nicht aufgelegt, und die Mucker blieben also von der Masse entweder unbeachtet, oder sie wurden von ihr verlacht.

Jedermann kannte Ebel und kannte den Divisionsprediger Diestel, der rasch und rüstig aussah, wie ein verkleideter Husarenführer, und Jedermann konnte einen Mucker und eine Muckerin auf den ersten Blick von jedem[159] anderen Manne und jeder anderen Frau unterscheiden. Es waren nicht blos die langstreckigen altmodischen Röcke und Fracks, und die schmalen weißen kandidatenhaften Halstücher der Männer, es war auch nicht das gescheitelte Haar und die geflissentliche Unscheinbarkeit in der Kleidung der Frauen, es waren eine ganz besondere, Allen gemeinsame Physiognomie und Haltung, welche sie kennzeichneten. Ihr Blick schien die Dinge dieser Welt, wenn diese ihnen nicht angehörten, gar nicht zu sehen, sie konnten sich in der Masse bewegen, als wäre diese nicht vorhanden, sie konnten in einer ihnen nicht zugehörenden Gesellschaft dasitzen, als hörten sie nicht, oder als vernähmen sie Himmelsstimmen, die für andere Ohren nicht vorhanden waren. Ein Ausdruck stiller Versunkenheit in sich, und tiefen Mitleids mit den übrigen Menschen, lag über ihren Mienen ausgebreitet, und selbst ihre Ausdrucksweise und ihre Organe hatten ein besonderes, Allen gemeinsames Gepräge, obschon von eigentlichen pietistischen Phrasen oder von der Redeweise der Herrenhuter bei diesen gebildeten Menschen keine Spur zu merken war.

Traf man eine solche Persönlichkeit in einer ihr fremden Umgebung, so wurde der Eindruck derselben, obschon sie sich dann sehr vorsichtig zurückhielten, leicht komisch. War man aber in einem ihrer Kreise, so daß das Wesen des Einzelnen sich nicht in Disharmonie mit den übrigen Menschen befand, so machten sie auf mich fast immer und fast durchweg einen angenehmen Eindruck. Sie hatten formvolle Manieren, was sehr erklärlich war, da sie meist der gebildetsten Gesellschaft angehörten; sie[160] drückten sich, Männer sowohl als Frauen, im Gespräch vortrefflich aus, und die Unterhaltung hatte immer einen ernsten Hintergrund. Ich habe, wie früher bemerkt, nicht nur Ebel und Diestel, sondern eine große Anzahl ihrer Anhänger gekannt, und Einige von ihnen von Herzen lieb gehabt, denn es waren gute, nach einem Ideale strebende und zum Theil sehr bedeutende Menschen, die weit über die Masse des Gewöhnlichen emporragten.

Nie habe ich von einem der Ebelianer jenes leichtfertige Gerede gehört, mit welchem man sich sonst wohl die Zeit zu vertreiben pflegt. Viele von ihnen waren sehr bewandert in der deutschen und englischen Literatur, Andere zeichneten und malten vortrefflich, und Kunst und Literatur wurden von ihnen, wie es sich eigentlich überall von selbst verstehen sollte, nicht um ihrer selbst willen, sondern als Mittel zum Zweck, das heißt mehr um der versittlichenden Kraft, als um der bloßen Schönheit willen geliebt und geschätzt. Der Sinn für das Erhabene und Edle war in ihnen sehr rege und fruchtbringend für sie selbst und für Andere durch sie.

Daneben waren sie im höchsten Grade hilfreich untereinander, und zugleich die ersten Menschen, von denen ich eine wahrhaft heilige und selbstverleugnende Armenpflege habe ausüben sehen. Sich selbst Etwas zu entziehen, um es Aermeren zuzuwenden, waren sie immer geneigt, und ich habe von ihnen großartige Akte der Selbstverleugnung erlebt. So erinnere ich mich, daß eine nervenschwache, im hohen Grade für das Schöne empfängliche Frau, sich durch eine lange Zeit von einer alten Person bedienen ließ, die schwer am Krebse litt[161] und deren Gesicht fast nur Eine Wunde, deren Nähe für Andere kaum zu ertragen war. Als ich bei dem ersten Anblick der Unglücklichen, vom Schrecken erfaßt, unwillkürlich zusammenschauderte, sah ihre Herrin mich mit ihren sanften, braunen Augen still und fürbittend an. Ich nahm mich zusammen so gut ich konnte, aber kaum hatte die Kranke das Zimmer verlassen, als ich mit den Worten herausfuhr: wie können Sie das ertragen? Das ist ja entsetzlich! – Ja! entgegnete sie mir, es ist mir auch schwer geworden, mich daran zu gewöhnen. Aber Einer muß sich der Armen doch annehmen und sie um sich dulden, damit sie sich nicht selbst als einen Gegenstand des Abscheues zu fühlen beginnt. – Und das wurde ohne allen erklärenden Zusatz, das wurde ohne eine schönthuende Phrase mit jener erhabenen Einfachheit gesagt, die alles dasjenige als natürlich voraussetzt, was einmal als Pflicht erkannt worden ist. Und solche Züge standen nicht vereinzelt da!

Ich hatte Ebel, so lange er mein Lehrer gewesen war, immer mit großer Genugthuung sprechen und predigen hören; Herr von Tippelskirch, dem ich den besten Theil meines Schulunterrichts und in gewissem Sinne meine ganze Richtung verdankte, war einer seiner Anhänger. Mathilden's ganze Familie und sie selbst hielten sich zu Ebel, ich war mit Mathilde öfter in dem Hause ihres Schwagers, des Grafen Kanitz gewesen, der mit seiner Frau zu Ebel's vertrautesten Freunden gehörte; ich kannte überhaupt eine Menge Menschen aus der Gemeinde, aber Alles, was ich je von ihnen gesehen und gehört hatte, war tadellos, ja es war im Grunde besser, als das[162] Thun und Treiben der meisten anderen Leute, denn es war ernst und planvoll zusammenhängend.

Da verbreitete sich eines Tages die Nachricht, Professor Olshausen, der sich früher zu den Ansichten Ebel's bekannt, habe sich schon vor längerer Zeit von demselben losgesagt, ein Gleiches habe Herr von Tippelskirch gethan, und diese Beiden, im Verein mit dem Schwager des Letzteren, einem Grafen Fink von Finkenstein, dessen Frau eben so schön als von dem fleckenlosesten Rufe war, hätten Aussagen gegen die Prediger Ebel und Diestel gemacht, welche deren sofortige Suspension vom Amte zur Folge gehabt hätten.

Mit dieser Nachricht drangen auch Gerüchte über das innere Treiben der Ebel'schen Gemeinde in das Publikum, die eine allgemeine Bestürzung erregten. Unter dem Deckmantel der Religion, unter der Maske der Heiligung sollten grobe Unsittlichkeiten von den Muckern verübt, ja zur Lehre erhoben worden sein. Diese Gerüchte wuchsen von Tag zu Tag, und nun man darüber nachzusinnen und sich mehr darum zu bekümmern begann, wurde man einerseits gewahr, welch eine Ausdehnung die Gemeinde erlangt hatte, und anderseits gewannen manche Erscheinungen, welche man bis dahin nicht im Zusammenhang betrachtet und also als Einzelheiten übersehen hatte, mit einem Male eine Bedeutung.

Es fiel auf, daß so viele Mucker kränklich waren. Mädchen, welche sich gesund und frisch dem engern Kreise einverleibt, waren bald verblüht. Der lange, magere Hals der Muckerinnen war zu einem Scherzworte geworden. Man brachte nun mit einem Male diese Bemerkungen[163] mit der Anklage gegen die Sekte in Zusammenhang. Man behauptete, daß der Gemahl einer vornehmen Frau, welcher von dem Prediger Ebel Unehrbares zugemuthet worden, den ersten Anstoß zu den Enthüllungen seines Treibens gegeben hätte, und je mehr man im Ganzen durch den Vorfall aufgeregt war, um so thätiger war die Phantasie der Menschen, demjenigen, was allmählig von den Lehren und Uebungen der Sekte bekannt wurde, noch immer Schlimmeres hinzu zu setzen.

Es währte nicht lange, so wurde ein Kriminalprozeß gegen die beiden Geistlichen eingeleitet, und eine große Anzahl von Männern und Frauen, die man bis dahin zwar für überspannt und für Frömmler gehalten hatte, stand unter den schwersten Anschuldigungen gegen ihre Sittlichkeit vor den Schranken. Je länger die Untersuchungen dauerten, je weiter dehnten sie sich aus. Man vernahm die Aerzte, die Dienstboten der verschiedenen Familien; wohin man kam, hörte man, wenn auch mit der nothwendigen Zurückhaltung, von dem Prozesse sprechen, und selbst wir Mädchen, vor denen man diese Rücksicht besonders nahm, konnten nicht im Zweifel bleiben, um was die Anklage sich bewegte.

Der Eindruck, welchen das Ereigniß machte, war ein sehr trauriger und niederschlagender. Man sah eine Anzahl hochbegabter Männer und Frauen, in dem unleugbaren Streben nach einem hohen Ziele, in furchtbarer Weise von ihrem Wege abgekommen, und Verirrungen anheimgefallen, wie das unglückliche dualistische Princip, das dem Menschen seine Einheit geraubt hat, sie schon oftmals, und in den verschiedensten Jahrhunderten, unter[164] den verschiedensten Völkern hervorgebracht hat. Während die junge Literatur jener Epoche den Zwiespalt zwischen der menschlichen Natur und dem Sittengesetz dadurch auszugleichen oder aufzuheben versuchte, daß sie die sogenannte Emancipation des Fleisches predigte, war die theosophische Sekte dahin gekommen, die Heiligung des Fleisches durch den Geist anzustreben, und wenn die weltlichen Reformatoren mit der Emancipation des Fleisches folgerichtig auch zugleich à la Saint Simon die Emancipation der Frau und ihre Priesterschaft anerkennen mußten, so spielte auch in den Theorien der Mucker die Frau als Mitschöpferin und Werkzeug der göttlichen Gewalt eine große Rolle. Das Bedürfniß nach Einheit und Einigung des Seins war in den Geistern offenbar und überall vorhanden, aber man suchte die Lösung des Problems, wo sie nicht zu finden war, in den Gesetzen der Ethik, der Sozialpolitik und der Religion, und übersah den Weg, welcher allein im Stande ist zur Versöhnung der Menschennatur mit sich selber zu führen – die Naturgeschichte und die Naturwissenschaft.

Mir persönlich wurde der Prozeß nur zu nahe gebracht. Die ganze Familie von Derschau war tief in denselben verwickelt, und man rieth meinem Vater sogar von verschiedenen Seiten, meinen Verkehr mit meiner Freundin nicht weiter zu gestatten. Indeß sein Gerechtigkeitssinn und sein Zutrauen zu dem Mädchen, das ich liebte, wenn schon wir einander nicht mehr sein konnten, was wir uns einst gewesen, ließen sich nicht beirren, und wir sahen uns nach wie vor ganz ungestört. Mathilde blieb auch der ganzen Untersuchung fern. Ihre Gutmüthigkeit,[165] ihre Wahrhaftigkeit waren immer dieselben, aber ihre Seele verdüsterte sich mehr und mehr bei dem Hinblick auf die Verwickelungen, in welche ihre neuen Gesinnungsgenossen sich verstrickt hatten. Ihr Herz litt durch die von ihr selbst gewollte Trennung von dem Manne, dem sie sich früher zugesagt, und der es jetzt von ihr gefordert hatte, daß sie sich von der Ebel'schen Gemeinde förmlich lossagen solle. Wer sich aber selbst ertödtet, kann für Lebende nicht mehr viel sein. Wir lebten noch lange neben einander und sahen und sprachen uns öfter, bis ich viele Jahre später meine Heimath für immer verließ; indeß es lag schon vorher eine Welt zwischen uns. Wir erreichten uns nur noch mit dem Tone der Stimme, aber die Worte hatten für uns verschiedene Bedeutung bekommen, wir verstanden einander weniger und weniger und waren für einander bereits todt und gestorben, als wir noch immer in ihrer oder in meiner Stube an den altgewohnten Plätzen beisammen saßen.[166]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 2, Berlin 1871, S. 150-167.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Meine Lebensgeschichte
Meine Lebensgeschichte (1; V. 3); Von Fanny Lewald
Meine Lebensgeschichte (2-3); Von Fanny Lewald
Meine Lebensgeschichte (1)

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Miß Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Miß Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Die tugendhafte Sara Sampson macht die Bekanntschaft des Lebemannes Mellefont, der sie entführt und sie heiraten will. Sara gerät in schwere Gewissenskonflikte und schließlich wird sie Opfer der intriganten Marwood, der Ex-Geliebten Mellefonts. Das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel ist bereits bei seiner Uraufführung 1755 in Frankfurt an der Oder ein großer Publikumserfolg.

78 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon