Fünfzehntes Kapitel

[250] Für mich hatte die Begegnung mit den weiblichen Bühnenkünstlerinnen noch eine ganz besondere Bedeutung, weil sie mir das Bild einer Unabhängigkeit und einer persönlichen Freiheit vorführte, nach denen meine ganze Seele trachtete. Stundenlang konnte ich es mir bei meinem Nähen und Stricken ausmalen, welch eine Wonne es mir sein würde, unabhängig zu sein, einen selbstständigen Beruf zu haben, wie diese Frauen. Als ihr Onkel Crelinger die hübsche Clara Stich einmal neckend ausschalt, antwortete sie ihm lachend: »So darfst Du mit mir nicht sprechen, ich bin Hofschauspielerin, ich bin ein königlicher Beamter!«

Das hatte ihr gut gestanden, hatte allgemeines Lachen erregt. Ich aber, älter, reifer, ernster als sie, beneidete es ihr, daß sie dies sagen konnte, daß sie Etwas für sich selber war, daß sie erwerben, über ihren Erwerb frei verfügen, sich und Andern eine Freude machen konnte, ohne dazu fremdes Geld und eine besondere Erlaubniß nöthig zu haben. Dann kamen wieder andere Stunden, in welchen ich die Schauspielerinnen glücklich pries, weil sie zur Erscheinung bringen konnten, was in ihnen lebte. Es war meine Liebe, welche mir diese Möglichkeit besonders[250] wünschenswerth machte. Ich stellte es mir als das höchste Glück vor, auf irgend eine Weise dem geliebten Manne die ganze Fülle und Leidenschaft der Liebe, die ich für ihn im Herzen trug, kund geben zu können, ohne daß ich sie ihm selber in klaren Worten ausspräche. Ich meinte, die Dichtungen noch ganz anders beleben, mit einem andern Geiste, mit einer andern viel tiefern Wärme wiedergeben zu können, als diese hübschen Kinder. Ich konnte es mir mit den lebhaftesten Farben ausmalen, wie mir zu Muthe sein würde, wenn ich auf der Bühne stände, wenn der Geliebte unter dem Publikum säße, wenn ich ihm sagen könnte, wie ich ihm zu eigen wäre, wenn alle Welt mich bewunderte, mir Beifall zuriefe, und er allein es wüßte, daß ich dies Alles nur für ihn gesprochen hätte, daß ich diesen Beifall, diese Anerkennung, diese Bedeutung nur erstrebte, um sie ihm als Huldigung zu Füßen zu legen.

An andern Tagen beschäftigte mich die Königin Viktoria, und sie däuchte mir das glücklichste Weib der Welt. Jung zu sein, die Krone des größten Königreichs der Erde zu tragen, und sich selbst und mit sich selbst eine Königskrone und jedes denkbare Glück dem Manne hingeben zu können, den man liebte, das war eine Idee, das mußte eine Glückseligkeit sein, die mich schwindeln machte. Ich war in einem beständigen Phantasiren bei den allerbürgerlichsten und häuslichsten Verrichtungen, und doch kam ich nicht auf den Einfall, meine Phantasien zu einem selbstständigen Ganzen zu gestalten, und in dieser Reproduktion dem Geliebten ein Zeichen meiner Liebe zu geben. Meine Empfindung war mir zu heilig, ich war[251] auch viel zu verzagt, um mir ein Talent zuzuerkennen, das mich zu dichten befähigte, und meines Vaters immer wiederholter Ausspruch, daß die Frau nur für das Haus geboren sei, hatte doch so weit auf mich zurückgewirkt, daß ich niemals ernstlich an die Verwirklichung der Träume dachte, welchen ich mich trotzdem fortwährend überließ.

Wenn ich mich mit Sinnen und Vorstellen ermüdet hatte, wenn den hochfliegenden Wünschen die entmuthigte Ermattung folgte, so verlor ich mich in Grübeleien über das, was das Christenthum die göttliche Vorsehung und die göttliche Gerechtigkeit nennt, und was ich mir damals als Schicksal, und als Ausgleichung innerhalb des Schicksals bezeichnete. Ich fragte mich: warum bin ich nicht schöner? Warum bin ich nicht liebenswürdiger? Warum habe ich keine Vorzüge, die Heinrich lieben muß, da ich doch nicht anders kann, als ihn lieben und seine Gegenliebe begehren? Warum bin ich hier an diesem Platze? Warum in Verhältnissen, in denen Alles, was ich als das Beste in mir erkenne, was ich in mir hegen und pflegen möchte, eigentlich ein Ueberflüssiges, wenn nicht gar ein Lästiges ist? Warum wird mir anderseits ein Familienleben zu Theil, das Hunderte mir beneiden mögen, und das mich nicht mehr glücklich macht, aus dem ich mich fortsehne mehr und mehr?

Ich hatte keine Antwort auf diese Fragen, und darum lasteten sie mir nur um so schwerer auf dem Herzen. Ich quälte mich unablässig, wurde immer mehr mir selbst entfremdet, und machte mich krank und elend, während der Gegenstand meiner Liebe sich immer gesünder und freier herausbildete, und kaum eine Vorstellung davon[252] haben konnte, wie unglücklich ich mich fühlte. Wenn ich in meiner Stube saß, und bei meiner Näherei, oder meinem Lesen seiner dachte, war er mit Arbeiten beschäftigt, die seine ganze Kraft in Anspruch nahmen, ja sie hoben.

Heinrich Simon war Assessor geworden und als solcher erst bei dem Kammergerichte in Berlin, dann bei dem Oberlandesgerichte in Magdeburg angestellt worden. – »Meine hiesige Beschäftigung,« schrieb er mir einmal aus Magdeburg, »spricht mich an. Beim Kammergerichte, wo ich nicht viel zu thun hatte, lebte ich nur dem Vergnügen; hier fast nur der Arbeit; aber es ist um das Rechtsprechen etwas Schönes, Edles, Großes! Es überträgt ein Gefühl der innern Würde, das mir bisher in Beziehung auf mein Amt fremd war. Daher habe ich die Absicht, mit der ich hierher kam, zur Administration überzugehen, wo das Vorwärtskommen leichter wäre, auch völlig aufgegeben. Ich mag die Erhebung nicht verlieren, die mir aus meinem Amte innerlich erwächst.«

Er schrieb mir unregelmäßig. Bald folgten sich seine Briefe schnell, bald mußte ich sie sehr lange erwarten. Im Herbste schickte er mir meist die Tagebücher von seiner Ferienreise, und ich hatte dann die Möglichkeit, ihm zu folgen und es nachzuleben, wie er voll Jugendlust durch die Berge zog, ihre Höhen bestieg, mit Leuten aller Stände verkehrte, und mehr und mehr das Leben wieder als ein Glück, das Dasein als einen Genuß zu empfinden begann. Ich erfreute mich darüber, ich war glücklich, wenn ich aus seinen Tagebüchern und Briefen ersah, wie er in jedem Sinne vorwärts schritt, ich konnte mir ihn vorstellen, wie er in dem oder jenem Augenblicke[253] ausgesehen, wie er gesprochen, wie seine Stimme geklungen haben müsse. Ich war unermüdlich, mir alle die Möglichkeiten zu durchdenken, welche uns zusammenführen könnten; die Liebe macht eben Jeden zum Dichter. War ich einmal muthlos, so bewies ich mir, daß ein Mann, der einem Mädchen nach so langer Trennung noch den vollen Antheil an seinem Leben darbiete, es nothwendig lieben müsse; und wenn ich vielleicht vor Ankunft seiner Briefe mich mit einer nothdürftigen Entsagung zu beschwichtigen versucht hatte, so saß ich bald nach Empfang der Briefe an meinem Schreibtisch, und brachte ihm die ganze Fülle meiner Liebe dar, ohne daß das Wort jemals genannt wurde, und war glücklich darüber, daß meine Briefe ihn erfreuten, und daß ich ihn lieben durfte und konnte.

Fünf Jahre gingen so hin, und fünf Jahre sind so lang, wenn man jung ist! Jedes Jahr grub den Stachel dieser Leidenschaft tiefer in mein Herz. Ich konnte mir keine Antwort mehr geben auf die Frage, was aus mir werden solle, wenn er mich nicht liebte. Ich lernte es damals, was es heißt, einem Manne zu eigen sein. Zwischen einer Hoffnung und einer Enttäuschung schwebend, die für mich Glückseligkeit und Vernichtung in sich schlossen, hätte ich zu Grunde gehen müssen, wenn nicht ein unbewußter Selbsterhaltungstrieb und das Leben in einer großen Familie, mit all seinen Sorgen und Freuden, mit seinen Ansprüchen und seinen wechselnden Vorgängen, mir ein Gegengewicht geboten und mich gezwungen hätten, von mir selber abzusehen, wo es galt, für Andere, für die Meinen, Etwas zu leisten.[254]

Meine Brüder waren während dessen eine Zeit lang Beide durch ihre Berufsgeschäfte von Königsberg entfernt, und das wies mich, weil mir meine eigentlichen alten Lebensgenossen in ihnen entzogen wurden, mehr auf den Umgang mit meinen Schwestern an. Indeß sie waren, ganz abgesehen von der großen Altersverschiedenheit, welche uns trennte, in ihren Anlagen, in ihrer Richtung und in ihren Wünschen sehr von mir verschieden, und mein Vater hatte in ihrer Bildung und Erziehung die meine nicht wiederholt. Ich darf es sagen, daß er mich eben so achtete als liebte, daß er mich wie seine Stütze und seine Freundin behandelte. Er hatte es auch nach dem einen Versuche, gewaltsam in mein Leben einzugreifen, nie wieder unternommen, mir Etwas zuzumuthen, was gegen meine Natur war; aber es mochte ihm in jenem Falle unbequem geworden sein, mich nicht so »traitabel« gefunden zu haben, als es ihm nach seinen Ansichten wünschenswerth gewesen wäre, und die Schwestern wurden deßhalb weniger zur Selbstständigkeit genöthigt, wurden im Ganzen milder behandelt, mehr ihren Neigungen und mehr der Leitung unserer Mutter überlassen, an der sie von ganzem Herzen hingen. Sie wurden sorgfältig unterrichtet, das musikalische Talent der Aeltesten sehr gepflegt; indeß keines von den in jener Zeit erwachsenen Mädchen besaß jenes Streben nach allseitiger Ausbildung, jenen Drang Etwas aus sich zu machen, der mich von meiner ersten Kindheit an beseelt hatte. Ich blieb also mit meiner ganzen Richtung und meinem Streben unter ihnen allein, und ihnen damals in demselben fremd. Sie waren hübsche, liebenswürdige[255] Mädchen, und sind alle drei wackere Gattinnen und Mütter geworden, die sich, Jede innerhalb der ihr zu Theil gewordenen Lebenssphäre, in wechselnden und oft schweren Lebenslagen versucht und wohl bewährt haben.

Trotz der zwischen uns Schwestern obwaltenden großen geistigen Verschiedenheit, sprach mein Vater es aber beständig aus, daß alle seine Kinder in seinem Hause gleiche Rechte und gleiche Ansprüche hätten, daß mein Aeltersein mir kein Anrecht und keinen Vorzug gebe, daß alle Autorität in den Händen der Eltern ruhe und darin bleiben müsse; und diese Theorie, welche durch die Nothwendigkeit der Sache alltäglich ihren praktischen Gegenbeweis erfahren mußte, verstimmte mein Verhältniß zu den Schwestern vollends.

Es ist sehr schwer, von den vielen kleinen Einzelnheiten und Irrthümern ein Bild zu geben, aus welchen sich in solchen Verhältnissen die Störungen des Familienfriedens herleiten; schwerer noch, es begreiflich zu machen, wie ein Familienleben und eine Häuslichkeit, in welcher sich Alle durch feste, tiefe Liebe verbunden fühlten, und welche Jedem als ein Glück erschienen, ja überall als ein Muster genannt wurden, für ein einzelnes Glied dieses Verbandes allmählig zu einer Quelle ganz unerträglichen Druckes werden können, ohne daß dessen Liebe für die Seinen und dessen Anhänglichkeit für das Haus dadurch erschüttert werden. Und doch war dies mein Fall.

Jene Uebel, unter welchen ich im Vaterhause schon früh gelitten hatte, traten mit den Jahren nur um so deutlicher hervor. Meiner Mutter Gesundheitszustand war seit meiner Rückkehr von Breslau selten ein guter[256] gewesen. Sie litt an einem Halsübel, das allmählig in Halsschwindsucht überging. Ihre Stimmung war dadurch leicht getrübt, ihre Nerven so reizbar, daß man, selbst mit dem besten Willen, sie nicht leicht zufrieden stellte. Das Wohlbefinden, die Zufriedenheit, die Erhaltung der Mutter waren unseres Vaters einziges Bestreben, und damit doppelt der Mittelpunkt für unser Thun und Treiben. Jede unnöthige Aufregung, jede Sorge sollte ihr wo möglich erspart werden. Von der vielen Noth, welche unseres zweiten Bruders leidenschaftliche Natur uns machte, von seinen Tollheiten und Uebertreibungen erfuhr sie so wenig als möglich, und wenn es sein konnte, erst dann, wenn Alles überwunden war.

Einmal, als er noch in Königsberg gelebt, hatte er auch wieder ein Duell gehabt und eine schwere Verwundung erlitten. Der ältere Bruder kam mit der Nachricht, daß Moritz schwer verwundet sei, zu dem im Comtoir und in seiner Arbeit vergrabenen Vater. Mein Vater wurde blaß. Ist er sehr entstellt? fragte er. Der Hieb hat nicht das Gesicht getroffen, die Hand ist durchgeschlagen! antwortete mein Bruder. Gott sei Dank! rief der Vater aus. – Der Bruder bemerkte, voraussichtlich werde die Hand nicht zu retten, und damit die drei Jahre medizinischer Studien und die ärztliche Carriere für Moritz verloren sein. »So wird er etwas Anderes studiren! versetzte der Vater mit wiedergekehrter Ruhe. Ich werde gleich hinkommen. Bringt ihn dann bald nach Hause, damit die Mutter ihn sieht und sich nicht mehr als nöthig erschreckt, und Fanny soll die Vorkehrungen für ihn treffen.« Das geschah denn auch. –[257] Meine Mutter saß unter der Markise auf dem Wolm, als der Wagen vorfuhr. Obschon Moritz beide Arme in Binden hatte, weil man ihm, nach dem Verband der Wunde, am andern Arme zur Ader gelassen hatte, eine Entzündung zu verhüten, gewann er es über sich, mit einem Satze aus dem Wagen auf die Treppe zu springen, um der Mutter die Sache als nicht gefährlich darzustellen, und nur seine Blässe und das Blut auf seinem Hemde, das der abfallende Mantel zeigte, verriethen ihr was vorgefallen war.

Ich erzähle dieses Ereigniß, weil es die Art und Weise darthut, in welcher man für die Mutter sorgte, und die Stellung, welche ich natürlich einnehmen mußte. Wer aber in besondern Lebenslagen genöthigt ist, das Steuer in die Hand zu nehmen, greift bald unwillkürlich dazu, wo es Noth thut, und in einer Familie, in welcher die Kinder erwachsen und in das Leben eintreten, ist eine stets aufmerksame und feste Leitung derselben doppelt unerläßlich. Es gab zwischen mir und dem Vater über die Entwicklung und Erziehung der jüngern Schwestern bald dies, bald jenes zu berathen. Hier mußte angefeuert, dort Einhalt gethan werden, und alle Besprechungen über solche Dinge regten die Mutter weit mehr auf, als sie es verdienten. So lange der älteste Bruder im Hause gewesen war, hatte er den Vermittler gemacht. Ihm erkannten Mutter und Schwestern, wie die meisten Frauen, schon weil er ein Mann war, bereitwillig eine Ueberlegenheit zu, und er mochte auch versöhnlicher dabei zu Werke zu gehen wissen, als ich. Mein Einschreiten dagegen sahen Mutter und Schwestern[258] stets als eine Anmaßung und Kränkung an. Die Erstere konnte es nicht vergessen, daß ich ihr Kind war und daß sie mir eigentlich überlegen sein müsse, die Letztern waren trotz ihrer Erwachsenheit noch unfertig genug, den Ausspruch meines Vaters, daß seine Kinder einander Alle gleich seien, zu wörtlich zu nehmen, und ich selber hatte damals noch jene einfältige Wahrhaftigkeit, die das Rechte als Recht durchführen, und durch Ueberzeugung und auf dem gradesten Wege an ihr Ziel gelangen will. Mir war, so lange ich erzogen wurde, von meinem Vater und von meinen Lehrern ohne Weiteres befohlen worden, ich hatte die guten Folgen davon an mir verspürt, ich meinte also den Andern leisten zu müssen, was mir zum Heile gereicht hatte, und hielt sie und mich für zu gut, sie zu behandeln, und behandelt zu werden, wie wir unsere kranke Mutter behandeln mußten.

Mit all meinem guten Willen brachte ich es aber doch nur dahin, von meinen Schwestern für herrschsüchtig gehalten zu werden. Die dahinzielenden Aeußerungen fanden durch die Mutter sicher keine Widerlegung. Daß ich mich nicht verheirathete, daß ich, wie es viele verständige Leute nannten, mein Leben in einem thörichten Liebesverhältniß verschwendete, gereichte mir in den Augen der jungen Mädchen, denen solch ein Liebesverhältniß als ein schweres Unrecht angerechnet worden wäre, auch nicht zum Vortheil; und mit einer gewissen Mißstimmung gegen mich setzte sich in ihnen der Glaube fest, daß mein Vater mich vorziehe, mir zu viel Gewalt einräume, und daß ich kein Recht habe, sie leiten zu wollen, da ich mein eigenes Dasein ja zu keinem ersehnten Ziele zu führen wisse.[259]

Das Alles wurde nie ausgesprochen, ja ich möchte behaupten, die Mädchen selbst hatten kaum ein klares Bewußtsein über ihr Empfinden; aber die Wirkung desselben trat mir, da ich scharf beobachtete und fein fühlte, in tausend unscheinbaren Thatsachen, in kleinen Aeußerungen und hingeworfenen Bemerkungen schmerzlich entgegen; und ließ ich es mir beikommen, dem Vater Etwas davon zu sagen, so erhielt ich regelmäßig den Bescheid: »was Dir widerfährt, ist einzig Deine Schuld. Je überlegener man Andern ist, um so weniger kann man durch sie leiden, wenn man sie richtig und liebevoll behandelt. Hältst Du es für möglich, daß Du nicht von meinem guten Willen für Dich überzeugt sein könntest? oder umgekehrt, daß Du mich kränken oder ich mich von Dir beleidigt glauben könnte? Je mehr Du Dich der Mutter und den jüngern Schwestern überlegen fühlst, um so nachsichtiger und geduldiger mußt Du werden. Du hast in der Sache fast überall Recht, Du verfehlst es nur in der Form. Denke, was der Dichter von den Frauen sagt: durch Sanftmuth herrschen sie! Du sollst und mußt mir helfen, aber Du kannst es nicht, wenn man es merkt. Lerne herrschen, ohne es zu zeigen, lerne Dich damit begnügen, daß das Rechte geschieht, gleichviel aus welchen Gründen und auf welche Weise, wenn es nur geschieht; und vor Allem gieb es auf, Deinen Willen schnell durchzusetzen. Ein Tropfen höhlt einen Stein aus, und Du kennst ja das Mährchen von der Frau, die durch Geduld einen Löwen bezähmt hat. An allen Deinen Leiden trägst Du selbst die Schuld!«

Indeß so fest sich mein Vater uns gegenüber immer[260] behauptete, so hatte er selbst es doch nöthig, sich allmählig in ein neues Verhältniß zu uns einzuleben, seit wir erwachsen waren. Er mochte sich mit dem Glauben geschmeichelt haben, daß es ihm möglich sein würde, seinen Kindern alle Vortheile eines weitern Lebenskreises, alle Vortheile der modernen Bildung zu eröffnen, und daneben das patriarchalische Verhältniß aufrecht zu erhalten, innerhalb dessen er uns erzogen. Er hatte gewünscht, uns zu freien, selbstständigen Menschen zu erziehen, hatte unser Ehrgefühl, unser Selbstgefühl auf jede Weise genährt, und das Gepräge seines eigenen selbstbestimmten Charakters war, je nach unserer Individualität, an den Einzelnen mehr oder weniger stark erkennbar. Nun fiel es ihm auf, wenn sich an seinen Kindern die Folgen dieser Erziehung bemerkbar machten, wenn wir, trotz aller Liebe für die Eltern, unsere Selbstbestimmung in den Fällen zu wahren suchten, die unsere innere Nothwendigkeit und unser eignes Schicksal betrafen. Er freute sich, daß wir reif geworden waren, und gab seine unbedingte Herrschaft über uns, wenn auch nur mit innerm Widerstreben, ja mit Selbstüberwindung auf. Er lieferte damit den stärksten Beweis für die Klarheit seines Verstandes und die Größe seines Herzens. Er gab Rechte auf, um die Liebe freier Menschen zu gewinnen.

Erörterungen, wie die vorhin erwähnte, waren zwischen dem Vater und mir äußerst selten, aber sie trafen und überzeugten mich darum um so tiefer, und wenn mein Vater mich dann küßte, und mich sein liebes ältestes Kind nannte, so war ich auch so durchdrungen von meinen Fehlern und Irrthümern, und so fest entschlossen,[261] mich zu ändern und Alle zufrieden zu stellen, daß ich dann mit großem Ernste an den Kampf gegen mich selbst ging, und in der Selbstüberwindung und in jedem Zeichen von Liebe und Zufriedenheit, das mir von den Meinen entgegengebracht wurde, einen Lohn fand, der mir zeitweilig das Zusammensein mit ihnen, und das Leben im Vaterhause als einen Segen, ja fast als ein Unentbehrliches erscheinen ließ.

Dazu litten meine Schwestern ebenso wie ich von der Nervosität unserer armen Mutter, wenn sie schon bei ihrer Jugend es nicht ganz so schwer und tief empfinden konnten als ich es that. Es ist nichts Leichtes, einem Menschen zu genügen, der ganz ohne geistige Interessen, also ohne alle Fähigkeit ist, sich selbst auch nur eine Stunde angenehm und förderlich zu beschäftigen. Wer an nichts Großes, an nichts Ernstes zu denken hat, verfällt nothwendig auf Kleinliches, und wer in sich selbst kein Bedürfniß nach innerer Ruhe und nach Sammlung hat, läßt Andere auch nicht dazu kommen, und verbreitet zuletzt Unruhe rings um sich her.

Meine Mutter mußte es allmählig aufgeben, sich in der Wirthschaft selbst zu betheiligen. Sie durfte nicht mehr so viel Treppen steigen, nicht in den zugigen Hausfluren umhergehen, und es war daher nothwendig geworden, daß sie derjenigen Tochter, welche den Wirthschaftsmonat hatte, die Schlüssel und das Wirthschaftsgeld überließ. Mein Vater hatte ihr bewiesen, daß wir auf diese Weise das Haushalten erlernten, wir hatten auch Alle die Anlage dazu, fügten uns natürlich jeder Anordnung der Mutter, und diese behielt sich nur die Aufsicht[262] über die Wäsche, über das Nähen, und über die Garderobe der jüngern Schwestern vor; denn ich und die älteste Schwester erhielten seit Jahren das für unsere und für die damaligen Verhältnisse reichliche Garderobegeld von sieben Thalern monatlich, mit dem wir für unsere Toilette zu sorgen hatten, während die Wäsche uns von der Mutter angeschafft wurde.

Es war dies für uns eine höchst nützliche und äußerst bequeme Anordnung. Wir lernten uns einrichten, lernten sparen um die Andern beschenken zu können, blieben in der Gewohnheit uns aus Sparsamkeit Alles, was wir konnten, selbst zu machen, und schafften uns dadurch immer noch ein kleines Kapital für besondere Fälle. Indeß meiner Mutter wurde auf diese Weise ein großer Theil ihrer frühern Thätigkeit entzogen, und sie wußte, grade wenn sie sich verhältnißmäßig wohl befand, gar Nichts mit sich anzufangen. Feine Arbeiten, zu welchen wir ihr Lust zu machen suchten, waren ihr nicht geläufig, und was sie davon erlernte, ertrugen ihre Augen nicht lange. Nähen und stricken konnte und sollte sie nicht immerfort, was sollte also geschehen, da sie auch keine Freude am Lesen und Vorlesen hatte? Sie mußte dahin gelangen, sich in Unnützem Beschäftigung zu suchen, sie mußte andere Menschen in Bewegung setzen, da eigene Thätigkeit für sie leider nicht mehr, wie sie es wünschte, möglich war.

Hatte sie einmal mehr als gewöhnlich gelitten, so war diese stille Unruhe immer am schlimmsten. Sie wollte dann für ihren Haushalt an Sorgfalt einbringen, was sie an ihm in der Krankheit nach ihrer Meinung hatte[263] versäumen müssen, und des nutzlosen Schaffens war dann kein Ende. Drei weibliche Dienstboten, vier müssige erwachsene Töchter und eine Näherin, welche fast täglich in das Haus kam, weil sie der Mutter angenehm war, wurden dann um Nichts und wieder Nichts in Bewegung erhalten. Es war ein ewiges leises Hin- und Hergehen, ein stilles Treppenlaufen, ein vorsichtiges Aufräumen, ein tägliches Nachsehen der Wäsche, ein Reinigen der Vorrathskammern, was im Grunde Alles überflüssig war, weil wir Schwestern, Dank der mütterlichen Erziehung, ordentlich waren und das Unsere im Haushalt thaten. Die Dienstboten wurden allmählig verdrießlich, und in dieser Verdrießlichkeit lässig oder unhöflich; das wurde heftig getadelt, der Streit mit ihnen, der Dienstbotenwechsel blieben nicht aus, und wir hatten deßhalb eine weit schlechtere Bedienung als in den Jahren, in welchen man denselben weit mehr Arbeiten um geringeren Lohn auferlegen müssen. Verdruß und Widerwärtigkeiten machten dann die Mutter unwohl, es war kein Herauskommen aus dem Labyrinthe, und dabei hatte man die Mutter beständig zu bemitleiden, denn sie klagte, daß sie überflüssig sei, und war oft wirklich sehr unglücklich über ihre Lage.

Ich meinerseits fühlte mich in diesem Treiben förmlich erniedrigt. Ich konnte es nicht aushalten, ein Pack Wäsche fortzuräumen, wenn im nächsten Augenblicke mir die Näherin nachgeschickt wurde, um zu sehen, ob es auch so geschehen sei, wie es angeordnet worden; ich fand es unerträglich, Verrichtungen zu übernehmen, von denen die Mutter in der Regel behauptete, so gut wie die Näherin mache es Niemand. Was mich als Kind schon gepeinigt[264] hatte, das wurde mir jetzt zu einer Marter; denn für wirklich thätige Menschen sind eifrige Arbeit und gänzliche Ruhe ein Genuß, unnütze Geschäftigkeit eine Qual; und ich war oft völlig verzweifelt über ein Leben, das mir lästig war, und Niemandem zu frommen schien. – »Komm! wir wollen in's Theater gehen!« pflegte an solchen Tagen meine älteste, sehr leichtlebige Schwester mit komischer Entschlossenheit auszurufen. »Der Vater erlaubt's gewiß, und wir haben dann drei Stunden Ruhe!« –

Solchen Epochen der Rastlosigkeit folgten bei der Mutter meist Zeiten der größten Nervenschwäche, in welcher jedes Geräusch, das leiseste Sprechen, das Umwenden eines Blattes beim Lesen ihr beschwerlich waren. Der Vater verlangte dann unbedingtes Nachgeben für sie. Unser treuer Hausarzt, Doktor Kosch, beschwor mich, nicht darauf zu achten. Wenn der Vater ihn ersuchte, nicht so fest in dem Zimmer aufzutreten, nicht so laut zu sprechen, so machte der Doktor beim Fortgehen die Thüre mit Geräusch zu, und sagte mir draußen: »Ihrer Mutter Nervenleiden steigert Ihr Herr Vater durch seine Schwäche. Wenn das so fortgeht, werden Sie bald dahin kommen, Teppiche auf die Treppen und Tuchleisten zwischen die Thüren nageln zu lassen, und die Mutter wird dann noch mehr leiden. Sie als die Aelteste sind es selbst Ihrem Vater schuldig, die Mutter zu behandeln, wie man eine Nervenkranke behandeln muß.«

Ließ ich nun in Behutsamkeit geflissentlich nach, so hielt die Mutter mich für lieblos und herzlos, weinte und beschwerte sich bei dem Vater. Dieser verbat sich's, daß ich »des Doktor's Experimente« machte, die Schwestern[265] erinnerten sich dann an die einzelnen Fälle, in denen ich ihnen hatte entgegentreten müssen, und ohne daß sie sich ein Bewußtsein darüber machten, nahmen sie Partei wider mich. Das heißt, sie kamen zu dem Resultate: daß ich die Mutter weniger liebe, als sie es thäten, und es gab wirklich Augen blicke, in denen ich mich der Mutter förmlich entfremdet fühlte. Indeß kaum war solch eine Empfindung in mir aufgetaucht, so folgten ihr auch schon die bitterste Reue und die schwersten Selbstvorwürfe. Ich sah dann ihr feines, blasses und in der Ruhe so liebliches Gesicht. Ich hörte den heisern, gebrochnen Ton ihrer Stimme, ich fühlte ihre heißen Hände, und verwünschte Alles an mir, was nicht war wie sie, was sich in meiner Natur der ihrigen nicht fügen wollte. Ihr Ausdruck war oft so sanft, ihr schwarzes Haar legte sich so glatt und in so weichem Scheitel um ihre schmale Stirn, ihr Bestreben, sich für den Vater auch äußerlich noch angenehm zu erhalten, war so rührend. Mir kamen oft die Thränen in die Augen, wenn sie sich frisch ankleidete, um den Vater Abends bei der Rückkehr aus dem Comtoir recht heiter am Theetisch zu empfangen, wenn sie einmal wieder Gesellschaft sehen und mit uns leben konnte wie sonst. Ich zweifelte nie an ihrer Liebe für mich, ich konnte mir mit furchtbarer Deutlichkeit die Stunde ausmalen, in der diese guten Augen mich nicht mehr so freundlich anblicken würden, und meine Angst um sie, meine Liebe für sie, waren dann noch lebhafter als meine vorangegangene Mißempfindung.

Ich nannte mich dann eine Thörin, weil ich mir einbildete, mich nicht aufgeben zu dürfen. Ich läugnete[266] mir mit der Uebertreibung, zu welcher aufgeregte Zustände uns verleiten, jede Art der Bedeutung ab, ich sagte mir, ein Frauenzimmer, das nicht Liebe zu erwecken im Stande sei, sei Nichts werth. Und wessen Liebe hatte ich denn erworben, da weder Heinrich, noch die Schwestern mich liebten, wie ich es wünschte, und da ich für die Mutter auch Nichts zu sein verstehe? – Es blieb immer nur der Vater übrig; und wenn ich mit dem Fanatismus eines Büßenden gegen mich selbst gewüthet hatte, war der Hinblick auf den Vater der Hort, an dem ich mich emporrichtete. Ich habe um meine Mutter in jedem Betrachte viel gelitten, und wir lieben Denjenigen, um den wir in solcher Weise leiden. Ich habe im Leben nie nach ihr verlangt, wenn Schmerz und Kummer mich bedrängten, weil sie mir nicht hätte helfen können; aber ich ersehne mir ihre Theilnahme und ihren freundlichen Blick doch noch heute gar oft, wenn ich an der Seite meines theuern Mannes und in dem Kreise seiner Kinder, in unserm Hause ein Glück genieße, das sie mir so oft gewünscht hat, und das in solcher Fülle für mich zu hoffen ich damals weit entfernt war.

Inzwischen war mein ältester Bruder von Berlin nach Hause gekommen, und die Entfernung von der Heimath und das Leben in fremder Umgebung hatten auch auf ihn vielfach eingewirkt. Er hatte Beziehungen gewonnen, Verbindungen geschlossen, die uns fremd waren; er hatte Heinrich Simon kennen lernen, und da er mit einem, durch seine brüderliche Liebe für mich natürlichen Vorurtheile gegen denselben, nach Berlin gekommen war, so hatten sie sich nach kurzem Zusammenhange von einander[267] entfernt. Diese Entfernung aber wirkte für den Augenblick befangend, und in gewissem Sinne erkältend auf unser geschwisterliches Verhältniß und unser gegenseitiges Vertrauen ein. Auch von der Mutter und den Schwestern wußte ich aus tausend kleinen Aeußerungen, daß sie gegen Heinrich eingenommen waren und mein Festhalten an ihm als eine Thorheit, ja in gewissem Sinne als eine Unwürdigkeit betrachteten. Nach dem Gesetzbuch der bürgerlichen Sittlichkeit ist es ja nicht schicklich für ein Mädchen, einem Manne mehr Neigung zuzuwenden, als er für dasselbe hegt; und zu lieben, wo man nicht in gleicher Weise wieder geliebt wird, gilt als entschieden unweiblich und unanständig. Die conventionelle Sitte und Weiblichkeit sind gute Haushalter und gute Rechner, aber sie vergessen bei ihren Moralexempeln, es in Anschlag zu bringen, daß die schöne, glühende Begeisterung, die reine liebende Verehrung eines bedeutenden und guten Menschen ihren Lohn in sich tragen, und daß eine starke Leidenschaft trotz aller ihrer Qualen eine Erhebung und ein Glück ist.

Diese verschiedene Anschauungsweise hielt mich von dem weiblichen Theile meiner Familie fern. Mein Bruder fühlte sich von der Heiterkeit, Anmuth und Jugend der jüngern Schwestern lieblicher angesprochen als von mir. Er arbeitete dazu sehr viel, und der Verkehr mit Rath Crelinger, der ihn nach seinem vollen Werthe schätzte, wurde trotz der großen Altersverschiedenheit, welche zwischen den beiden Männern obwaltete, zu einem engen und dauernden Freundschaftsbande, das den Bruder vielfach in Anspruch nahm. Mein Vater hatte sich seit Jahren gewöhnt,[268] seine merkantilischen Angelegenheiten mit ihm durchzusprechen, der Freund und die Stütze der Mutter war er immer gewesen, und ich blieb mir also mit meinen »unberechtigten Ansprüchen«, mit meiner »Ueberspannung«, und mit meiner »gemüthlosen Verstandeskälte« augenblicklich mehr als in früheren Jahren selber überlassen, ich war und fühlte mich mehr als je zuvor allein. Für sich selbst stehen zu lernen ist aber ein Glück, das man mit vorübergehendem Schmerze nicht zu schwer erkauft, wenn man seinen Weg im Leben zu suchen und zu machen hat.[269]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 2, Berlin 1871, S. 250-270.
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