Siebenzehntes Kapitel

[280] Im März, wenige Tage vor meinem achtundzwanzigsten Geburtstage, kam mein jüngerer Bruder nach beendigtem medizinischen Staatsexamen in das Vaterhaus zurück. Er war noch nicht vierundzwanzig Jahre alt, und stand nun auf dem Punkte, eine Bestimmung über seine Zukunft treffen zu müssen.

Die mehrjährige Entfernung von der Heimath, während welcher er nur in zwei Besuchen nach Hause zurückgekehrt war, hatte ihn in jedem Betrachte vortheilhaft entwickelt. Man rühmte seine Kenntnisse in seinem Fache, er hatte von Jugend auf viel gelesen, war in der deutschen und französischen Literatur bewandert, seine Ideen waren reifer geworden, seine gesellschaftlichen Formen abgeschliffen; aber er hatte noch immer den Zug zum Ungewöhnlichen, und eine unbestimmte Sehnsucht in die Ferne, die ihn nicht recht zur Ruhe kommen ließen, und ihn besonders in jenem Zeitpunkte plagten, in welchem er sich, nach der hinnehmenden Arbeit für sein Examen, nun plötzlich unbeschäftigt fand. Er wohnte natürlich wieder in unserm Vaterhause, und da der Vater sich nur schwer von jener strengen Controlle entwöhnen konnte, welche er von jeher über uns zu führen für Pflicht erachtet,[280] so verlangte er auch bald, der Sohn solle sich auch während des Interregnums, in welchem er sich befand, eine bestimmte Tageseintheilung, bestimmte Arbeits- und Studirstunden feststellen, überhaupt, wie er es nannte: »etwas Ordentliches thun!«

Nun gehörte Moritz aber zu jenen Naturen, denen grade das äußerlich regelmäßige Thun und Arbeiten ein Zwang, und jeder Zwang unerträglich war. Die bloße Vorstellung, daß er um diese oder jene Stunde Etwas thun solle, was um diese Stunde zu thun nicht nöthig sei, machte ihm dieses Etwas zuwider. Es wäre ihm leicht und natürlich gewesen, von frühe bis in die Nacht in einer medizinischen Praxis, oder in einem Hospitale nicht zu Athem zu kommen; aber freiwillig von Morgens bis Mittag am Studirtisch zu sitzen, weil der ältere Bruder um diese Zeit auf dem Gerichte, der Vater im Comtoir beschäftigt war, dazu konnte er sich nicht bringen. Der Vater sah das, ohne es an dem Sohne, der ein Mann war, offen tadeln zu mögen; Moritz fühlte, daß der Vater nicht mit ihm zufrieden sei, und da er denselben sehr liebte, machte dieser Gedanke ihn selber unbehaglich, während er sich mit Recht sagen mußte, daß er sich von dieser Art der väterlichen Beaufsichtigung frei machen müsse, falls er in Königsberg bleiben solle.

Aber die Wahl seines nächsten Aufenthaltes und die Plane für den Beginn seiner selbstständigen Laufbahn waren ein anderer Gegenstand der Erörterungen und der Sorgen. Da der Mensch in seinem dunklen Drange sich des rechten ihm zupassenden Weges meist bewußt ist, so beharrte Moritz noch immer bei seinem alten Verlangen,[281] die Welt zu sehen, und sprach oftmals den Gedanken aus, als Schiffsarzt sich irgend einer Expedition anzuschließen, nach Algier zu gehen, nach Amerika auszuwandern, kurz einen Lebensweg zu wählen, der ihm jene Aufregungen und jene Entwicklung und Bethätigung seiner Kraft ermöglicht hätte, in denen er sich allein wohl befand.

Davon wollte der Vater aber Nichts hören. Er hatte es in der Erziehung seiner ältesten beiden Kinder mit Elementen zu thun gehabt, die seiner Natur auf die eine oder die andere Weise verwandt waren; bei seinem zweiten Sohne war das nicht der Fall, und er sah es nicht ein, oder wollte es damals noch nicht zugeben, daß die Erziehung ebensowohl eine auf Erfahrung begründete Wissenschaft mit ganz bestimmten Regeln, als eine freie Kunst sei, in welcher für jeden Ausnahmefall eine andere Methode angewendet werden muß, wenn die Erziehung ihrer eigentlichen Aufgabe genügen soll: die jedesmaligen Anlagen in der ihnen angemessenen Richtung zu entwickeln, und auf das ihnen entsprechende Ziel hinzulenken.

Er liebte diesen Sohn mit der ganzen Liebe, die er für Jeden von uns hegte, er hatte oft Ursache gehabt, sich von der reichen Begabung desselben und von seiner Liebe für den Vater zu überzeugen. Er erzählte oftmals, daß Moritz von frühester Kindheit auf, anders gewesen sei, als wir; indeß er zog nicht die richtige Folgerung daraus. Keiner von uns Allen hatte sich je einer Strafe widersetzt, sie waren auch sehr selten und immer verdient gewesen. Moritz, der schon als zweijähriger Knabe von einer leidenschaftlichen Heftigkeit gewesen war, hatte bisweilen Schläge bekommen, und kaum sechsjährig, als der[282] Vater ihn einmal gezüchtigt, ausgerufen: »Bin ich denn dazu auf der Welt, geschlagen zu werden?« Das hatte den Vater bewogen, ihn vorsichtig zu behandeln; aber statt diesen Knaben zur freien Selbstbeherrschung zu gewöhnen, die allein ihn hätte zügeln können, hatte der Vater ihn, wie uns Alle, unter seiner Herrschaft behalten wollen und es war daraus Nichts entstanden, als daß Moritz sich selbst nicht beherrschen konnte, während ihm jede andere Herrschaft lästig fiel, und daß er die selbstvertrauende Energie eingebüßt hatte, die ihn hätte leiten können. Er ist mir oft wie ein Schiff vorgekommen, das ohne Steuermann mit vollen Segeln auf dem Meere herumgetrieben wird. Aufregung und Entmuthigung wechselten bei ihm ab, und in einem Zustande selbstbewußter Ruhe, oder fest entschlossenen Wollens, habe ich ihn kaum gesehen. Geistreich, gut, schwungvoll und von einer kindlichen Liebenswürdigkeit, wurde er seines Lebens niemals im wahren Sinne froh; und so lustig und ausgelassen er sein konnte, war man niemals sicher, daß er in dem nächsten Augenblicke nicht mit vollster Wahrheit sein ganzes Leben als ein ihm nicht zusagendes bezeichnete, und es nicht der Mühe des Lebens werth fand. Er taumelte recht eigentlich von Begierde zum Genuß, und schmachtete doch in demselben nach etwas Besserem und Höherem als der Rausch befriedigter Begierde ihm gewährte. In außergewöhnlichen Verhältnissen wäre er ohne Frage ein bedeutender Mann geworden; in der Beengung durch kleine Verhältnisse rieb er sich nutzlos auf, und als er endlich später das ihm zusagende Terrain gefunden hatte, ereilte den Neunundzwanzigjährigen leider ein jäher Tod.[283]

In den Tagen, von denen ich bisher gesprochen, hatte Moritz für seine sogenannten abenteuerlichen Plane indessen nicht nur den Vater, sondern uns Alle gegen sich. Die Vorstellung von weiten Seereisen, von großen Entfernungen war uns Allen nicht so geläufig, als sie es jetzt den Menschen in der Zeit der Dampfschiffe, der Eisenbahnen und der Telegraphen geworden ist. Wir suchten sie ihm, jeder auf seine Weise, auszureden, und doch war der Vater zugleich der keineswegs begründeten Ansicht, daß es Moritz unmöglich fallen werde, sich in seiner Vaterstadt, in welcher sein wildes Studentenleben und seine anderweiten Abenteuer noch in frischem Andenken standen, eine ausreichende ärztliche Praxis zu erwerben.

Die Mutter war anderer Meinung und zwar mit dem vollsten Rechte. Daß Moritz nicht in die Welt gehen solle, war bei ihrer Kränklichkeit ein sehr natürlicher Wunsch; und sie machte darauf aufmerksam, daß er den Frauen angenehm sei, daß alle Kinder ihn liebten, daß die geringen Leute schnell ein Herz zu ihm faßten, und daß ein Arzt, der die Frauen, die Kinder und die Armen für sich habe, immer sicher sein könne, zu einer Praxis zu gelangen. Ein paar seiner Freunde erinnerten in gleicher Weise, daß er grade durch sein Universitätsleben auf eine Kundschaft unter den Studenten rechnen könne, die ihm weiter vorwärts helfen würde; und wenn er in den hergebrachten bürgerlichen Verhältnissen bleiben sollte, war er anscheinend nicht abgeneigt, sich in Königsberg niederzulassen, da er mit großer Innigkeit an uns Allen, besonders aber an den Eltern und dem Bruder hing. Indeß hier trat die Feigheit seiner Geschwister[284] ihm entgegen. Wir fürchteten die Reibungen und Mißhelligkeiten, die bei dem besten Willen von beiden Seiten, zwischen dem Vater und dem Sohne gelegentlich entstehen konnten, bis der Vater sich gewöhnt haben würde, ihn völlig von seiner Aufsicht frei zu geben; und man gerieth also auf den Gedanken, er solle seine Niederlassung in einer der preußischen Provinzialstädte nehmen. Dagegen widersetzte ich mich nun so sehr ich konnte, weil ich überzeugt war, daß die Lebensverhältnisse einer kleinen Stadt nicht das Element in sich trugen, dessen dieser Bruder zu seiner Entwicklung bedurfte, und darin irrte ich mich nicht. Man wußte also buchstäblich nicht, was mit ihm werden solle. Da nun jeder seine Meinung äußerte und diese eifrig vertheidigte, wie sich denn im Familienleben auch der Unbedeutendste nicht nur für befugt, sondern für verpflichtet hält, mit zu rathen und zu thaten, auch wenn er die Sache nicht eben sonderlich übersehen kann, um die es sich handelt, so kamen statt eines vernünftigen Planes, eine große Menge von natürlichen Empfindungen und von zärtlichen Sorgen in Betrachtung, und ich lieferte meinen Antheil dazu so gut wie alle die Andern. Wer sich bei diesen Erörterungen endlich am gleichmüthigsten verhielt, das war Derjenige, den sie betrafen.

Moritz sah bald ein, daß er ein ihm gemäßes Resultat nicht werde erreichen können. Das Reden, Ueberlegen, Anfragen, Bestimmen und Abändern währte eine geraume Zeit. Der junge Doktor fing an, seinen Müssiggang schwer zu empfinden. Daneben wurde er es müde, heute die arme Mutter über seine voraussichtliche Entfernung[285] sehr gerührt zu sehen, und morgen von mir weitgehende Plane entwickeln zu hören, welche mit seinen Neigungen übereinstimmten, und die nur den Fehler hatten, unter unsern Verhältnissen und grade für ihn, nicht ausführbar zu sein, während sie es unter denselben Bedingungen für mich gewesen wären, die ich, in jenen Tagen, mehr Energie und Ausdauer besaß als er. Ihm fehlten, unserer berathenden Rathlosigkeit, unserer beschließenden Unentschlossenheit gegenüber, die nöthige Charakterstärke und jener Egoismus, der in solchen Fällen eine Wohlthat für alle Theile ist, wenn man ihn Anfangs auch schwer verurtheilt. Er gewann es nicht über sich, dem Vater zu sagen: gieb mir, was Du mir zu geben für gut erachtest, und laß mir die Freiheit der Wahl! – Sein moralischer Muth kam seinem physischen Muth nicht gleich. Er dachte also nicht daran, Etwas zu unternehmen, was mißglücken und indirect den Eltern Sorge machen konnte. Die Familienliebe hatte ihn in gewissem Sinne gebrochen, sie machte ihn unfrei in sich, und bald hatte er gar kein anderes Verlangen mehr, als aus dem augenblicklichen Unbehagen heraus, und zu dem Genusse einer relativen Freiheit, gleichviel unter welchen Bedingungen, zu gelangen.

Aber nicht allein Moritz war unzufrieden, wir fühlten uns Alle nicht mehr so glücklich, als in jenen sorglosen Tagen, in welchem wir, dem Willen unseres Vaters unterthan, uns nur als eine Gesammtheit und als seine Kinder erschienen waren. Meine Brüder und ich hatten Neigungen, Wünsche, Ansprüche und Verlangnisse, die über die Grenze des Vaterhauses hinausgingen. Unsere[286] Charaktere hatten sich bereits sehr verschieden ausgeprägt, wir wußten, daß wir uns über verschiedene Punkte nicht vereinigen und nicht verständigen konnten. Wir liebten die Eltern und liebten einander noch wie zuvor, aber wir nahmen einander nicht mehr auf Treu und Glauben hin, sondern beurtheilten die Eltern und ihre Handlungen, und beurtheilten auch das gegenseitige Wesen und Thun, jeder von seinem Standpunkte aus. Da wurde man denn allmählich inne, daß man nicht mehr wie früher Ein Ganzes, sondern nur eine Gesammtheit, und zwar eine solche ausmachte, welche naturgemäß auf ein Zerfallen in einzelne selbstständige Existenzen angewiesen war; und man erschrak darüber nicht mit Unrecht. Die Zeiten, in welchen sich diese Wandlung innerhalb der Familie, diese Auflösung der Gesammtheit zu selbstständigen Einzelheiten, vollzieht, sind schwer zu bestehen. Sie sind in gewissem Sinne für den Vater eine ähnliche Krisis, wie die Geburt des Kindes es für die Mutter ist. Wie hier das Kind sich mit physischer Nothwendigkeit von dem Organismus der Mutter losreißt, dessen integrirender Theil es bis dahin gewesen, so kommt für jeden Familienvater ein Zeitpunkt heran, in welchem seine Kinder sich mit eben solcher Nothwendigkeit von der Hörigkeit ihrer Kindheit und Jugend losreißen müssen, und in beiden Fällen ist für die Eltern, wie für die Kinder Gefahr vorhanden, wenn der Organismus, an dem sich die Krisis vollzieht, kein gesunder ist.

In dem physischen wie in dem psychischen Leben, in der Familie wie in dem Staate wiederholt sich überall derselbe Prozeß, waltet überall das gleiche Gesetz, und[287] mit ihm die gleiche Nothwendigkeit ob. Alles was selbstständig existiren kann, trachtet nach Selbstständigkeit und bedarf ihrer zu seiner Entwicklung und Vollendung. Und wo die dazu nothwendige Freiheit nicht rechtzeitig und in dem genügenden Grade geboten und geschafft wird, wo man die Individuen nicht für den richtigen Gebrauch derselben vorbereitet hat, wendet sich das für Freiheit reif gewordene Wesen, unwillkürlich oder mit Bewußtsein, zerstörend und bisweilen sich selber mitvernichtend, gegen die Schranke, von der es zurückgehalten wird. Die Familien und die Staaten, Väter und Kinder, Fürsten und Völker wissen davon zu sagen, und auch in der sogenannten unorganischen Natur finden sich die Belege für dieses Grundgesetz.

Keiner von uns Geschwistern konnte sich freilich damals einer solchen Erkenntniß rühmen, aber die Erwachsenen fühlten sich mehr oder weniger doch Alle gedrückt, und unsere innern Zustände waren damals recht bedenklich. Wir waren, bei all unserer Liebe, wie eine Brut flügge gewordener Vögel, die im Neste nicht mehr Platz haben, und hinaus müssen, um im Freien wieder fröhlich und gute zufriedene Kameraden zu werden. Der Reibungen, der Mißverständnisse, der Unzufriedenheiten des Einen mit dem Andern, der tiefeingreifenden Gespräche und der daraus folgenden Aufregungen gab es wieder und wieder; und hätte man recht zugesehen, so würde es sich bald herausgestellt haben, daß man nur mich und Moritz von Hause zu entfernen brauchte, um sich wieder völlig in Harmonie und in Zufriedenheit zu befinden.[288]

Ein Gutes jedoch hatte jene Zeit für uns: wir erlernten es an einander, Duldung für die abweichende Meinung, und Schonung für die uns nicht zusagende oder unrichtig dünkende fremde Ansicht zu üben. Je besser ich es aber allmählig über mich gewann, mich in die Naturen der Andern hinein zu denken, und mit ihnen aus ihrer Seele heraus zu empfinden, um so weniger war ich mit mir zufrieden, denn ich kam mir dabei falsch und unwahr vor. Man wird, so lange man sich selbst noch als einen Maßstab für die Andern annimmt, stets um so ungerechter und härter gegen sie, je idealistischer man ist. Die beschränkte Einseitigkeit, welcher wir auf diesem Entwicklungsgrade unterliegen, läßt uns völlig übersehen, daß jeder Mensch in seinem Thun und Treiben so lange unangefochten bleiben muß, als ihm oder uns kein Hinderniß durch sein Gebahren in den Weg gelegt wird. Ich quälte mich jedoch bald auf die eine, bald auf die andere Weise. War ich unduldsam, so machte ich mir Vorwürfe darüber; sah ich Etwas schweigend mit an, was ich für Unrecht hielt, so sagte ich mir, daß ich jetzt klüger, das heißt schlechter werde, daß ich gleichgültig gegen die Entwicklung meiner eigenen Geschwister, daß ich nicht mehr wahrhaft sei, und um des lieben Friedens willen heuchle. Der alte mir so werthe Vers: »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und nähme doch Schaden an seiner Seele, oder was kann der Mensch geben, daß er seine Seele wieder erlöse« lag mir dann beständig im Sinne, und ich empörte mich in meinem Herzen gegen die Familie als solche, weil sie nach meiner Meinung dem Einzelnen nicht die Freiheit[289] gestattete, glücklich oder unglücklich zu sein nach seinem eigenen Willen, und ihn zwang, sich zu verleugnen, wenn er Ruhe haben wollte.

Ich war dabei indeß nur halb in meinem Rechte. Die Familie, wie sie ist, kann nur ein Interesse haben: das Wohlbefinden und das bürgerliche Fortkommen ihrer einzelnen Glieder. Was diesen beiden Voraussetzungen entgegen ist, muß sie verwerfen, und verwirft sie auch schonungslos. Daß ich mein Herz einem Manne hingab, der dies nicht durch seine Hand zu belohnen dachte, war mir immer als eine Thorheit, als eine Unweiblichkeit, ja oft noch schlimmer angerechnet worden, und im Grunde waren Alle recht wohl damit zufrieden, daß dieser romantischen Verblendung jetzt durch Heinrich selbst ein Ende gemacht worden war. Man wollte mir sogar beweisen, daß ich froh sein müsse, meinen Irrthum endlich dargethan zu sehen, und man begriff nicht, daß man mir damit das ganz Unmögliche zumuthete.

Moritz befand sich auf seine Art ziemlich in derselben Lage und wir hätten also füglich ein Verständniß für einander haben müssen. Indeß wir lagen, mit all unserm Begehren nach Unabhängigkeit, doch Beide noch so fest im Bann des väterlichen Willens, im Bann der Liebe für die Eltern, daß ich eine direkte Auflehnung des Bruders gegen unseres Vaters Absichten nicht für möglich gehalten haben würde, obschon ich selbst mich ihrer für den Nothfall fähig wußte; und daß Moritz es heftig tadelte, wenn er mich traurig und nicht glücklich sah.

So aber machen wir Menschen es mit einander. Jeder, der einen Vogel mit gelähmtem Flügel findet,[290] hebt ihn auf, und trägt und hegt ihn, und sein Mitleid mit dem hülflosen Geschöpfe läßt ihn das Ersinnliche zu dessen Heilung versuchen. Wer aber einen Menschen vor sich hat, dem seine Schwingen zerbrochen sind, verlangt in der Regel ganz zuversichtlich, daß er fliegen solle, und bedenkt es nicht, wie elend der Gelähmte, Gebrochene sich auch ohne diese ungerechte Forderung fühlen muß.

Am unglücklichsten war dabei ohne alle Frage wieder unsere Mutter. Sie hatte im Allgemeinen einen sehr richtigen Blick für die Lage jedes Einzelnen. Sie erkannte oft das Nöthige deutlicher als jeder Andere, und konnte dann ihr scharfes Urtheil mit wenigen Worten sehr klar motiviren. Es war nur übel für uns, und übler noch für sie, daß solche hellsehende Augenblicke ohne Folge blieben, weil die nächste nervöse Umstimmung ihr den Blick verdunkelte, und Alles verwirrte, was man nun ein für allemal neben ihr und durch sie gewonnen zu haben glaubte.

So kamen denn, nach Epochen voll herzlicher Aufgeschlossenheit, wieder Stunden, in denen sie sich über uns, eigentlich nur über mich, bitter beschwerte. Ich war es, deren geistige Richtung den einfachen Sinn ihrer Kinder verwirrte; ich, deren Ansprüche an das Leben jeden Bewerber von mir, und also auch von meinen Schwestern fern hielten. Ich trug die Schuld, daß sie nicht den ihr gebührenden Einfluß im Hause hatte; und wie ihre Eifersucht sich sonst nur gegen meines Vaters Vorliebe für mich gerichtet hatte, so war ihr jetzt meine ganze Bildung, ja meine Einwirkung auf meine Schwestern durchaus zuwider. Ich habe unbeschreiblich davon[291] gelitten und mir dann oft gesagt: wenn heute alle Verdrießlichkeiten, die auf der Erde sind, erschöpft wären, so würde wahrscheinlich neuer Anlaß dazu für mich vom Himmel regnen. Ich habe mich oft gefragt: wofür will mich das Leben denn mit dieser harten Schule, mit diesen Geduldproben erziehen? – Und mitten in den mir schwersten Stunden habe ich meinen Vater angesehen, der weit sorgenvoller und beladener als ich, niemals sein Gleichgewicht, niemals seine Zärtlichkeit und nachsichtige Liebe für den Einzelnen verlor, und der mir denn auch nur freundlich entgegen zu kommen brauchte, um mich vergessen zu machen, was mich eben noch empört hatte. War er unter uns, so hörte jedes Mißbehagen auf, und vor seinem hellen Auge verschwanden, wie Nebel vor der Sonne, alle unsere Sorgen und Zerwürfnisse. Die Mutter war dann immer heiter, wir saßen wieder als Kinder eines Hauses, abgetrennt von der Außenwelt, an seinem Tische, und es wollte mich dann oft unbegreiflich dünken, wie ich etwas Anderes, etwas mehr verlangen könne, als die Meinen heiter zu sehen und mit ihnen so zusammen zu leben.

Mitten in das Erwägen und Berathen von meines Bruders Zukunft trat ein Ereigniß ein, das der Unentschlossenheit plötzlich ein Ende machte. Moritz hatte im Laufe des Jahres achtunddreißig in Berlin ein Schußduell mit einem jungen Adeligen gehabt und diesen schwer verwundet. Der anwesende Arzt und mein Bruder selbst hatten die augenblickliche Zuziehung des damals berühmtesten Chirurgen von Berlin, des Professors Dieffenbach für nöthig erachtet. Dieser hatte sich meinem Bruder[292] stets sehr geneigt bewiesen, hatte gelegentlich geäußert, er finde in dem jungen Manne sich und seine eigene Jugend wieder, und hatte denn auch nach seiner Weise mit einer Art von Vergnügen über die sehr extravaganten Bedingungen des Duells und den schönen Schuß gegen Dritte mehrfach gesprochen. Dadurch war das Duell ruchbar und eine Untersuchung eingeleitet worden, welcher die Betheiligten zu begegnen suchten, indem mein Bruder Berlin verließ und auch der junge Edelmann sich, sobald es anging, aus der Residenz entfernte.

Ich erinnere mich nicht, durch welche Veranlassung diese Untersuchung, die in's Stocken gerathen war, nun im Frühjahr von neununddreißig wieder aufgenommen wurde. Nur so viel ist mir deutlich geblieben, daß mein Vater, beunruhigt durch die Möglichkeit einer längern Festungsstrafe für den Sohn, den Entschluß faßte, ihn außer Landes zu schicken; und da seine Handelsgeschäfte ihn nach wie vor mit Polen und Rußland in Verbindung hielten, Polen und Rußland uns also geläufige Begriffe waren, einigten sich endlich Alle dahin, daß Moritz unter den obwaltenden Verhältnissen gar nichts Besseres thun könne, als nach Rußland zu gehen und dort seine ärztliche Praxis zu beginnen.

Unser junger Doktor war damit gar wohl zufrieden. Er hatte sich oftmals aus dem Staube gemacht, wenn wir uns in die Ueberlegungen vertieften, und sich mit den Worten des Tell entschuldigt: »Ich kann nicht lange prüfen oder wählen, bedürft Ihr meiner zu entschlossener That, so ruft den Tell, es soll an mir nicht fehlen!« – Nun richtete er mit seiner angebornen Lebhaftigkeit sein[293] Auge schnell auf Petersburg. Geheimrath Dieffenbach und noch einige seiner Universitätslehrer versahen ihn gern mit vortrefflichen Zeugnissen über seine ärztliche Befähigung, mit warmen Empfehlungen an einflußreiche Personen, und die Aussicht auf das Leben in einer neuen, ihm völlig fremden Umgebung, der Hinblick auf den Krieg gegen die Tscherkessen, in welchen Rußland damals verwickelt war, die Möglichkeit sich dorthin zu wenden, wenn er nur einmal selbst über sich zu bestimmen hätte, ließen ihn die Uebersiedelung nach Rußland bald als etwas sehr Wünschenswerthes betrachten. Er sprach mit Eifer davon, ein Unterkommen an irgend einer Klinik und mit ihr Material für seine Thätigkeit zu suchen; er malte sich die Begegnisse des Lebens in der großen und üppigen Kaiserstadt aus, er wollte Moskau sehen, dachte mit Entzücken an tscherkessische Pferde und schöne kaukasische Frauen, und war ganz Leben und Feuer, ganz Muth und Zuversicht.

Aber die Sache kam nicht so zur Ausführung, als er es wünschte und als es zweckmäßig für seine Person gewesen wäre. Eine Niederlassung in Petersburg setzte nach den eingezogenen Erkundigungen ein Kapital voraus, das mein Vater nicht beschaffen konnte. Dazu war er der Ansicht, Moritz würde sich in der Petersburger Gesellschaft nicht zusammen zu halten vermögen und deßhalb nicht so vorwärts kommen, wie es nöthig sei. Er verlangte also, derselbe solle sich zuerst in irgend einer Provinzialstadt von Russisch-Polen ansässig machen, um dort die russische und polnische Sprache zu erlernen, während er sich in der französischen zugleich übe, und wenn[294] er außer der Kenntniß der drei für Rußland unentbehrlichen Sprachen sich das Geld zu einem Abwarten und Versuchen in Petersburg erworben haben würde, dann solle er dort, oder wo es ihm sonst gut dünken würde, seinen Aufenthalt wählen und seine Niederlassung bewerkstelligen.

Dieser Ausweg war, an und für sich betrachtet, ein wohl überlegter. Er bot den Vortheil dar, verhältnißmäßig wenig Geldaufwand zu erheischen, und es wäre gar Nichts dagegen einzuwenden gewesen, hätte er nicht grade Alles dasjenige in sich vereinigt, was man eben für Moritz an den verschiedenen andern Vorschlägen im Einzelnen auszusetzen gehabt hatte. Indeß die alte Erfahrung, daß langes und vielseitiges Berathen den Menschen verwirrt und ermüdet, und daß man aus Ermüdung und Ueberdruß schließlich Zugeständnisse macht, die man einzuräumen beim Beginne der Verhandlungen für undenkbar gehalten hätte, bewährte sich auch bei uns, und es stand also plötzlich fest, daß Moritz uns noch in der Mitte des Julimonates verlassen und nach Willna gehen solle.

Meine Mutter, welche seit zehn Jahren jeden Sommer auf dem Lande zubrachte, wohnte damals wieder in Neuhausen, wo sie ihren ersten Erholungsaufenthalt gemacht. Wir hatten uns in demselben Hause eingemiethet, in welchem wir früher gelebt, aber wir nahmen jetzt mehr Räume ein, und da der Vater einen leichten Wagen und zwei Pferde gekauft, welche zur Verfügung der Mutter in Neuhausen blieben, so konnte man sich die Trennung der Familie fast unfühlbar machen, indem man Diejenigen,[295] welche sich bei dem Vater in der Stadt befanden, so oft es erwünscht war, auf das Land hinausholen ließ.

Am dreizehnten Juli hatte mein Vater in dem kleinen Städtchen Schaaken, auf der kuhrischen Nehrung am kuhrischen Haff gelegen, ein Geschäft zu besorgen, und da sein Weg von Königsberg ihn über Neuhausen führte, war er schon am Abende vorher zu uns hinausgekommen, um an dem betreffenden Tage bei guter Zeit mit unserm Fuhrwerk nach der Nehrung zu fahren. Die Mutter, für welche solche weitere Ausflüge etwas Seltenes waren, äußerte den Gedanken, ihn zu begleiten, ein Paar von den Schwestern wurden mitgenommen und da am Nachmittage die Brüder mit dem Neuhausener Milchbauer aus der Stadt zu uns heraus kamen, so gingen wir zurückgebliebenen Mädchen mit ihnen den Eltern am Abende eine tüchtige Strecke Weges entgegen.

Es war einer der schönsten Sommertage. Der Weg erfreute uns. Es kam selten bei uns zu großen Promenaden und wir hatten also ein Vergnügen daran, unsere Kräfte zu erproben. Die Eltern waren angenehm überrascht, als sie uns mit einem Male vor sich sahen, der Vater stieg aus, die jüngsten müden Schwestern wurden an seiner Stelle zur Mutter in den Wagen gesetzt, und durch die wallenden Kornfelder und frischgemähten Wiesen gingen wir nach Neuhausen zurück, um unter den blühenden Linden, außerhalb des Gartens, dem Teiche gegenüber, wo der gedeckte Tisch uns erwartete, unser Abendbrod einzunehmen.

Wir waren ganz allein, die Eltern und ihre acht Kinder, und wir wußten, daß es wohl für eine geraume[296] Zeit der letzte Abend sein würde, der uns in so enger Gemeinschaft beisammen fand. Niemand mochte es aussprechen, aber Jeder sagte sich, wie es nur noch drei Tage bis zu des Bruders Abreise hin sei, und daß er in der Stadt noch vielerlei für dieselbe vorzubereiten habe. Es waltete ein Gefühl und ein Bewußtsein des Glückes in uns, das wir in der Vereinigung unserer Familie alle die langen Jahre hindurch besessen hatten. Man stand an einem Wendepunkte und sah gleichsam von einer Höhe auf den zurückgelegten Weg zurück. Wie oft für den Einzelnen die einzelnen Pfade auch eng und dornig gewesen sein, an welchen Steinen er sich gestoßen, wo er müde hingesunken sein mochte, jetzt war das Alles nicht mehr zu sehen. Ein schöner, vielfach gewundener Weg breitete sich vor unsern Blicken aus. Alles was uns vielleicht noch wenige Stunden vorher geschmerzt hatte, war in der Tiefe von milder Dämmerung wohlthuend verhüllt, und nur Erinnerungen an Liebe und an Freude, die uns zu Dank verpflichteten, ragten in sonnenbeschienener Höhe hell und leuchtend aus der Vergangenheit hervor. Es hatte sicherlich an dem Abende Keiner von uns Allen einen anderen Wunsch, als wieder und immer wieder so vereint in der Nähe unserer Eltern zu verweilen.

Des Vaters seelenvolles Gesicht sah so ruhig auf uns hin, die Mutter, welche sich ihrer durch die Fahrt erprobten Kräfte rühmte, war heiter und so anmuthig, wie es ihr eigentlich angeboren war. Sie getröstete sich, daß es doch noch mit ihr gehen, daß sie gewiß noch einmal wieder recht zu Kräften kommen werde. Unser[297] junger Doktor befestigte sie nach bestem Vermögen in dieser Voraussetzung, obschon er ihren Zustand für sehr bedenklich hielt; und da er selber gern Hoffnung geben und hoffen wollte, so gewann die Zuversicht uns Alle. Man sprach gar nicht von der Trennung, nur von den guten Dingen, die man für den Scheidenden erwünschte und erwartete. Sein froher Muth verlor sich in weite Flüge. Er versprach uns chinesischen Thee und russische Pelze und Warschauer Schuhe, und persische Schlafröcke für Vater und Bruder zu senden, wenn er Geld haben würde, was zu erwerben ihm gar nicht fehlen konnte; und man kehrte dann wieder auf die ersten Erinnerungen aus seiner Kindheit zurück, um aller der Einzelnheiten, aller der Anekdoten zu gedenken, welche seine Eigenartigkeit frühzeitig kund gegeben hatten. Heute lachte der Vater über Alles. Er lachte über die Händel mit den Lehrern, deren man sich erinnerte, er lachte über die Kreuzzüge gegen Nachtwächter und Stadtsoldaten, die Moritz unternommen, und deren Details er mit der größten Schalkheit zu erzählen wußte; und als der Sohn sich dann wieder zu ernsterem Gespräche wendete, hatte der Vater offenbar große Freude an ihm, und Zuversicht zu seiner Zukunft. Er hörte es gern mit an, als Moritz es sich so heiter ausmalte, wie Alles sein werde, wenn er nach mannigfachen neuen Erfahrungen als ein gemachter Mann zu den Eltern heimkehren und eine oder die andere Schwester mit sich nehmen werde, sie in seiner Nähe zu versorgen. Weil man die Trennung so sehr fürchtete, hielt man sich um so fester an das einstige Wiedersehen.[298]

Es war ein Abend, dessen ich noch heute mit großer Freude gedenke. Es war für unser ganzes Leben der letzte Abend, an welchem die Familie vollständig beisammen war.

Und in diesem Augenblicke danke ich es unserm Schicksal, daß uns dieser letzte Abend in so reiner Verklärung zu Theil ward, daß er mir noch heute wie ein mildes klares Abendroth aus der weiten Ferne seine sanften Strahlen, seine aufdämmernden und leise flimmernden Sterne in die Seele leuchten läßt.[299]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 2, Berlin 1871, S. 280-300.
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