Zweites Kapitel

[25] In heiterster Gemüthsverfassung langten wir in Baden-Baden an, und der Gedanke, mich in einem der ersten Badeorte der Welt zu befinden, entzückte mich. Alles, was ich in deutschen, französischen und englischen Romanen von Badeorten im Allgemeinen und von Baden-Baden in's Besondere gelesen hatte, webte sich in meiner Phantasie zu einem magischen Ganzen zusammen, das in schattenhaft wechselnden Bildern an meinem Geiste vorüberzog. Ein Kursaal, ein Spielsaal, Promenaden, Trinkhallen, berühmte Leute, galante Kavaliere, geputzte Damen, schöne Kavalkaden, Bälle, und Gott weiß welche Herrlichkeiten noch, schwebten mir vor der Seele, wirbelten kaleidoskopisch durcheinander, und ich empfand wieder einmal jene frohe Zuversicht der Jugend, jene Neugier der Unerfahrenheit, die so beglückend ist, weil sie immer nur Erfreuliches und Bedeutendes zu finden erwartet. Und Gutes und Bedeutendes wurde mir in Baden-Baden auch zu Theil, wenn schon nicht so direct und nicht in der Weise, welche ich mir vorgestellt hatte.

Unsere Fahrt nach Baden hatte meinem Onkel Friedrich Jacob Lewald, dem jüngsten Bruder meines Vaters gegolten, der ein Jahr vorher, der Cholera wegen, von[25] Breslau, wo er ansässig war, mit seiner ganzen Familie nach Süddeutschland gegangen war, und seinen Aufenthalt daselbst verlängert hatte, weil die Entwickelung des dort bereits eingebürgerten Constitutionalismus ihn interessirte, und später die Niederkunft meiner Tante das Verweilen bis in das Frühjahr nöthig machte, wo man sich denn wieder der schönen Jahreszeit wegen nicht von den lieblichen Gegenden trennen wollte. Die Familie hatte den Winter in Mannheim und Heidelberg zugebracht und war dann zum Frühjahr nach Baden übergesiedelt, wo mein Onkel ein ganzes Haus, auf der Wiese neben der Lichtenthaler Allee, zur Miethe genommen hatte.

Und es bedurfte in der That eines ganzen Hauses, um eine so zahlreiche, an größte Bequemlichkeit gewöhnte und verwöhnte Familie unterzubringen. Sie bestand damals aus einer Tante meines Vaters, deren Tochter mein Onkel Lewald zur Frau hatte, aus den fünf Kindern meines Onkels, von denen das älteste Mädchen vierzehn Jahre alt sein mochte, und der jüngste Knabe eben geboren worden war. Dazu kamen noch die Gesellschafterin meiner Großtante, ein ältliches adeliges Fräulein, und eine junge entfernte Verwandte der Familie, die von der Großtante erzogen wurde. Ein süddeutscher Candidat der Theologie, der Erzieher der Kinder, und eine Französin aus dem Elsaß, die Wärterin des Neugebornen, mit der übrigen zu einem solchen Hausstande gehörenden Dienerschaft, vollendeten das Personal.

Mein Onkel, dessen unverkennbare Aehnlichkeit mit meinem Vater mir angenehm auffiel, empfing uns an der Thüre seines Hauses. Die beiden Brüder hatten sich[26] lange, lange Jahre nicht gesehen, ihre Begegnung war sehr herzlich, und der Onkel, der mich als ein lallendes Kind verlassen hatte, schien Freude an mir zu haben, und gefiel sich darin, mein »ächt Lewald'sches Gesicht« zu betrachten. Auch die Frauen nahmen uns mit offenen Armen auf, und es machte mir großes Vergnügen, den Vater mit einem seiner Brüder verkehren zu sehen, oder es zu hören, wie die Großtante ihn »lieber Sohn« und »Du« hieß. Er erschien mir dadurch zum ersten Male nicht so ausschließlich nur als mein Vater und viel jünger als zu Hause.

Mein Vater stand damals in seinem fünfundvierzigsten Jahre, mein Onkel war achtunddreißig Jahre alt. Seine Bildung war eine schulmäßigere als die meines Vaters. Er hatte von seinem zwölften bis zu seinem sechszehnten Jahre das altstädtische Gymnasium zu Königsberg besucht, und dann auf einem dem Grafen Truchseß-Waldburg gehörigen Gute die Landwirthschaft erlernen wollen, für die ihm durch sein ganzes Leben eine Neigung geblieben war. Ich weiß nicht, welche Verhältnisse und Rücksichten ihn bestimmt haben mögen, trotz dieser Vorliebe, dem gewählten Berufe zu entsagen; aber er verließ das Gut nach zwei Jahren und trat mit achtzehn Jahren, wie früher erwähnt, in das Handlungshaus meines Vaters ein, in dessen Angelegenheiten er Polen und Rußland, und namentlich die russischen Ostseeprovinzen bereiste. Kaum einundzwanzig Jahre alt, verheirathete er sich mit seiner gleichaltrigen Cousine, die eine einzige Tochter und reiche Erbin war, und lebte von da ab, ohne eigentliche Berufsbeschäftigung, mit deren Eltern in[27] demselben Hause in Breslau. Ein Handlungshaus, das er mit einem seiner Onkel etablirt, war wieder aufgelöst worden, und da der Tod seines Schwiegervaters, der seiner Frau ein namhaftes Vermögen zufallen machte, den Onkel der eigentlichen Lebens- und Nahrungssorgen ganz und gar enthob, so hatte er sich seit dem, in glücklicher Ungebundenheit, sehr viel mit den ökonomischen und merkantilischen Verhältnissen von Schlesien, und eben so mit der Geschichte dieser Provinz beschäftigt. Das in jener Zeit neu gegründete Handelsministerium bediente sich daher seiner Kenntnisse zur Erforschung der nach dem Kriege sehr verwickelt gebliebenen Verhältnisse der Provinz, und das Finanzministerium hatte achtzehnhundert und zweiundzwanzig den sechsundzwanzigjährigen jungen Mann auf mehrere Monate nach Berlin gerufen, um ihn bei der Regulirung der indirecten Steuern zu Rathe zu ziehen. Sein Unabhängigkeitssinn und die Rücksicht auf seine Frau und Schwiegermutter, welche Breslau nicht zu verlassen wünschten, hatten ihn abgehalten, auf den Vorschlag des Minister von Maaßen einzugehen, und im Finanzministerium Dienste zu nehmen, aber sein Augenmerk war auf die Finanzverhältnisse des Landes, auf das öffentliche Leben im Allgemeinen und besonders auf die Verwaltung der städtischen Angelegenheiten von Breslau gerichtet geblieben, und ebenso lebhaft und energisch, als des Wortes in Schrift und mündlichem Verkehr durchaus mächtig, trat er bei den verschiedensten Anlässen bald persönlich, bald mit größern oder kleinern Arbeiten in der Presse angreifend oder berathend ein. Einzelne von diesen Arbeiten waren über den Bereich der Provinz[28] hinaus bekannt geworden, und hatten, da sie durchweg freisinnig waren, ihm unter den süddeutschen Liberalen mannigfache Bekanntschaften erworben, mit denen er vielfach verkehrte. Er sah damals überhaupt, im Gegensatz zu seinen spätern Lebensgewohnheiten, gern viel Menschen um sich her, und er war recht dazu geschaffen, in der Gesellschaft zu gefallen und sich selber in ihrer Mitte wohl zu fühlen.

Mit einem glücklichen Gedächtniß begabt, stets im vollen Besitz seiner geistigen Mittel, äußerst humoristisch, und gleich geschickt zu ernster Auseinandersetzung wie zu heiterer Unterhaltung, witzig, schlagfertig, rasch, und wenn er es wollte auch wieder von schöner epischer Behaglichkeit, habe ich nie Jemand anmuthiger und geistreicher erzählen hören, als mein Onkel es in jenen Tagen that. Er hatte nach seiner Verheirathung alljährlich einen Theil des Sommers auf Reisen und in Bädern zugebracht, hatte sich im weiten Menschenverkehr geschult, seine Formen abgeschliffen, vielerlei erlebt, viel beobachtet, und was mir die Hauptsache war, er hatte im Jahre achtzehnhundert dreiundzwanzig in Marienbad Goethe kennen lernen, was ihn für mich mit einem wundervollen Nimbus umgab.

Ich wurde es nicht müde, die Unterhaltung auf jene Tage zu bringen, ich war sehr gespannt darauf, einen rothseidenen Regenschirm zu sehen, unter welchem der Onkel einmal die Excellenz Goethe nach Hause geleitet, und den er deshalb, als der Schirm unbrauchbar geworden, in Breslau zum Andenken aufgehoben hatte; und da der Onkel ein Talent für Nachahmung besaß, wußte er es sehr ergötzlich darzustellen, wie ein einfältiger[29] österreichischer Graf sich eines Tages abgemüht, Goethe zu beweisen, daß es sehr leicht sei, sich in der Rechnung mit dem Münz- und Scheinengeld zurecht zu finden. »Zwei Kreuzer sind fünf Kreuzer, und vier Kreuzer sind zehn Kreuzer, und zwei Gulden sind fünf Gulden« hatte der Graf immerfort erklärt, und Goethe hatte das mit unerschütterlicher Gelassenheit angehört. Endlich aber hatte er mit seiner Olympischen Ruhe gesagt: »daß das Publikum sich damit in's Gleiche zu setzen versteht, das glaube ich gern, wie aber die Regierung sich einmal aus dem Dilemma zwischen Schein und Sein herauswickeln und mit ihrer Finanzwirthschaft in Ordnung kommen wird, das möchte schwerer zu bestimmen sein.« Der Graf hatte ihn indeß versichert, daß »das All's 'ne Kleinigkeit sei« und sich in bester Ordnung befinde, und Goethe ihn mit der Bemerkung entlassen: »es soll mich sehr erfreuen, mein Herr Graf! in diesem Punkte mich geirrt zu haben.«

Ein andermal hatte Goethe den Onkel um unsere Vaterstadt Königsberg befragt, die ihn um Kant's, Hamann's und Hippel's willen interessirte, und der Onkel konnte es nicht genug rühmen, wie vortrefflich Goethe durch seine wohlberechneten Fragen die Menschen bei demjenigen festzuhalten gewußt, was er von ihnen zu hören verlangt. Mehr aber noch als diese Mittheilungen überraschte uns die Kunde von des Greises leidenschaftlicher Liebe für Fräulein von Levezow, die jetzt aller Welt bekannt ist, und auch damals wohl den nahestehenden und literarischen Kreisen lange kein Geheimniß mehr gewesen sein wird. Für mich aber, die ich jenen Regionen so fern gelebt,[30] und zu ihnen und zu Goethe wie zu dem Olymp und zu Jupiter hinaufgesehen hatte, lag etwas ganz Wunderbares darin, von einem Augenzeugen, und obenein von einem meiner Verwandten, über Goethe's persönliche Verhältnisse sprechen zu hören.

In einem andern Jahre hatte der Onkel den Herzog Karl August, ich glaube, in Karlsbad, kennen lernen, und zwar auf folgende Weise: Der Herzog speiste an der Gasttafel des Hotels, in welchem er wohnte, und sein Reisebegleiter hatte die Anweisung, Personen, welche er dem Herzog angenehm glauben durfte, zur Theilnahme an dieser Gasttafel aufzufordern, die der Herzog mit einem allgemeinen Beitrag unterstützte, so daß man dort besser aß als andern Ortes. Für diese Tafelgelder hatte der Hauswirth aber die Verpflichtung, keine Tafelgäste ohne Zustimmung des herzoglichen Reisemarschalls anzunehmen, sondern sie, falls derselbe sie nicht angemessen fand, mit dem Vorgeben, daß er keinen Platz mehr habe, zurück zu weisen. Es war das ein öffentliches Geheimniß, und die Einladungen geschahen ganz beiläufig. Es hieß: »essen Sie doch in unserm Hotel, man ißt da sehr gut!« Indeß der auf solche Weise Geladene wurde dann in die nächste Nähe des Herzogs gesetzt, und von diesem meist eben so sachlich befragt, als Goethe dies zu thun verstand; bis der Herzog, der dem Scherz und der Anekdote geneigt war, selbst den Anstoß zu einer leichtern Unterhaltung gab, in der er Meister war, und bei der er von den Andern die Zwanglosigkeit erwartete, die er selber bewies.

Mir, mit meiner inbrünstigen Verehrung für die[31] Heroen unserer Literatur, wurde mein Onkel gleichsam über alles Gewöhnliche hinaus gehoben, durch den bloßen Gedanken, daß er Goethe und Karl August gekannt, daß er sie gesehen, daß er mit ihnen gesprochen habe, und ich wunderte mich fast, daß ihm dies Glück nicht gleich anzusehen war. Ich hatte, wie Jeder zum Verehren des Großen, Schönen und Erhabenen geneigte Mensch, einen natürlichen und ehrlichen Cultus des Genius, und ich begreife Nichts leichter, als wie die christgläubige Menschheit dazu gekommen ist, die Verehrung ihrer Märtyrer als Dogma aufzustellen, und zu deren Grabstätten und Geburtsorten mit der Erwartung zu wallfahrten, dort einer ganz besondern Erhebung theilhaftig zu werden.

Alle diese Dinge, von denen ich eben berichtet, erfuhr ich jedoch erst nach längerem Verweilen in des Onkels Hause, denn die ersten beiden Tage vergingen uns wie im Fluge. Wir fuhren gleich am ersten Tage in dem schönen Wagen, welchen die Großtante für die ganze Zeit ihres Aufenthaltes gemiethet hatte, die Lichtenthaler Allee entlang, nach den Wasserfällen, bestiegen am zweiten Tage die alte Burg, von deren Höhen wir den Rhein sich wie ein bläuliches Silberband durch die schönen Lande hinschlängeln sahen, und machten am Nachmittage unsern ersten Besuch in dem Kurhause, vor welchem bei dem schönen Wetter die Gesellschaft im Freien ihren Kaffee trank.

Die eigentliche Saison für Baden-Baden fällt in die Zeit des Hochsommers und Herbstes, und es war also noch leer in der Stadt und auf den Promenaden. Nur einige vorüberreisende Fremde und eine Anzahl von Personen,[32] die sich dort ansässig gemacht hatten, bildeten die Gesellschaft und kamen fast täglich zusammen. Unter diesen Letztern waren Börne und Ludwig Robert die hervorragendsten, und mein Onkel kannte sie Beide, obschon sie selbst wenig Verkehr mit einander hielten, und auch, wenn sie durch Dritte zusammengeführt wurden, sich nicht hingebend mit einander einließen. Der Onkel stellte uns gleich an diesem ersten Tage beiden Männern vor, die Jeder von einer Dame begleitet waren.

Ludwig Robert, Rahel Varnhagen's Bruder, war in der Mitte der Fünfziger, sah aber älter aus, weil sein krauses Haar schon ganz grau geworden war. Es bildete einen starken Gegensatz zu seiner großen Beweglichkeit. Ich habe ihn, so lange wir in Baden waren, fast täglich gesehen, und es ist mir stets vorgekommen, als ob ihm jenes sichere Selbstvertrauen fehlte, das die eigentliche ruhige Würde bedingt. Er pflegte, wenn er sprach, zunächst seine Frau anzublicken, und dann nach den Mienen aller übrigen Anwesenden zu sehen, als müsse er sich des Eindrucks versichern, den seine Reden auf seine Zuhörer machten. Er sprach aber sehr fließend, und erzählte viel, wenn er gut aufgelegt war. Das gehörte jedoch zu den Ausnahmen, denn die liberale Aufregung, die sich im Lande überall kundgab, verstimmte ihn und ließ ihn gegen die Freunde der damaligen Bewegung oft so bitter werden, daß seine Frau dann freundlich und vermittelnd eintrat; und ihr mußte es freilich immer gelingen, die Menschen zu versöhnen und zu beruhigen, denn die Schönheit hat eine besänftigende Kraft.

Friederike Robert war eine Süddeutsche und bedeutend[33] jünger als ihr Mann. Es ging das Gerücht, daß er sie aus ihrer ersten sehr unglücklichen Ehe nur durch ein namhaftes Geldopfer, das er ihrem Manne brachte, habe befreien können. Sie war groß und vollkommen schön gewachsen. Eine Fülle von dunkelm Haar umgab ihr Gesicht, das trotz der sehr hellen Farbe einen bräunlichen Ton hatte, wie man ihn öfter bei den Frauen des südlichen Deutschlands findet. Die ganze Bildung ihres Gesichtes war edel und regelmäßig, und die breite, offene Stirne, die sie nach der damaligen Mode ziemlich frei trug, hatte etwas so Klares, die Augen waren so leuchtend und die ganzen Mienen des Gesichtes so überaus anmuthig, ihr Ton und ihr Wesen so natürlich und gütig, daß ich mich nicht erinnere, außer Frau Therese von Bacherach, jemals eine Frau gekannt zu haben, welche gleich bei der ersten Begegnung so völlig für sich einnahm, und so geeignet war zu halten, was ihr erster Anblick verkündete und verhieß.

Börne wohnte nicht ferne von uns, im Stephanienbade. Wenn wir aus unserm Hause nach der Stadt gingen, kamen wir bei seiner Wohnung vorüber, wo er häufig mit seiner Freundin, Frau Wohl, und mit deren Gesellschafterin vor der Thüre saß. Er war klein und mager, sein Haar auch schon leicht mit grau gemischt, obschon er noch im besten Alter stand. Das viel verbreitete, nach dem Portrait von Oppenheim gestochene Bildniß Börne's ist ihm vollkommen ähnlich. Ich finde, da ich in diesem Augenblicke, seiner denkend, ein altes Excerpten- und Notizenbuch aufschlage, folgende in jenen Tagen niedergeschriebene Zeilen, die ich hieher setze,[34] weil sie mindestens das Verdienst der Ursprünglichkeit haben.

»Börne's Augen sehen aus, als ob sie nach innen blickten, wie man das an manchen Menschen findet, wenn sie Musik hören, und dazu hat er eine sanfte, wohlklingende Stimme. Ich war recht stolz darauf, als er ein paar Mal bei verschiedenen Begegnungen auf der Promenade die Andern vorangehen ließ und mit mir allein langsam nachging. Ich sollte ihm von Ostpreußen erzählen und von den Zuständen daselbst, aber ich sollte nicht sagen, was ich darüber gehört und gelesen hätte, sondern ganz einfach, wie es mir vorgekommen wäre. Auch von dem polnischen Kriege, von der Stimmung in Königsberg in Bezug auf Polen, und von dem Empfang der Flüchtlinge bei uns, und von der sogenannten Emeute bei Fischhausen, wollte er hören. Einmal holte er sogar Ludwig Robert herbei, und ich mußte es diesem, der sehr gegen die Polen und die polnische Revolution eingenommen, und im Vergleich zu Börne recht freiheitsfeindlich war, Alles noch einmal wiederholen. Börne sagte darauf, als ich geendet und Herr Robert mich noch dies und das gefragt hatte: ›Da hören Sie es! so ist es gewesen und nicht wie die preußischen Zeitungen es lügen; erst den Russen Brod gebacken und dann die flüchtenden Polen zum Lande hinausgejagt! Das nennen sie in Preußen Neutralität! Und das Mädchen sagt, was es zu Hause erlebt hat, und nicht mehr und nicht weniger.‹«

Ein anderes Mal sprachen die Herren von irgend welchen bedenklichen Regierungsmaßregeln in Baiern, und[35] kamen dann auf die Gedichte des Königs Ludwig zu reden, wobei mein Onkel mich aufforderte, ein Paar Verse des Königs herzusagen, die ich irgendwo gelesen und auswendig behalten hatte. Sie waren sehr geschmacklos. Mein Onkel spottete über die Verse und eiferte noch lebhafter gegen die unzweckmäßigen Erlasse und Handlungen des Königs. Börne aber sah ganz still vor sich hin, zuckte mit Schultern und Augenbrauen, und sagte: »lassen Sie ihn doch! der Mann hat so viel Gereimtes gemacht, daß er sich nun auch wohl einmal auf das Ungereimte verlegen kann!«

Abgeschlossenheit und Ruhe waren die charakteristischen Eigenschaften von Börne's äußerer Erscheinung. Er hörte schon damals nicht gut, und es lag dadurch in seinem Gesicht etwas Gespanntes, Lauschendes, ja Lauerndes, wenn Andere sprachen, das jedoch schnell aus seinen Mienen entschwand und dem leidenden Ausdruck Platz machte, der in seinem Gesichte vorherrschend war, sobald er selber redete. Seine Kleidung war sehr sauber, man sah, er hielt auf sich, und nur eine lange, große Uhrkette fiel mir an ihm, als nicht zu dem Ganzen passend, auf. Wir meinten immer, es müsse ein Erbstück oder ein Geschenk von Jemand sein, der Börne nicht persönlich gekannt hatte.

So aufgeregt die Stimmung und so leidenschaftlich deshalb die Diskussionen in jenen Tagen, die ganz eigentlich dem Hambacher Feste vorangingen, auch werden mochten, so blieb Börne dabei stets gelassen und ließ Jeden gewähren und sich äußern, bis er dann selbst einmal mit irgend einem schlagenden und entscheidenden[36] Worte dazwischen fuhr. Dann war es rührend zu beobachten, mit welcher freudigen Genugthuung Madame Wohl zu ihm hinüberschaute, und mit welcher Freude sie den Eindruck wahrnahm, welchen Börne's aufklärende und entscheidende Weise auf die Hörer ausübte.

Auch sie schien schwächlich und schien, eben so wie Börne, viel durchlebt und viel gelitten zu haben. Sie kann nie hübsch gewesen sein, aber an Personen, welche, wie sie, gar keinen Anspruch auf äußerliche Vorzüge machen, vermißt man dieselben auch nicht, und da sie den guten Geschmack hatte, sich im höchsten Grade einfach, fast nonnenhaft bescheiden zu kleiden, so fand man sie gerade recht, wie sie eben war, und ich habe von ihr nie anders als mit großer Achtung und vielem Antheil sprechen hören.

Wir waren gegen den zwanzigsten Mai, etwa einen Monat nach unserer Abreise von Königsberg, in Baden-Baden angekommen, und wir hatten kaum einige Personen aus dem Bekanntenkreise meines Onkels kennen lernen, als wir gewahren konnten, wie viel näher wir der politischen Bewegung und Aufregung gekommen waren, deren Entstehen und Anwachsen wir bis dahin in den Zeitungen verfolgt.

Die Namen Wirth's und Siebenpfeiffer's waren in aller Leute Munde, und die von Siebenpfeiffer und dreiunddreißig andern Bürgern aus Neustadt an der Hardt erlassene Aufforderung zur Begehung eines nationalen Festes auf dem Hambacher Schlosse bei Neustadt, zu dem man nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen und Jungfrauen Deutschlands eingeladen hatte, fand eine[37] gesteigerte Theilnahme, seit die Regierung das Fest verboten, und es dann doch wieder, aus Furcht vor noch größerer Aufregung, frei gegeben hatte. Bekanntmachungen der Regierung gegen das Fest, und Bekanntmachungen der Unternehmer, welche es vertheidigten, folgten einander schnell. Ludwig Robert sah den Ausbruch einer unheilvollen Revolution durch diese Festfeier herannahen; und je nach ihren Gesinnungen fürchteten und hofften die Leute von dem Maifeste auf dem Hambacher Schlosse das Außerordentlichste.

Man hatte es damals offenbar entweder noch nicht genugsam erfahren, oder es vergessen, daß in solchen Festfeiern eine die Seele befreiende Kraft liegt, welche die Energie des Zornes, und damit die Energie des zum Handeln drängenden Entschlusses, abstumpft und zerschmilzt. Von dem Platze, an welchem man einem Volke eine Festfeier versagt hat, können Haß und Zorn und Erbitterung sich als gährender Stoff in die Adern desselben ergießen, und zerstörend und aufbauend fortwirken. Von einem Feste, an welchem man sein Herz in Reden ausgeschüttet, in feurigen Liedern erhoben, und mit Freunden und Gesinnungsgenossen sich ausgesprochen hat, kehrt man beruhigt, und zum Hoffen und Abwarten geneigt, in die friedliche Behausung zurück. Solche Feste wirken in der Regel ableitend, wie Blasenpflaster bei Entzündungen, und ich habe später es nicht begreifen können, daß diese Einsicht nicht weiter verbreitet und nicht, je nach dem Parteistandpunkte, mehr beherzigt worden ist.

Mein Vater mußte seiner Geschäfte wegen nach Neustadt gehen, es war das einer der Punkte, nach denen[38] seine Reise ursprünglich gerichtet war. Es sollte dort eine Weinversteigerung stattfinden, und da der Termin derselben dicht mit dem Hambacher Feste zusammenfiel, beschloß er, demselben beizuwohnen.

Ich hatte großes Verlangen, ihn zu begleiten, und mein Onkel redete ihm zu, mich mit sich zu nehmen; indeß der Vater meinte, daß ich ihm bei einer solchen Feier, deren Verlauf nicht vorherzusehen war, unbequem werden könne, und so reiste er ohne mich ab. Auch Börne ging ein paar Tage vor dem Feste nach Neustadt und kam in sehr gehobener Stimmung zurück. Ich stand dabei, als er dem Onkel und einigen anderen Herren von demselben sprach, und als er mich dann bemerkte, sagte er: »bedanken Sie sich bei mir, ich habe Ihren Herrn Vater, den ich noch gestern gesprochen, bei dem Feste unter meine Protektion genommen. Man war sehr antipreußisch gestimmt, und ich habe gesagt, das sei ein Preuße, den man ruhig als Theilnehmer bei dem Feste lassen könne, das sei kein Spion!«

Es war das ein Scherz, aber nur insoweit, als von meinem Vater die Rede dabei war, denn was die Stimmung gegen Preußen betraf, hatte er die Wahrheit gesprochen. Man warf es ganz mit Rußland zusammen, und ich selber habe es damals in Baden ein paar Mal gesehen, daß auf gedruckten Plakaten an öffentlichen Lokalen unter den Worten: »es wird gebeten, keine Hunde mitzubringen,« der schriftliche Zusatz gemacht worden war: »und keine Preußen!« – Solche Plakate wurden dann zwar bald entfernt, indeß für die Einigung Deutschlands, die man auf dem Hambacher Schlosse anstrebte, war das nicht eben viel versprechend.[39]

Mein Vater kehrte erst einige Tage später von seiner Geschäftsreise wieder, und erzählte uns mit großer Lebhaftigkeit und großer Wärme von dem Feste, dem ersten Volksfeste, das er mitgemacht hatte. Er brachte Siebenpfeiffer's Eröffnungsrede, betitelt: »der Deutschen Mai« und eine Anzahl anderer Drucksachen mit. Es befanden sich darunter die ersten Nummern einer neuen, gleichfalls unter dem Titel: »der Deutschen Mai« erschienenen Zeitung, und viele für das Fest gedichtete Lieder. Alles war in leidenschaftlichem Styl gehalten, und hatte (die Blätter, die ich zum Andenken unter meinen Reise-Erinnerungen aufbewahrt, liegen, während ich dies schreibe, fahl und vergilbt auf meinem Tische) alle Eigenschaften und alle Mängel der Kundgebungen, welche darauf berechnet sind, den Strom der Empfindung aufzuregen, ohne ihm zugleich das Bette anzuweisen, in welches eingedämmt er zu einer treibenden Kraft zu werden vermag. Wo dies aber fehlt, verläuft die höchste Fluth der Begeisterung sich unwirksam und unfruchtbar in's Nichts.

Es waren auf dem Hambacher Schlosse an dreißig Tausend Menschen versammelt und der Enthusiasmus groß gewesen. »Ihr deutschen Männer,« so hieß es an dem Schlusse von Siebenpfeiffer's Rede, »o lasset uns aller Spaltungen vergessen, alle Marken und Abscheidungen beseitigen; lasset uns nur eine Farbe tragen, damit sie uns stündlich erinnere, was wir sollen und wollen, die Farbe des deutschen Vaterlandes; auf ein Gesetz nur lasset im Geiste uns schwören, auf das heilige Gesetz deutscher Freiheit; auf ein Ziel nur lasset uns blicken, auf das leuchtende Ziel deutscher National-Einheit, deutscher[40] Größe, deutscher Macht: und wenn einst alle deutschen Männer dieser eine Gedanke voll und lebendig durchdringt, dann, ich schwöre es bei Thuisko, dem Gott der freien Deutschen, dann wird in strahlendster Gestalt sich erheben, wonach wir Alle ringen und wozu wir heute den Grundstein legen – ein freies deutsches Vaterland. Es lebe das freie, das einige Deutschland! Hoch leben die Polen, der Deutschen Verbündete! Hoch leben die Franken, der Deutschen Brüder, die unsere Nationalität und Selbstständigkeit achten! Hoch lebe jedes Volk, das seine Ketten bricht und mit uns den Bund der Freiheit schwört! Vaterland – Volkshoheit – Völkerbund hoch!«

Alle Welt hatte in Neustadt die deutschen Farben getragen und war dann nach dem Feste heimgegangen, hinter die in allen ersinnlichen andern Farben angestrichenen Grenzpfähle, mit denen die fürstlichen Besitzer der verschiedenen deutschen Vaterländer ihre Territorien gegen einander einhegen. Es war damals ungefähr eben so wie jetzt. Freilich ist es nicht mehr Sitte, Thuisko, den Gott der freien Deutschen herauf zu beschwören; man begnügt sich mit Herrmann dem Cherusker, der uns auch fern genug steht, aber man hat dagegen jetzt auch keinen Namen, wie den von Ludwig Börne, den Jedermann kannte, Jedermann hoch hielt.

Der Vater hatte viel zu erzählen von der Verehrung, welche Börne überall entgegen gekommen war. Wo er sich gezeigt, hatte lauter Zuruf ihn freudig begrüßt; die in Neustadt anwesenden Studenten hatten ihm Ständchen gebracht, Frauen ihm ihre Sträuße gereicht und zugeworfen,[41] und ohne daß er selbst hervorgetreten, war er fast der Mittelpunkt des Festes gewesen.

Mir war bei alle diesen Berichten und Erlebnissen zu Muthe, als schaute ich durch ein Teleskop. Die fernen Welten, von deren Vorhandensein und von deren Einfluß auf unser eigenes Leben ich Kenntniß gehabt, ohne sie gesehen zu haben, traten jetzt plötzlich in meinen Gesichtskreis, und blendeten mich durch ihren Gehalt und ihren Nimbus. Ich konnte mit meinem Denken dem Erleben kaum nachkommen, aber ich hatte doch großes Wohlgefallen an meiner veränderten Lage; und was mir besonders gut that, hier in Baden gefiel ich den Menschen, mit denen ich zusammenkam. Man ließ mich gewähren, man munterte mich auf, man nahm Theil an mir, und daß dies Personen thaten, welche ich mit Grund weit höher schätzte, als diejenigen, die in Berlin nie recht zufrieden mit mir gewesen waren, das steigerte meine Zufriedenheit.

Gleich nach meines Vaters Ankunft von Neustadt machten wir, mein Onkel, der Vater und ich, noch eine Fahrt nach Straßburg. Der Vater wünschte, den Boden Frankreichs zu betreten, ein französisches Theater und den Straßburger Münster zu sehen, und das Alles wurde uns in den zwei Tagen zu Theil, die wir dort verweilten. Es erschütterte mich sehr, als ich die Tricolore zum ersten Male durch die Luft flattern sah, als ich an einem Denkmal die Worte las: au General Dessaix l'armée du Rhin, als am Abende bei der Militairmusik die Melodie der Marseillaise auf französischem Boden zum ersten Male an mein Ohr klang.

Am andern Morgen betrachteten wir die Rosette über[42] dem Portale des Münsters, die Goethe so liebevoll geschildert, und standen am Nachmittage, da die Sonne schon im Sinken war, auf dem Plateau des Münsters, hinabschauend auf die Stadt und auf den Rhein und auf das ganze blühende Land. Ich feierte lauter geistige Erinnerungsfeste. Ich dachte an die französische Revolution und ihre Helden, ich dachte an Goethe und an seine Wege durch diese Fluren, wenn er, das Herz voll Liebe und Lieder, nach Sesenheim gezogen, und ich war voll Dankbarkeit gegen meinen Vater und gegen mein Schicksal, die mir solche Gunst gewährten. Mit einem warmen Herzen und einem enthusiastischen Kopfe, wohl vorbereitet auf das, was ich erlebte, und einundzwanzig Jahre alt, war ich recht eigentlich dazu geschaffen, solche Eindrücke mit nachhaltiger Wirkung in mich aufzunehmen.

Den zweiten Abend schickte mein Vater mich, da er etwas Anderes vorhatte, in das deutsche Theater. Ein Lohndiener führte mich hin und holte mich zurück, und ich genoß in einer Aufführung der Preziosa das tragikomische Vergnügen, die sämmtlichen Dialekte Deutschlands in einer Weise unbefangen und natürlich durcheinander welschen zu hören, wie mir dies nie wieder in solchem Grade vorgekommen ist. Der Zigeunerhauptmann sprach österreichisch, die Viarda schwäbisch, die Preziosa ächt sächsisch; aber man mußte es wohl hier so gewohnt sein, denn Niemand lachte darüber und Niemand gab ein Zeichen des Mißfallens kund.

Kaum nach Baden heimgekehrt, erklärte mir mein Vater, als wir uns Abends in unsere Stuben zurückgezogen hatten, daß er nach einer Ueberlegung mit seinem[43] Bruder es beschlossen habe, mich nicht nach Preußen zurückzunehmen, sondern mich bei demselben zurück zu lassen. Er müsse seine Reise jetzt sehr beschleunigen, davon würde ich keine Freude mehr haben, der Onkel aber beabsichtige, noch in Baden zu bleiben, werde noch eine Tour durch Deutschland machen, von der ich Genuß erwarten dürfe, und vor Allem wünsche er mir den Vortheil zu bereiten, in meines Onkels Hause in Breslau eine Weile zu leben, und die übrigen dortigen Verwandten, namentlich die älteste Schwester meines Vaters, meine Tante Simon, kennen zu lernen.

Ich war im ersten Augenblicke darüber mehr betroffen als erfreut. Die mir bevorstehende Trennung von meinem Vater erschreckte mich, und da ich noch ganz und gar gewohnt war, mit dem Hinblick auf Andere zu leben, so hatte ich bei all meinen neuen Eindrücken und Bekanntschaften immer den heimlichen Gedanken an die Meinen zu Hause, an meine Mutter und Geschwister, an meine Königsberger Freunde und Bekannte gehegt, und mir es mit eitlem Behagen ausgemalt, wie ich diese Alle in Erstaunen versetzen, und welchen Eindruck ich mit meinen Erzählungen auf sie machen würde.

Es befanden sich in meinem heimischen Umgangskreise leidenschaftliche Verehrer von Börne; nun hatte ich Börne gesehen und er hatte öfter mit mir sehr freundlich gesprochen. Ich kannte Frauen und Männer, die sich, wie ich es auch gethan, lebhaft für die Romane von Spindler, für den ›Juden‹, den ›Bastard‹ und den ›Jesuiten‹ interessirten. Jetzt konnte ich ihnen erzählen, daß Spindler ein hübscher, etwas fetter, schwarzlockiger Mann sei, der[44] eine schwarze, mit Schnüren reich besetzte Litewka trage. Ich hatte mit Tante und Großtante Visite bei der alten Madame Meyerbeer und bei Meyerbeer's Schwägerin gemacht, mit denen die Damen seit Jahren befreundet waren, und dabei Herrn Meyerbeer, den berühmten Componisten selbst, gesehen; und das Alles sollte ich nun zu Hause nicht gleich erzählen können, und sollte allein bleiben!

Das wollte mir nicht in den Kopf. Meine ganzen schönen Plane waren damit zu Nichte gemacht, ich fing zu weinen an, und bat und beschwor den Vater, mich mit nach Hause zu nehmen.

Mein Vater ließ sich aber durch mein kindisches Gebahren nicht beirren. ›Ich weiß,‹ sagte er, ›daß Du mich lieb hast, und ich habe Dich auch lieb, aber grade darum lasse ich Dich hier. Es ist nicht abzusehen, ob und wann Dir jemals wieder eine solche Gelegenheit geboten werden wird, Dich in der Welt umzusehen, und dies Glück sollst Du nicht verlieren.‹ – Daß damit die Sache abgethan war, das wußte ich. Mein Vater ging zur Ruhe, ich legte mich auch nieder, aber ich konnte nicht schlafen und es blieb mir also gar Nichts übrig, als in meinem Bette über mein unerwartetes großes Glück so lange zu weinen, als ich es für nöthig fand, denn ich hatte wirklich Furcht, mich sehr nach dem Vater und nach den Meinen überhaupt zu bangen. Eine ganze Reihefolge von Vorstellungen alles dessen, was denselben in meiner Abwesenheit von Hause geschehen, was mir in der Entfernung von ihnen begegnen könne, ging durch meinen Sinn. Von dem Vernünftigen und Wahrscheinlichen schweifte ich zu dem Unvernünftigsten und Unwahrscheinlichsten[45] über; von der dazwischen plötzlich auftauchenden Freude über den Gedanken, daß mir mit solchem Leben in der Fremde etwas Ungewöhnliches geboten, und daß ich damit aus dem Gleise des Gewöhnlichen herausgehoben werde, kam ich wieder zu einer tiefen Traurigkeit über die Trennung von Mathilde und von meinen Brüdern, an denen ich mit großer Liebe hing; und nachdem ich mich dann auch darüber wieder beruhigt hatte, fing ich aus anticipirter Sehnsucht doch noch einmal zu weinen an, und quälte mich auf die thörichtste Weise, bis der Tag zu dämmern und das Tageslicht durch die grünen Jalousien der Stube zu scheinen begann.

Dies flimmernde Licht machte mir Vergnügen. Ich beobachtete, wie es bald diese, bald jene Blume der mille fleurs Tapete, an der ich immer Wohlgefallen gehabt, beleuchtete, wie das Roth des Mohnes und dann wieder das Blau der Cyanen so tief und glühend wurden, wenn der Sonnenschein sie traf, und dann fing ich an, mich über die grünen Jalousien, die mir noch etwas Neues waren, zu freuen. Grüne Jalousien kamen mir so überaus poetisch vor! Auch meine rothseidene Bettdecke und die Klingel, die man mir vor mein Bett gestellt hatte, dünkten mich äußerst vornehm. Der Comfort, der mich umgab, däuchte mir wie der rechte Rahmen um mein Bild. Ich meinte, in solche Umgebung passe ich doch ganz eigentlich hinein, und wie mein Wohlgefallen an mir und den Dingen um mich her mehr und mehr die Herrschaft über meine frühere Empfindungsweise und Gedankenreihe gewann, so wurde ich abgespannter und müder. Ich sah mit angenehmer Empfindung nach der[46] Arabesken-Borte der Tapete hinauf, in welcher aus den Blumenkelchen Frauenleiber hervortauchten. Das alte Spiel meiner Kinderphantasie kam wieder einmal zum Vorschein; die Blumen, die Frauen, die Gesichter der neuen Bekannten, die Gebäude und Gegenden, welche ich in den letzten Wochen gesehen, lösten sich wechselnd vor meinem Auge ab und ineinander auf, und ich erwachte, als man mich am späten Morgen weckte, völlig ausgesöhnt, ja äußerst zufrieden mit der über mich getroffenen Bestimmung.

Meine Verwandten sagten mir, daß sie mich gern bei sich behielten, meine Großtante kündigte mir an, daß ich in Breslau mit ihrer Gesellschafterin zusammenwohnen würde; diese hieß mich auch sehr willkommen, die Kinder freuten sich, wie sich Kinder über Alles freuen, was neues Leben in ihre Häuslichkeit bringt, und dazu war das Wetter so schön und die Gegend so reizend, daß ich mich am Morgen eben so glücklich fühlte, als ich am verwichenen Abende verzagt gewesen war. – Junge Menschen, die ein Bedürfniß nach selbstständiger Entwickelung und nebenher einen Trieb zu poetischem Gestalten in sich tragen, leben eigentlich immer in einer schwankenden Bewegung zwischen ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft. Von der Ersten eben so gefesselt, als von der Letzten mächtig angezogen, kommen sie nur schwer dazu, sich von der Vergangenheit loszulösen und sich fest in die Zukunft hineinzudenken, in der sie für sich selbst stehen und eine selbstständige Bedeutung haben sollen. Sie leben in einem phantastischen Zwischenreich, in dem sie sich selber zu dem Gegenstand poetischer Ausschmückung machen, bis sie die Kraft gewonnen haben, frei zu schaffen und die Gestalten[47] ihrer Einbildungskraft, von sich selbst abgelöst, in der Dichtung darzustellen. Die poetisch begabte Jugend führt daher unwillkürlich und selbst bei natürlicher Wahrhaftigkeit, in der Regel das Dasein eines sich betrügenden Betrügers, und nährt sich von Leiden und Freuden, die beide oft gleich grundlos sind.

Da die Tage gezählt waren, die mein Vater noch mit uns zubringen konnte, und das Wetter uns begünstigte, so sollte an dem nächsten Nachmittage noch eine Partie in den Schwarzwald hinein gemacht werden. Wir fuhren, weil die Tante sich nicht auf so viel Stunden von ihrem Säugling trennen konnte, zu Dreien: der Onkel, der Vater und ich; und da wir viel bergauf zu fahren hatten, war eine sehr leichte Briczka mit zwei starken Pferden bestellt worden, in welcher wir bei dem hellsten Sonnenschein, an dem hohen Felsenufer der Murg zunächst nach Gernsbach fuhren. Um den ganzen Ueberblick der Gegend zu haben, hatte ich mich zu dem Kutscher hinausgesetzt, und bald langsamer, bald schneller fahrend, wie das wechselnde Steigen und Fallen des Weges es mit sich brachte, waren wir auf einer Höhe angelangt, auf welcher der Kutscher anhielt, um die Hemmschuhe zum Hinunterfahren anzulegen.

Ich war aufgestanden, um mich umzusehen, und Onkel und Vater riethen mir, bei dem langsamen Hinabfahren des Wagens auch stehen zu bleiben, wenn ich es ertragen könne. Kaum aber war der Wagen hundert Schritte vorwärts gekommen, als ein leises Klirren und Knacken sich hören ließ. Die Kette des einen Hemmschuhes war gerissen, der Wagen bekam dadurch eine[48] schiefe Richtung, die auch das andere Rad aus dem Hemmschuh brachte, die Pferde vermochten den Wagen kaum aufzuhalten, und pfeilschnell herabrollend, zur Rechten in schwindelerregender Tiefe unter uns das dunkle, reißende Wasser der Murg, schwebten wir ein paar Minuten lang in einer wahrhaften Todesgefahr. Ein falscher Tritt, ein Straucheln der Pferde, und wir waren rettungslos verloren.

Mein Vater und mein Onkel waren Beide aufgesprungen, um mich auf den Sitz hinabzuziehen, mein Vater blieb stehen und hielt mich fest. Kein Laut, kein Ausruf kam über unsere Lippen; aber als es dem Kutscher endlich gelang, den Wagen und die Pferde zum Stehen zu bringen, als wir einander betrachteten, da waren wir Alle blaß genug, und tief aufathmend sagte der Vater: »Das war kein Spaß! aber Du bist recht vernünftig dabei gewesen!«

Es war das die einzige große Gefahr, in welcher ich mich bei allen meinen vielen Reisen mein Leben hindurch befunden habe, und ich erinnere mich, daß ich gar keine andere Empfindung dabei hatte, als die einer athemlosen Spannung. Das Entsetzen kam erst über mich, als wir in Ruhe waren, und mehrere Tage später, als mein Vater schon abgereist war, konnte ich an den Augenblick nicht denken, ohne daß mir die Thränen in die Augen traten.[49]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 2, Berlin 1871, S. 25-50.
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