Drittes Kapitel

[50] Mein Vater reiste in der ersten Woche des Juni von Baden ab, und es hatte in dem Plane meines Onkels gelegen, daß wir bis Ende August in Baden bleiben sollten. Indeß wie die Furcht vor der Cholera, von der besonders meine Tante und meine Großtante ergriffen waren, die Familie einst von Breslau fortgetrieben hatte, so machte das Fortschreiten der Epidemie, die sich mehr und mehr dem westlichen Deutschland näherte, auch unserem Aufenthalt in Baden schnell ein Ende.

Die Badener Aerzte vertrösteten zwar mit der Hoffnung, daß die Orte, welche warme Quellen hätten, von der Seuche bisher verschont geblieben wären; eine Garantie für ihre Behauptung und für das Zutreffen ihrer Aussage, wie die Großtante sie verlangte, konnten sie ihr jedoch nicht leisten, und Alles in Allem genommen mochte wohl auch mein Onkel sich nicht der Möglichkeit aussetzen wollen, der drohenden Krankheit mit einer Familie, wie die seine, außerhalb der Heimath zu begegnen.

Die Herrlichkeit in Baden währte also nicht lange, und eines schönen Tages befanden wir uns mitten in den Zurüstungen zur Abreise. Die beiden großen Reisewagen wurden vom Stellmacher und vom Schmied[50] untersucht, die Koffer, Walisen, Waschen und Reisesäcke wurden vom Sattler nachgesehen, eine Masse von Büchern und Geräthschaften, welche man im Verlauf der anderthalb Jahre in Süddeutschland gekauft, wurden einem Spediteur zur Nachsendung übergeben, und es hob nun ein Packen an, das darum so schwierig war, weil Jeder Alles auf das Bequemste haben sollte und wollte, und deshalb die Ordre gegeben war, eine ganze Menge von Sachen »zu oberst« zu legen, was natürlich nicht möglich war.

Bei diesen Reisezurüstungen sah ich es denn zum ersten Male, wie schwer die Menschen sich das Leben machen, die keine Unbequemlichkeiten und Entbehrungen ertragen mögen, und wie die Reichen vor lauter Bestreben, sich die durch ihr Vermögen ihnen zu Gebote stehenden Vortheile zu Nutze zu machen, in einen Zustand hineingerathen, um den sie wirklich nicht zu beneiden sind, weil sie sich und Anderen damit beschwerlich, ja zur Qual werden.

Um die Freiheit, welche der Besitz gewährt, mit Vortheil für sich und für seine Umgebung zu benutzen, muß man, das habe ich später hundertfach erfahren, einen innern Gehalt und eine wirkliche Bildung haben. Mir ist nie ein Armer vorgekommen, der mir mit den Klagen über seine bittere Noth soviel zu schaffen gemacht hätte, als die Reichen mit ihrer Unentschlossenheit über das, was sie wollten, und mit den Lamentationen über ihre eingebildeten Unbequemlichkeiten und Behinderungen. Sie bedenken dabei auch gar nicht, wie kleinlich, geistesleer und herzlos sie Demjenigen erscheinen müssen, dem sie[51] ihre Beschwerden und Entbehrungen klagen, und der, durch seine Bildung vielleicht zu höheren Ansprüchen als die ihrigen berechtigt, mit unendlich Geringerm sich ein edles und schönes Leben zu bereiten weiß. Es haben mir oft Männer, und namentlich Frauen, weitläufig auseinandergesetzt, wie sie mit ihren acht großen Zimmern und ihrer Dienerschaft nicht fertig werden und nicht auskommen könnten, während sie in unsern kleinen, engen Stuben unsere Gäste waren, und sich von unserer einzigen Magd bedient fanden. Und es ist mir oft ein wahrer Widerwille angekommen gegen die aufgeputzte Unkultur, die sich den Anschein geben möchte, an geistigen Interessen Theil zu nehmen, während es sie aus ihrer Fassung bringt, wenn sie ein Zimmer weniger hat, und sie lang und breit darüber sprechen kann, wer ihr die Bouillon und den Haferseim bereiten werde. Ich habe lachen müssen, wenn solche Personen mich glauben machen wollten, daß irgend ein Höheres in ihnen vorhanden sei, als die Sorge für ihr jämmerliches Ich.

Meine Großtante hatte es aber gar kein Hehl, daß sie sich als die Hauptsache, ja, als der Mittelpunkt der Welt erschien; und da die Tante sie sehr liebte, und der Onkel dieser höchst gefällig war, so that man Alles, die alte Dame zufrieden zu stellen.

Daß wir reisen sollten, stand entschieden fest, aber wann und wie wir reisen sollten, darüber konnten die beiden Damen zu keinem Entschlusse kommen, und mein Onkel kam mir dabei gradezu bedauernswerth vor. Meine arme Tante, der das Reisen mit dem Säugling beschwerlich sein mußte, wollte natürlich gern auf dem[52] kürzesten Wege, und so schnell als möglich, nach Hause fahren. Ihre Mutter dagegen wollte nur ganz kurze Tagereisen machen und vor allen Dingen jeden Ort vermeiden, an dem sich auch nur Spuren von Cholera oder Brechruhr gezeigt hätten. Trennen wollte man sich, da die Seuche überall spukte, unter keiner Bedingung von der alten Frau, und so ließ sich denn der Onkel endlich herbei, nach den verschiedenen Städten, in denen wir übernachten sollten, zu schreiben, und Erkundigungen über den Stand der Gesundheit in denselben einzuziehen. Daß dieser sich längst geändert haben konnte, ehe Anfrage und Antwort ihren Weg, und endlich wir selbst die Reise nach dem betreffenden Orte gemacht haben konnten, daran dachte natürlich die Großtante durchaus nicht. Sie war vollkommen beruhigt und zufrieden, als die Briefe geschrieben und abgeschickt worden waren; und als dann endlich aus dem Bureau unserer Gesandtschaft in Frankfurt am Main die Nachricht anlangte, daß, so viel man wisse, zwischen Baden-Baden und Frankfurt, und in Frankfurt selbst, Alles noch gesund sei, traten wir unsere Reise an.

Das war in jenen Tagen aber noch eine andere Expedition als jetzt. Schon am Abend vorher standen die Reisewagen, da das Haus, in welchem wir wohnten, keine Remise hatte, gepackt vor der Thüre, wurden fest verschlossen und ein Mann engagirt, der bei ihnen Wache halten mußte. Und nun am Morgen der Aufbruch selbst!

Die Damen und die Kinder hatten jeder irgend eine Bequemlichkeitsgewohnheit, von der sie auch in der letzten Nacht nicht lassen zu können gemeint, und es gab denn am Morgen noch ein Packen und Kramen und Hasten[53] ohne Ende. Hier standen eine Nachtlampe und eine Nachtuhr, dort lag eine seidene Steppdecke und ein seidenes Plümeau; rechts lag ein ledernes Kopfkissen und links ein wattirter Morgenmantel, der durchaus beim Frisiren umgebunden werden mußte; hier war eine Hausapotheke, die Nachts ebenso durchaus vor dem Bette stehen mußte, und daneben gab es noch ein Dutzend anderer durchaus unentbehrlicher Unnöthigkeiten zu verpacken. Die Dienstboten, das Gesellschafts-Fräulein, die Pflegetochter, der Onkel, die Frauen hatten alle Hände voll zu thun; der Hauslehrer, einer der zerfahrensten und konfusesten deutschen Gelehrten, den das Schicksal wirklich im Zorn zum Hauslehrer gemacht haben mußte, und der sich zum Erzieher eignete, wie ein Bär zum Zitherschlagen, lief, sich den Kopf mit beiden Händen krauend, und dabei eigentlich völlig kopflos, in den Zimmern umher, um die Kinder zusammen zu halten; und man athmete erst auf, als alle die Päcke, Chatoullen, Necessaires, und endlich auch die Frauen und Kinder in den Wagen untergebracht und festgesetzt waren, als man die Wagenthüren zuschlug, die Postillone in's Horn stießen und die beiden großen, vierspännigen Karossen sich in Bewegung setzten.

Ich fuhr mit der Großtante. Wir saßen zu Vieren in ihrem sehr bequemen Wagen: sie selbst, ihre Gesellschafterin, ihre Pflegetochter und ich. In unserm Coupé, denn beide Wagen hatten Coupé's, der Hauslehrer, der in der Regel eines oder das andere der Kinder bei sich hatte, wenn nicht eine von uns es vorzog, draußen zu sitzen; und in des Onkels Wagen[54] reiste er mit seiner Frau, mit seinen übrigen Kindern und der Wärterin.

Unser Weg ging wieder über Heidelberg und Frankfurt, wo wir mehrere Tage verweilten. Dann besuchten wir die Taunusbäder: Wiesbaden, Schlangenbad, Schwalbach, gingen von Mainz bis Coblenz zu Schiff, machten einen mehrtägigen Aufenthalt in Coblenz und Ems, und eine zweite Schifffahrt bis Cöln, um den Rhein noch weiter kennen zu lernen, und kehrten dann nach Coblenz zurück, von wo wir die eigentliche Heimreise nach Breslau antraten.

Für mich war die Reise, so viel Unbequemlichkeiten und Mühen sie auch für den Onkel mit sich brachte, eine äußerst vergnügliche. Hatte er, wie er es nannte, am Morgen Alles »herausgelotset« und am Abend Alles untergebracht, was keine Kleinigkeit war, da wir immer sechs Zimmer haben mußten, so gewann sein ungemein heitrer Sinn gleich die Oberhand. Stets zur Mittheilung geneigt, sehr leichtlebig und frei im Verkehr mit Fremden, machte er viel Bekanntschaften, und mir war es damals noch eben so neu als genußreich, Fremde zu sehen und mit ihnen zu verkehren.

Dazwischen fehlte es an komischen Intermezzi nicht. Bald hatte die Großtante, die immer ihr eigenes Besteck mit sich führte und nur mit diesem aß, im Eifer des Aufbruchs, ein Besteck des Hotels in ihr Etui gepackt, während ihre Pflegetochter das richtige Besteck reinigen ließ, und wir wurden dann, nachdem wir das Hotel schon verlassen hatten, in unsern vornehmen Reisewagen angehalten, worüber die alte Dame und ihre Kinder, jeder[55] auf seine Weise, empört und zornig waren, um die mitgenommenen Messer und Gabel auszuliefern; bald wohnten wir, wie in Coblenz, in elenden Erkerstuben, weil der Emser Wirth in dienstbeflissenem Eifer heimlich die Bel-Etage für uns im Voraus bestellt und unsern Namen so undeutlich geschrieben hatte, daß der Besitzer des Coblenzer Gasthauses seine guten Zimmer für uns in Bereitschaft hielt, während wir so schlecht als möglich untergebracht waren. Aber mich focht das Alles gar nicht an. Ich war gar nicht verwöhnt, hatte auf dieser Reise viel mehr an Luxus, als ich jemals gehabt und bedurft, wurde auf das Gütigste behandelt und hatte die größte Freude an all dem Schönen, das sich mir an jedem Tage darbot. Die halben Nächte durch saß ich mit der Pflegetochter des Hauses, mit der ich gewöhnlich zusammen wohnte, auf dem Fensterbrett unserer Stube, in Ems und in Coblenz, und schaute auf die Nahe, und schaute auf den Rhein hinab, und sah, wie drüben über dem Ehrenbreitenstein die Sterne funkelten, und wie sie wiederschienen aus dem dunkeln, schnell hinfluthenden Strom, und die Stille und Abgeschiedenheit thaten mir in dem Hinblick auf die Natur unbeschreiblich wohl. Es löste sich in solchen Stunden so Manches von mir ab, was mir das Herz zusammengepreßt und den Sinn befangen hatte. Ich konnte freier sehen, weiter hinausdenken in die Ferne und in die Zukunft, und was für mich und meine ganze Entwicklung wohl die Hauptsache war: ich lernte mich in dieser nächtlich stillen Betrachtung als selbstständiges Wesen empfinden, während ich am Tage in dem vielseitigen Menschenverkehr bewußt und[56] unbewußt manche von den Eigenheiten und Wunderlichkeiten abzulegen begann, die allen den Menschen ankleben, welche stets in einem sehr fest begrenzten Familienkreise gelebt, und sich dadurch gewöhnt haben, ihn als ihre Welt anzusehen. Denn das Familienleben hat die doppelte Eigenschaft, dem Menschen die letzte und höchste Ausbildung zu geben, wenn er sich frei und mit dem Auge auf das Allgemeine gerichtet, innerhalb desselben bewegt, und ihn beschränkt und kleinlich, ja oft völlig ungenießbar und unbrauchbar zu machen, wenn er sich von demselben befangen läßt und ganz in demselben aufgeht. Darin liegt der Grund, weshalb Männer, welche meist reifer in die Ehe eintreten, sich in derselben häufig zu ihrer Vollendung entwickeln, und Frauen, bei denen Reife in jungen Jahren so überaus selten ist, in der Ehe eben so häufig förmlich zu Grunde gehen.

Unsere Reise ging langsam von statten, und das um so mehr, als die Cholera nach wie vor unsern Reisemarschall machte. Von Frankfurt hatten wir ursprünglich unsern Weg über Würzburg und Prag nach Breslau nehmen sollen, da sich aber inzwischen die Seuche in jenen Gegenden hier und da gezeigt hatte, wurde noch am Vorabende unseres Aufbruchs von Frankfurt die Reiseroute verändert, und wir schlugen mit einem großen Umwege unsere Straße über Kassel und Berlin ein, wobei denn später noch ein Extra- Umweg nöthig wurde, da man das infizirte Erfurt zu vermeiden wünschte.

In Kassel machten wir einen längern Halt, um die Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen. Wir durchzogen das ganze Schloß mit den, aus der Napoleonischen[57] Zeit stammenden Prachtmöbeln und den frostigen, silbergestickten Paradebetten; wir fuhren nach der Wilhelmshöhe und kletterten bei einer wahrhaft tropischen Hitze in der Statue des Herkules umher; und da die Tante am verwichenen Tage an der table d'hôte, bei welcher unser Eintritt, zehn Mann stark, immer ein Gegenstand des Staunens war, von ihrem Nachbar erfahren hatte, daß in Kassel ein botanischer Garten sei, so fuhren wir, auch diesen zu besichtigen. Das war jedoch ein schwer Stück Arbeit. Denn der Garten, um den es sich handelte, gehörte einem Herrn Scheelhas, einem Privatmanne, der uns auf Ansuchen meiner Tante den Garten, so viel ich mich erinnere, selbst zeigte, oder durch seinen Gärtner zeigen ließ. Er war natürlich auf dem sonnigsten Punkte der Gegend angelegt, und um uns für die Erklärungen dankbar zu beweisen, welche unser Cicerone uns angedeihen ließ, zogen wir, die Tante, ich und die Pflegetochter stundenlang auf dem großen, zu Ehren der tropischen Pflanzen, stellenweise ganz schattenlosen Terrain umher, während die Julisonne uns unbarmherzig auf den Köpfen brannte, und unser Cicerone uns eben so unbarmherzig von all den Holztäfelchen neben den Pflanzen und Gewächsen die lateinischen Namen hersagte, mit denen ich für mein Theil auch nicht den leisesten Begriff verbinden konnte.

Halb todt vor Hitze und Ermüdung langten wir in dem Gasthof an. Die Tante, die an Migraine litt, bekam einen heftigen Anfall derselben und mußte zu Bette gehen; ich hatte das ganze Gesicht von der Sonne schmerzlich aufgebrannt, und der Onkel, der, wie wir[58] Alle, am verwichenen Tage sein reichlich Theil von Mittagssonne genossen hatte, als an dem hessischen Grenzzollamte auf offener Heerstraße unsere sämmtlichen Koffer abgeschnallt und geöffnet worden waren, empfing uns im Schatten der Gasthofshalle behaglich Obst essend und uns auslachend über den wissenschaftlichen Eifer seiner Frau. Solche Ereignisse kamen öfter vor, und es war belustigend, es zu beobachten, wie die einzelnen Personen unserer Karavane sich überhaupt zu dem Reisen verhielten.

Die Großtante, welche der Urheber der ganzen Fluchtreise gewesen war, reiste im Grunde nicht ungern, weil es sich für eine reiche Frau schickte, Reisen zu machen, und weil sie, wie alle alten, müssigen Damen, neugierig war und die Abwechselung liebte. Sie rührte sich nicht ohne den Lohndiener und schwor ohne Weiteres auf diesen. Je älter und gesetzter der selbe war, um so sicherer fühlte sie sich bei seiner Führung und Belehrung. Hatte er gar berühmte Leute zu nennen, die er früher herumgeführt, so war sie vollends beruhigt, und gegen die Autorität ihres Lohndieners, dem es natürlich von ihr gleich beim Beginn der Tour ausdrücklich eingeschärft wurde, daß sie kränklich sei, und daß er sie nicht übermüden dürfe, gab es dann gar kein Aufkommen, so daß die Gesellschaft ihre Besichtigungen in der Regel in zwei Partieen unternahm.

Die Tante wollte, wo möglich, zur Beruhigung ihres Gewissens Alles sehen; der Onkel, wo möglich, Nichts. Er war kein Freund von Merkwürdigkeiten, und die Menschen und die Zustände in den verschiedenen Ländern interessirten ihn mehr, als die merkwürdigen Sachen und[59] die Dinge. Der Hauslehrer, der, seit er aus den Bergen zum ersten Male in seinem Leben in das Flachland gekommen war, sich wie ein Fisch auf dem Trocknen befand, fragte überall zuerst, ob am Orte gutes Bier zu haben sei. Er sehnte sich nur nach der Bekanntschaft der renommirtesten Kneipen. Die Gesellschafterin hatte einen Zug zum Sentimentalen. Sie fand immer irgend einen Baum, oder ein Monument, oder ein Grab, von dem sie einen Zweig in ihr Stammbuch legen und mit einer passenden Notiz versehen konnte. – Und bei all diesen abweichenden Neigungen hielten natürliche Güte, Bildung, Gewohnheit, und vor Allem die bestimmte Festigkeit des Onkels, diese aus den verschiedensten Elementen bestehende Gesellschaft doch so vortrefflich zusammen, daß ich mich nicht eines einzigen störenden Ereignisses auf der ganzen Reise zu erinnern wüßte, außer denen, die durch die Kränklichkeit des einen Sohnes herbeigeführt wurden, der in Gießen die Bräune bekam, und uns nöthigte, dort bis zu seiner Herstellung zu verweilen.

Aber bei all dem Guten und Genußreichen, das die Reise mir zu bieten hatte, machte ich doch die Erfahrung, daß derartige Unternehmungen mit einer großen Familie mehr eine Last, als ein Vergnügen sind. Die Bedürfnisse einer solchen sind im Nomadenleben nicht leicht zu befriedigen, und so oft ich später großen Familien auf der Reise begegnet bin, habe ich immer meine stille Freude daran gehabt, daß ich nicht von der Partie zu sein brauchte.

Da wir nun einmal über Berlin gingen, so verstand es sich von selbst, daß man sich dort ausruhen mußte.[60] Die Großtante, eine geborene Berlinerin, hatte noch nahe Verwandte in Berlin am Leben, Onkel und Tante besaßen dort manche Freunde und viele gesellschaftliche Beziehungen, und so wurden wir denn noch einmal förmlich im Hotel de Rome installirt, und ich hatte Zeit und Muße, mit der Tante, die viel Neigung für die Kunst besaß und viel mehr davon verstand, als ich in jenen Tagen, das Museum und namentlich die Antiken-Gallerie und die Rotunde zu besuchen, nach der meine Sehnsucht unvermindert geblieben war.

Daneben sah ich auch die Personen wieder, die ich bei meinem ersten Aufenthalte in Berlin hatte kennen lernen, und ich fand mich von ihnen zu meinem Erstaunen nun ganz anders aufgenommen, als zuvor. Da ich die Wege nicht kannte, und die Großtante gern umherfuhr und Leute sah und sprach, begleitete sie mich fast überall, und ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß die Zustimmung, deren ich jetzt so viel mehr als früher theilhaftig wurde, wesentlich auf Rechnung der Equipage zu setzen war, in welcher ich vorfuhr, auf Rechnung des Lohndieners, der uns anmeldete, und auf Rechnung meiner reichen Großtante, die mich mit ihrer Gesellschafterin chaperonnirte. Dazu hatte mein Onkel mich in Baden-Baden freigebig mit ein Paar nach neuester Pariser Mode gemachten Anzügen beschenkt. Meine Taillen und meine Kleider waren also äußerst kurz, meine Stiefel von bester Façon und nußbraun, meine Aermel weit wie Säcke, die weißen Pellerinen mit ihren hohen gesteiften Fraisen unproportionirt groß, die Kravattentücher möglichst reich, der rosa Bibi-Hut, mit[61] französischer Rose, möglichst klein, der Sonnenschirm umfangreich wie ein Regenschirm, und dies Ensemble von Knappheit und Weite, das ganz unharmonisch war, fand vor den Augen meiner früheren weiblichen Kritiker solchen Beifall, daß ein Theil davon auf mich selber zurückfiel, und ich um mehrere Grade in ihrer Achtung und Anerkennung stieg. Ich ließ mir das sehr gern gefallen, ich hatte es noch durchaus nöthig, Wohlwollen und Zustimmung zu finden, und doch wußte ich ganz genau, wie hoch diese Art des Beifalls und der Freundlichkeit anzuschlagen und wie viel sie werth waren. Man ist aber nicht nur in seiner frühen Jugend so thöricht, dasjenige zu erstreben und aus Schwäche hoch anzuschlagen, was man bei ruhiger Ueberlegung gering schätzt!

Wir hatten ein paar Tage mehr in Berlin zugebracht, als ursprünglich in der Absicht gelegen hatte, und der Onkel drängte nun zum Fortgehen, obschon, wie ich glaube, die erste Aufführung von Robert dem Teufel in Aussicht stand, zu welcher die Mutter des Componisten eine Loge angeboten hatte. Aber der Onkel hatte es offenbar völlig satt, das Wanderleben der Erzväter an der Spitze ihres Stammes weiter fortzuführen, und trotz aller Bitten und Vorstellungen blieb es bei der Reise. Indeß der Mensch denkt und Gott lenkt!

Wir waren keine Tagereise von Berlin entfernt, als der schon einmal erkrankte Knabe wieder einen schweren Anfall von Bräune bekam, und nun saßen wir sammt und sonders in dem elenden Gasthof des kleinen Städtchens Münchenberg, in schwerer Sorge um das Kind, ohne Vertrauen zu dem Arzte, den man herbeigerufen[62] hatte, da die gewohnten und immer bereit gehaltenen Mittel nicht helfen wollten, und sehnten uns nach Berlin zurück, wo eine solche Katastrophe viel weniger beängstigend gewesen wäre, und wo man obenein Robert den Teufel spielte.

Aber auch diese Gefahr ging glücklich vorüber, und zwei Tage später sahen wir den Elisabeththurm vor uns emporsteigen, und fuhren in die engen Straßen des alten Breslau ein, Alle mehr oder weniger zufrieden, an Ort und Stelle, und in der Heimath zu sein.[63]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 2, Berlin 1871, S. 50-64.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Meine Lebensgeschichte
Meine Lebensgeschichte (1; V. 3); Von Fanny Lewald
Meine Lebensgeschichte (2-3); Von Fanny Lewald
Meine Lebensgeschichte (1)

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.

70 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon