Viertes Kapitel

[64] Breslau hat auf mich, so oft ich es besuchte, in seinem eigentlichen Kerne niemals den Eindruck einer deutschen Stadt gemacht, und achtzehnhundert zweiunddreißig erschien es mir besonders fremdartig. Es war nicht der Markt, vielleicht der schönste Marktplatz in Deutschland, mit seinem alterthümlichen, spitzgiebligen Rathhaus, dessen graues Gestein so malerisch von Epheu umzogen ist, es waren auch nicht die alten Kirchen, oder die einzelnen zum Theil sehr alten Häuser, die mir auffielen und als nicht deutsch erschienen, sondern ein gewisses, mir selbst unerklärliches Etwas in der Physiognomie der Stadt, von dem ich mir sagte, das sei polnisch, ohne daß ich bis dahin jemals eine polnische Stadt gesehen hatte. Es war vollkommen anders, als das kleinstädtische und unschöne Königsberg, und auch vollkommen anders als Berlin und alle die andern Orte, durch die wir gekommen waren. Am meisten gemahnte es mich an Leipzig, aber auch dieses hatte jenen polnischen Anstrich für mein Auge gehabt. Selbst in neuer Zeit, in welcher die Ausdehnung der Städte, über ihre frühere Grenze hinaus, sich auch in Breslau und Leipzig nothwendig gemacht, und die Neubauten der Vorstädte auf die Bauten in der[64] innern Stadt ihre rückwirkende Kraft geübt, haben Breslau und Leipzig den ihnen gemeinsam fremdartigen Charakter für mich noch nicht verloren, ohne daß es mir möglich wäre, es mir völlig klar zu machen, wodurch diese Wirkung hervorgebracht wird.

Wie in vielen alten Städten, haben die einzelnen Häuser in Breslau Schilder und Embleme, von denen sie ihren Namen führen, Damals hatte die Familie meines Onkels den sehr weitläufigen ersten Stock der »drei Mohren« an der Ecke des Blücherplatzes inne, und kaum waren wir vor dem alterthümlichen Portal des Hauses vorgefahren, als die Familie sich auch schon von einer ganzen Menge von Verwandten und Bekannten begrüßt fand.

Der älteste Onkel Lewald, mein Onkel Simon mit der ältesten Tochter, verschiedene Vettern meiner Tante Lewald von ihrer väterlichen Seite, der Hausarzt, und die Hausfreunde, und der alte Kutscher mit seiner Frau, und die Dienerschaft des Hauses, und noch Dieser und Jener waren herbeigekommen, uns zu erwarten. Fragen, Erzählungen, Bestellungen wirrten durch einander. Ich wurde meinen Verwandten vorgestellt, es kamen allmählig noch andere weibliche Familienmitglieder herbei, der Unruhe wurde immer mehr, das Auspacken der nothwendigsten Dinge begann inzwischen auch, und als ich mich in dem Eßzimmer, das noch am ruhigsten war, auf einen Fenstertritt setzte, um auszuruhen, schlief ich in demselben Augenblicke ein, um kurz darauf unter dem Lachen meiner Onkel sehr beschämt zu erwachen. Man sagte mir, da ich nun wohl ausgeschlafen hätte, müsse ich noch heute, und zwar jetzt gleich, mit meinem Onkel Simon zu der[65] Tante hinausgehen, da diese mich zu sehen wünsche und ihr Haus nicht gern verlasse.

Tante Minna, wie mein Vater die Tante bezeichnete, wenn er von ihr sprach, war die älteste der Geschwister, und wurde von Allen eben so sehr geliebt, als – und dies selbst von den Brüdern – mit einer unverkennbaren Unterordnung unter sie, verehrt. Sie und ihr Haus waren das Ideal meiner beiden väterlichen Tanten; die Großtante selbst sprach von »Minna« mit einem ganz andern Tone, als von allen andern Menschen, und es waren eben auch Tante Minna und die Ihren gewesen, deren Bekanntschaft der Vater mir in Aussicht gestellt hatte, als er mich mit dem Gedanken an eine lange Entfernung von Hause hatte aussöhnen wollen.

Ich selbst war schon seit mehreren Jahren dazu angehalten worden, der Tante und ihren Töchtern zu schreiben, und es hatte sich ein freundlicher Verkehr zwischen uns herausgebildet. Meine Cousinen, die zum Theil älter, zum Theil jünger waren als ich, wußten von unserem Leben, wie ich von dem ihren, und wenn die Tante zwischen unserer Correspondenz einmal ein Briefchen einschaltete, so war mir das stets als eine besondere Gunst angerechnet worden. Die Tante war ihrer ganzen Natur nach zurückhaltend und genoß, ohne alle Berechnung, die Vortheile, welche eine solche Gemüthsart gewährt. Man muß aber vielleicht, wie ich, durch seine eigene hingebende Weise sehr viel gelitten haben, um die natürliche Anlage zur Zurückhaltung als einen der größten Vorzüge für Denjenigen anzuerkennen, dem sie innewohnt.

Wir hatten ein Ende zu gehen, bis wir die Sommerwohnung[66] erreichten, welche die Simon'sche Familie damals vor dem Schweidnitzer Thore in dem Konrad'schen Hause gemiethet hatte.

Müde und eben von der Reise angekommen, nach anderthalb Jahren zum ersten Male wieder mit seiner eigenen zahlreichen Familie in dem eigenen Hause, machte der Onkel Friedrich Lewald sich doch mit Onkel Simon und mir gleich auf den Weg, um die älteste Schwester noch an demselben Abende zu besuchen, und die ganze Familie schien dies nur in der Ordnung zu finden. Für den gläubigen Neophyten wird der Gott aber mehr und mehr erhoben, durch den Cultus, welchen seine Priester ihm zollen, und da ich sehr dazu geneigt und ganz darauf vorbereitet war, diese Schwester meines Vaters zu lieben und zu verehren, so wuchs diese Empfindung und die Spannung, mit welcher ich der Begegnung harrte, durch des Onkels Rücksicht für seine Schwester, in mir nur noch höher empor.

Das Konrad'sche Haus lag in einem großen, schattigen Garten, und mir klopfte das Herz, als wir in das Thor desselben eintraten, als meine Cousinen uns vom Hause her entgegen kamen, und ich die Tante aus der Gartenstube hervortreten und, da sie äußerst kurzsichtig war, mit der Lorgnette nach uns ausschauen sah. Sie stieg, da sie uns gewahrte, die Treppe hinunter und als sie vorwärts schritt, bemerkte ich, daß sie ein wenig hinkte, aber da ihr Gang schnell und für ihr Alter ungewöhnlich leicht war, so fiel jene Schwäche, die ihr durch die Blattern zugekommen war, durchaus nicht unangenehm an ihr auf.[67]

Sie umarmte ihren Bruder, umarmte mich darnach, und sagte mit sehr sanfter Stimme, während sie die Augen leise zusammenzog, um mich deutlicher zu sehen: »Sei willkommen, Kind! Du bist Deinem Vater recht ähnlich!« – Ich war von ihrem Anblick, von ihrer Stimme, von ihren wenigen Worten gerührt und gewonnen. Ich küßte ihr die Hand und war ihr durch jenen selten täuschenden Zug von Sympathie schon im ersten Augenblicke von Herzen ergeben, ehe ich noch ahnen konnte, wie sehr ich sie lieben und welch großen Einfluß sie auf mich gewinnen würde.

Die Tante war, wie ich denke, damals in den ersten Fünfzigern und eine mittelgroße, sehr fein gebaute Gestalt. Sie glich ihren Geschwistern, ohne daß ihre Züge so schön und edel gewesen wären, als die meines Vaters und seiner einen Schwester. Sie war blatternarbig und bleich, hatte helle Augen, denen man auch in der Nähe ihre Kurzsichtigkeit anmerkte, und deren schwermüthiger Ausdruck sich nur verlor, wenn irgend ein angenehmes Ereigniß oder ein Scherz, dem sie sehr zugänglich war, sie heiter stimmte, wobei dann ihre Miene etwas höchst Anmuthiges und Gewinnendes bekam. Vor Allem aber waren es ihre leise Stimme, die Art sich auszudrücken, und die feinen Züge um ihren Mund, die sie so einnehmend machten, wenn sie sprach; und wie es edle stylvolle Räume giebt, welche Demjenigen, der in sie eintritt, es zu verbieten scheinen, daß er Geringes und Unedles in ihnen äußert, oder auch nur denkt, so wirkte die Tante beruhigend und maßgebietend auf Alles, was sich um sie her bewegte.[68]

Sie war eine ganz und gar ernsthafte Frau, und es giebt gar wenige unseres Geschlechtes, auf welche diese Bezeichnung anzuwenden ist. Alle jene kleinen Neigungen, in denen die Mehrzahl der Frauen sich gehen läßt, alle die Schwächen und Schwachheiten, die sie als besondere Eigenschaften des Geschlechtes, alle jene Thorheiten, die sie als Niedlichkeiten in sich hegen und pflegen, waren ihr durchaus fremd. Sie liebte den Putz nicht, obschon sie immer von größter Sauberkeit in ihrer ganzen Erscheinung war. Sie hatte gar kein Bedürfniß nach Zerstreuung, weil ihre innere Sammlung sie befriedigte, sie sehnte sich nach keinen Reisen, weil ihr Haus ihr die Welt ersetzte, sie hielt fast gar keinen Verkehr mit Fremden, weil sie sich in ihren Kindern eine ihr vollkommen zusagende und sie geistig erfrischende Gesellschaft erzogen hatte, und diese Art zu sein macht es erklärlich, daß oft Monate vergingen, ohne daß sie auch nur für ein paar Stunden ihr Haus verließ. Im Sommer, wenn man eine Gartenwohnung bezogen oder sich nach einem der schlesischen Badeorte begeben hatte, spazierte sie, da sie die Natur sehr liebte, in ihrem Garten, und konnte dann lange und liebevoll einem Vögelchen oder einem Käfer zusehen, und sich mit großer Freude grade in die Betrachtung der kleinsten, unscheinbarsten Grasblüthen versenken. Winters ging sie im Dämmerlicht alltäglich in ihrem Zimmer auf und nieder, um sich Bewegung zu machen, und es war dann ein Genuß für uns Alle, ihre sanfte Stimme mit uns plaudern, und wenn sie heiter war, ihr ebenso sanftes Lachen zu hören. Aber ihre Abgeschlossenheit war keine egoistische, denn sie war[69] hilfreich und theilnehmend, wo man sie in Anspruch nahm, ohne sich aus müßiger Geschäftigkeit zum Helfen und Theilnehmen unberufen anzubieten, und obschon oder vielmehr weil sie keine Art von Neugier für das Individuelle besaß, hatte sie das Auge und den Sinn stets in ungewöhnlicher Weise für das Allgemeine offen.

Aus der Besorgniß, daß die Liebe für ihre Kinder sie dazu verleiten könne, sich denselben so ausschließlich hinzugeben, daß sie in ihrer eigenen Entwickelung dadurch zurückgebracht und nicht befähigt werden könne, dieselben würdig zu erziehen, hatte sie sich schon in den ersten Jahren ihrer Ehe das Gesetz gemacht, täglich eine oder zwei Stunden ganz ausschließlich für sich selbst und zur Lektüre anzuwenden, und dies Gesetz hatte sie pünktlich aufrecht gehalten. Jeden Nachmittag zog sie sich in ihre Stube zurück, um Ruhe zu haben, und man kann auf solche Weise viel in sich aufnehmen und viel in sich verarbeiten, wenn man sich mit seiner Lektüre an das Große und Bedeutende hält, wie sie es that. Sie war stets mit den neuesten Werken der Literatur bekannt, sie nahm lebhaften Antheil an den Cultur- und Staatsverhältnissen Europa's, und Niemand konnte die Fortschritte und die Erfolge, welche die gesunde Vernunft über das Vorurtheil, die Freiheit über die Unterdrückung auf irgend einem Gebiete davon trugen, mit größerer Genugthuung gewahren, als sie.

Ihre Neigung zur Stille, und die beständige, aber zum großen Theile eingebildete Krankheit einer Tochter, hatten alle Arten von Geselligkeit aus dem Hause entfernt. Man ging nicht in Gesellschaft und es wurde[70] auch keine geladen. Hie und da kam für ein Paar Stunden ein einzelner Besuch, oder die Töchter machten einen solchen, und nur der Vater, der bei einer für den Kaufmann der damaligen Zeit sehr seltenen Bildung, einen sehr heiteren, mittheilsamen Sinn besaß und die Geselligkeit liebte, ging täglich von fünf bis acht Uhr in die Ressource, kam dann aber auch regelmäßig zu dem Familienabendbrod nach Hause.

Von den sechs Kindern, zwei Söhnen und vier Töchtern, war die zweite Tochter in Breslau an einen geistvollen jungen Advokaten, Justizrath Gräff, verheirathet, der zweite Sohn als Beamter auswärts angestellt. Der älteste Sohn hingegen, der nachmals in der politischen Entwickelung Deutschlands vielfach betheiligte Heinrich Simon, lebte in jener Zeit noch im väterlichen Hause, und bereitete sich bei dem Breslauer Oberlandesgericht für das Assessor-Examen vor.

Man hatte mir von diesem meinem Vetter Heinrich auf der Reise, in den vielen Tagen, die man plaudernd im Wagen zuzubringen hatte, schon viel erzählt. Onkel Lewald nannte ihn einen sehr braven und tüchtigen Menschen, die Frauen in der Familie rühmten seine äußere Erscheinung, seinen Geist, seine Liebenswürdigkeit, und umgaben ihn in ihren Schilderungen immer mit einem gewissen romantischen Schimmer, der für mich durch ein trauriges Ereigniß in seinem Leben noch gesteigert worden war.

Heinrich Simon war, kaum dreiundzwanzig Jahre alt, in Brandenburg an der Havel zu einem Duell genöthigt worden, bei welchem er das Unglück gehabt hatte,[71] seinen Gegner, einen Referendarius Bode, zu erschießen. Er hatte sich darnach den Gerichten gleich selbst gestellt, und war nach einer längeren Untersuchungshaft in Brandenburg zu einer vieljährigen Gefängnißstrafe verurtheilt worden, zu deren Abbüßung man ihn auf die Festung Glogau geschickt. Ich glaube, irgend eine allgemeine Amnestie hatte ihn befreit, ehe die Strafe völlig verbüßt war, und als ich in Breslau eintraf, befand er sich schon wieder längere Zeit in der Mitte seiner Familie.

Er war nicht zu Hause, als ich zu meiner Tante kam, aber Mutter und Geschwister sprachen von ihm, und als Onkel Lewald mich aufforderte, mit ihm in die Stadt und nach Hause zurück zu kehren, wollte Niemand recht darin willigen, daß ich fortginge, ehe ich Heinrich kennen lernen. Endlich, als wir nicht länger verweilen konnten, meinten seine Schwestern, er werde sich wohl am andern Morgen früh bei uns einstellen; die Tante jedoch wünschte, daß ich gleich nach dem Frühstück zu ihr käme, da sie nun auch, wie sie sagte, meiner froh werden wolle, nachdem ich so lange bei meinen anderen Verwandten gewesen wäre.

Bei guter Zeit schickte man mich denn am nächsten Morgen nach dem Garten hinaus, aber der Vetter war schon zur Abhaltung eines Termines nach dem Oberlandesgericht gegangen, und es war Mittag, als seine Schwestern fröhlich ausriefen, daß der Heinrich nach Hause komme.

Die jüngste Schwester ging ihm entgegen, und ich hatte eigentlich auch Lust dazu, weil es das Natürlichste war. Aber ich befand mich damals noch mitten in dem[72] Irrglauben an die Lehre von jener weiblichen Würde und Zurückhaltung, welche man keinem Manne gegenüber, auch nicht im Verkehr mit seinen nächsten Angehörigen, verläugnen dürfe. Dazu hatten die Großtante und ihre Gesellschafterin immer davon gesprochen, wie sehr Heinrich Simon allen Frauen gefiele und wie sehr sie ihn verwöhnten. Es war wohl der einzige Gesichtspunkt, unter dem die beiden guten Personen den jungen Mann zu sehn verstanden. Ich aber hatte mir vorgenommen, ihn ganz gewiß nicht zu verwöhnen. Um nun diesen Entschluß gleich von Anfang an auszuführen, und die gepriesene weibliche Würde und Zurückhaltung zu beweisen, die in den meisten Fällen nur eine Berechnung und eine herausfordernde und anreizende Affektation ist, und auch bei mir nur eine Ziererei war, blieb ich ruhig neben der Tante im Zimmer sitzen, während ich sehr neugierig war, den Cousin zu sehen, und im Voraus sehr geneigt, ihn zu lieben, da die Seinen mir so gut gefielen und ihn in hohem Grade zu lieben schienen.

Es mag wohl meine tugendsame Zurückhaltung gewesen sein, die meinen Cousin bewog, mich, als er in das Zimmer trat, sehr förmlich zu umarmen, und mich nicht Du zu nennen, wie die anderen Alle es thaten. Das befing mich und verdroß mich. Und als ich dann zu ihm in die Höhe und in sein edles Antlitz sah, kam mir der Gedanke, mit diesen Augen habe er auf einen Menschen gezielt, und mit der Hand, die er mir zum Willkommen gegeben, einen Mord begangen; denn soviel gesunde Vernunft hatte ich damals schon, das Duell, den privilegirten Mord, verabscheuenswerth zu finden. Das[73] machte mir einen erschreckenden Eindruck. Ich wußte es mir nicht zu deuten, daß er so heiter mit den Seinen plauderte, daß er der Neckerei mit seinen Schwestern kein Ende finden konnte, und als diese Lust am Scherz sich endlich auch gegen mich wendete, mißfiel sie mir um so mehr. Da er mir in jedem Betrachte überlegen, und durch seine Erfahrungen noch mehr gereift war, mochten meine Allweisheit und Geistreichheit, die wohl noch vielfach nach der Schul- und Kinderstube geschmeckt haben werden, ihm komisch erscheinen. Es lag daher in seinem Verkehr mit mir an jenem ersten Tage etwas Spielendes, das mich unbeschreiblich kränkte, weil ich meinte, nicht nach meiner Würde behandelt zu werden.

Zu Hause war am Abende von allen Seiten die erste Frage, wie mir Heinrich gefallen habe. »Er ist schön und geistreich«, sagte ich, »aber kalt und abstoßend. Er mag sehr liebenswürdig sein können, mir aber ist er nicht so erschienen, und ich kann auch über den Gedanken nicht fort, daß er einen Menschen erschossen hat.«

Mein Onkel, der äußerst selten gegen Jemand einen Tadel aussprach, sondern in den meisten Fällen die Leute ihren Weg gehen und mit sich selber fertig werden ließ, wich diesmal von seiner gewohnten Weise ab. Er hielt es mir vor, daß es unvernünftig und ungerecht sei, einem Menschen sein Unglück zum Verbrechen anzurechnen, und sagte endlich: »wenn Du wüßtest, wie sehr der Arme noch unter der Nachwirkung jenes Ereignisses leidet, würdest Du es sehr achtungswerth von ihm finden, daß er dies Leiden still in sich verbirgt, und den Seinen, die viel Sorge um ihn getragen, und auch viel Opfer für[74] ihn gebracht haben, immer nur ein heiteres Gesicht zeigt. Ich bin manchmal mit ihm hart aneinander gekommen, denn er ist hochfahrend und ein Rigorist, aber er ist dabei doch ein seltener und ein vortrefflicher Mensch, über den sich nicht so aburtheilen läßt, wie Du es so eben gethan hast.«

Es war das erste und das einzige Mal, daß der Onkel mir einen Verweis gab; und da man bei solchen Anlässen gern seine Schuld und sein Unrecht auf Denjenigen abwälzt, an dem man es begangen hat, so erzürnte ich mich gegen meinen Vetter nun erst recht. Ja ich wußte mir Etwas damit, daß er auf mich durchaus nicht so einnehmend gewirkt hatte, als man es mir prophezeit! Ich sah mich als eine Ausnahme unter meinem Geschlechte an, und natürlich als eine schöne und würdige Ausnahme. Aber während ich mich mit beneidenswerthem Selbstgefühl zur Ruhe legte, und meiner Stubengefährtin weitläufig auseinandersetzte, was mir Alles an meinem ältesten Cousin mißfallen habe, konnte ich mich innerlich der Ueberzeugung nicht verschließen, daß ich in dem Kreise meiner männlichen Bekannten noch keinen schönern Mann, noch keinen Mann gefunden hätte, der ihm gleich gewesen wäre.[75]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 2, Berlin 1871, S. 64-76.
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