Fünftes Kapitel

[76] Den folgenden Tag kam ich nicht nach dem Garten hinaus. Die Großtante wünschte mir die Stadt zu zeigen, ich sollte die Kirchen, die Promenade sehen, und auch die Hausfreunde der Familie Lewald kennen lernen, die jenen Namen recht eigentlich verdienten, weil sie fast tägliche Gäste des Hauses waren, das in seiner ganzen Einrichtung und Lebensweise für mich des Auffallenden, des Fremden und Anziehenden eine reiche Fülle hatte.

Es ist ein großer Unterschied, ob man Menschen auf der Reise kennen lernt, oder ob man sie in ihrem Hause sieht. Das Reiseleben trennt Jeden von seinen täglichen Gewohnheiten ab, die sich wie eine Art von Austernschale um den eigentlichen Kern seines Wesens festsetzen. Was an den verschiedenen Naturen Weiches und Liebenswürdiges ist, tritt auf der Reise leichter und offener an ihnen hervor, sie rücken dadurch vielfach bequemer zusammen, und da sie auf die Hauptsache, auf die Aufrechterhaltung ihrer Eigenheiten, ihrer täglichen Gewohnheiten, verzichten müssen, so geben sie dabei auch manche störsame Unart ihres Wesens mit in den Kauf – ohne sie jedoch darum für immer aufzugeben. Sie verzichten darauf nur, wie bei den englischen Grundstückverkäufen, auf[76] neunundneunzig Jahre, und diese neunundneunzig Jahre der Leichtlebigkeit sind für die meisten Reisenden in der Regel an dem Tage zu Ende, an welchem ihr Fuß die Heimath wieder betritt.

Ich hatte mir eingebildet, als ich nach einem zehnwöchentlichen Beieinandersein mit der Familie meines Onkels Ende Juli in Breslau anlangte, in derselben eingelebt, und mit den einzelnen Personen wie mit ihrer Lebensweise bekannt zu sein; und unerfahren wie ich war, hatte ich gemeint, das ganze Dasein der Familie werde in der Heimath nur noch enger verbunden sein. Wenn ich mir auch vorgestellt hatte, daß meine wohlhabenden Verwandten nicht die straffe, berechnete Oekonomie beobachten würden, wie ich sie zu Hause gewöhnt war, so dachte ich mir ihre Hausordnung doch eben so streng gegliedert und eben so auf die Alleinherrschaft des Vaters gegründet als die unsere, und ich war daher Anfangs im höchsten Grade betroffen, als ich bemerkte, wie die Familie, sobald sie in dem Hause sich wieder festgesetzt hatte, sich gleichsam in drei verschiedene Häuslichkeiten auflöste, die aber durch eine Art von Gewohnheit dennoch innerlich zusammenhingen, und auch äußerlich sich so ineinander gefügt hatten, daß sie nebenander und zugleich miteinander bestehen und Jeder auf seine Weise befriedigt sein konnten.

Die eine Häuslichkeit bildete die Großmutter. Sie hatte in der linken Seite des Hauses drei große Zimmer inne, in welchen sie mit ihrer Gesellschafterin und einer alten, anscheinend schweigsamen, aber dabei sehr beobachtenden und klatschhaften Kammerjungfer lebte. Die[77] Zimmer waren mit besonderer Berechnung auf Bequemlichkeit eingerichtet. Gardinen und Vorhänge hielten Licht und Zug ab, wenn dies nöthig war, die Teppiche schützten gegen Kälte, und obschon sich viele neue Möbel in den Stuben befanden, war doch auch noch mancher Hausrath aus einer frühern Zeit in denselben aufbewahrt. Alte Bilder, ein paar alte Uhren, altes silbernes Frühstücksgeräth und altes Porzellan, gaben der Einrichtung zugleich ein behagliches und besonderes Ansehen, und ich war gar wohl damit zufrieden, in diesem Theil der Wohnung meinen eigentlichen Aufenthalt zu haben.

Ich schlief in dem Zimmer der Gesellschafterin, arbeitete, wenn ich es überhaupt that, mit derselben in der Wohnstube der Großtante, frühstückte mit ihr, fuhr, wenn ich nichts Anderes vorhatte, am Mittag mit ihr aus, und kam in der Regel erst von der Mahlzeit ab mit den übrigen Hausgenossen dauernd zusammen.

Die Sorgenfreiheit, die ich im Vaterhause in dem Grade nie gekannt hatte, und auch das ruhige materielle Wohlleben gefielen mir außerordentlich gut. Die Großtante, die gar keine Beschäftigung hatte und sich nur selten Etwas vorlesen ließ, sprach gern von sich, von ihrer Vergangenheit, von ihrer Jugend, von ihren Geschwistern, von ihren Eltern. Ich bekam dadurch von meiner eigenen Großmutter zu hören, von meinem Großvater, und wie er schön und klug und liebenswerth gewesen sei, als er um die Großmutter geworben, ja selbst von der Urgroßmutter erfuhr ich viel. – Wenn die gute alte Frau sich dann genugsam in den Tagen ihrer Jugend ergangen hatte, so erzählte sie von der französischen[78] Invasion, von den Kriegszeiten, von der Belagerung von Breslau, von ihrer Flucht nach Troppau, kurz, sie erzählte eben, und ich hatte von Jugend auf meine größte Freude daran gehabt, erzählen, besonders aber alte Leute erzählen zu hören. Ohne im Entferntesten daran zu denken, daß ich es einmal brauchen könne, habe ich auf die Art viel von ihnen gelernt, was mir später gut zu Statten gekommen ist.

Die Gesellschafterin, welche alle diese Geschichten schon gar zu oft gehört hatte, und obenein nicht das Interesse dafür haben konnte, das diese Mittheilungen mir einflößten, wurde oft ungeduldig dabei, und war endlich sehr froh, wenn sie sich hie und da eine halbe Stunde oder gar einmal ausnahmsweise einen Nachmittag entfernen konnte, während ich bei der Großtante blieb und mich an ihrer Gesprächigkeit erfreute. Das stellte, ohne daß ich es beabsichtigte, auf die natürlichste Weise ein gutes Vernehmen zwischen mir und den beiden Damen her, und ich hatte dabei an den täglich wiederkehrenden Vorgängen in dem kleinen Staate mein Vergnügen, als ob ich die Darstellung davon in einem heitern Buche läse.

Früh, wenn die Großtante noch im Bette lag, gingen die Audienzen und die Cour schon an. Die Kammerjungfer Lore mußte berichten, wie viel Grad der Thermometer zeige, die Gesellschafterin, wie die Tante Lewald und sämmtliche Enkel geschlafen hätten und sich befänden. Dann kam die Tante selbst, der Mutter guten Morgen zu wünschen, und eines oder das andere der Kinder, das grade aus irgend einem besonderen Grunde an dem Tage ein specielleres Interesse erregte, wurde herbeigeholt. War[79] die Großtante nun endlich aufgestanden und in den langen braunseidenen Schlafrock gekleidet, so kam das Frühstück an die Reihe. Ihm folgte der Friseur, welcher, ein wanderndes Intelligenzblatt, den Mund noch fleißiger brauchte als Kamm und Bürste, und in der Regel kaum das Zimmer verlassen hatte, wenn der alte Kutscher zu der Berathung über das Ausfahren hereintrat. Das war eine der längsten Conferenzen. Wann gefahren, in welchem Wagen, zu welchem Thore hinaus gefahren und wer mitgenommen werden solle, das war nicht schnell zu entscheiden, und der alte Pfeiffer, der »noch bei dem seligen Herrn gedient hatte« und daher Alles besser verstand als jeder Andere, und die Frau Pfeifferin, die für die Großtante Commissionen ausrichtete, und immer wie eine vorsichtige alte Katze in den Fluren und Gängen und auf den Treppen umherschlich, hatten immer noch heimlich ihrer alten Herrin dies und jenes zu berichten, wovon an dem Tage Niemand Etwas erfuhr, was denn aber gelegentlich ganz unerwartet und nicht immer angenehm zum Vorschein kam, wie die in Münchhausens Trompete eingefrorene Musik.

War die Spazierfahrtsfrage erledigt, so kam die Pflegetochter des Hauses, die den Haushalt besorgte, sich zu erkundigen, ob das Befinden der Großtante etwa eine besondere Diät erfordere, und da dieselbe in frühern Jahren öfter an einem Bluthusten gelitten hatte, von dem sich noch hie und da kleine Anfälle zeigten, so gab es über das Nichtsalzen der Suppen und das Nichtwürzen der Compotte immer sehr viel Anweisungen und Empfehlungen, die glücklich die Zeit ausfüllten, bis ein entfernter[80] Verwandter der alten Dame kam, dem das Geschäft oblag, ihre verschiedenen Uhren aufzuziehen und möglichst in Einklang zu erhalten. Damit aber war die Reihe der Besuche noch nicht zu Ende, und jeden Tag fand sich noch Einer oder der Andere ein, der nicht in die Liste der täglichen Erscheinungen gehörte. Heute kam Onkel Simon und morgen der ältere Onkel Lewald, denn es waren zwei von meines Vaters Brüdern in Breslau ansässig, und Beide verheirathet und in gleich guten äußern Umständen. Eines Tages war es der Hausarzt der Großtante, der alte Medizinalrath Wendt, der gern davon sprach, welch ein schöner junger Mann er gewesen sei, als er im rothen gestickten Tuchfrack, en escarpins und mit dem dreieckigen Hute unter dem Arme seine Praxis begonnen habe, und der – ein ächter Damenarzt – immer im Voraus errieth, was seine alte Patientin zu hören wünschte, und ihr immer die Anordnungen machte, welche mit ihren Tagesabsichten im Einklang standen. Die Hauptsache aber war, wir erfuhren in den stillen Stuben der Großtante nicht nur alles Erhebliche, das sich in der Welt und in der Stadt ereignete, sondern auch das Unerhebliche, und waren die Besuche vorüber, so wurde die tägliche Spazierfahrt gemacht, bei der immer wenigstens zwei verschiedene Mäntel in dem Wagen mitgenommen wurden, damit beim Aussteigen und Promeniren der Mantel und die Temperatur gehörig in Einklang gebracht werden konnten. Wir fuhren dann immer viel in Magazine, es wurden Sachen besehen und gekauft, für die Enkel Etwas mitgenommen, und wie der Morgen hingegangen war, so wurden auch der[81] Nachmittag und Abend zugebracht, während die Kammerjungfer fortwährend an ihrem Nährahmen saß und fortwährend Battist-Taschentücher, die Liebhaberei ihrer Herrin, stickte, und die Gesellschafterin sich mühsam durch die langen, völlig müssigen Tage durchschlug, sehnsüchtig den Abend erwartend, an dem die Großtante stets in den Zimmern ihrer Tochter eine Zeitlang an der Geselligkeit Theil nahm, die dort selten fehlte.

Den zweiten Haushalt machten der Onkel und die Tante mit ihren Kindern aus, die sie sehr viel um sich hielten, und auf welche eine Sorgfalt wie auf Fürstenkinder verwendet wurde. Daneben beschäftigte die Tante sich fast ausschließlich mit Lektüre. Im Reichthum erzogen, hatte sie niemals die Nothwendigkeit irgend einer Arbeit gekannt, und früh die Möglichkeit besessen, sich nach freier Wahl einen sie unterhaltenden und fördernden Zeitvertreib zu suchen. Sie hatte Französisch, Englisch, Italienisch gelernt, Musik und Malerei getrieben, es auch ein wenig mit der Plastik versucht, vor Allem aber sehr viel gelesen. Das war ihr jedoch im Grunde Alles kein Selbstzweck, sondern eben nur ein Mittel gewesen, ihre Muße auszufüllen, und alle diese Studien waren seit ihrer Verheirathung, wie das meist zu geschehen pflegte, liegen geblieben. Indeß sie hatte doch allerlei Kenntnisse, nahm einen gewissen Theil an Geistigem, kaufte und las was irgend in der Literatur Interessantes und Bedeutendes erschien, und war dabei eine im Grunde gutmüthige, stets zum Lachen aufgelegte Frau, die in ihrer bequemen Corpulenz neben der großen magern, immer rührigen Großmutter etwas Behagliches hatte.[82]

Während die alte Dame jedes Detail der Haushaltung mit einer Wichtigkeit und Nachdrücklichkeit behandelte, als hinge nicht nur das Wohl der Welt, sondern – was ihr unendlich wichtiger war – ihr eigenes Leben davon ab, hatte die Tochter fast gar keinen Sinn dafür, und war herzlich froh, wenn die Pflegetochter ihr von dieser Sorge soviel als möglich abnahm. Sie liebte ihren Mann mit einem schönen Stolz auf ihn, sie liebte ihre Kinder mit Zärtlichkeit, und ihre Mutter mit gelegentlicher und bisweilen sehr berechtigter stiller Ungeduld über deren Selbstsucht, und sie liebte dabei ihr sorgenfreies, bequemes Leben und eine gute Unterhaltung. Es war leicht mit ihr zu verkehren, leicht sie zufrieden zu stellen, sie kümmerte sich um die Andern nicht eben viel, verlangte nicht viel von ihnen, und war zufrieden, wenn man sie ihre Wege gehen ließ.

Den dritten Haushalt endlich hatte mein Onkel mit seinem Freundeskreis noch ganz für sich allein. Es existirte mitten in der allgemeinen Zimmerreihe eine Stube, die meines Onkels Stube hieß. Sie hatte einen großen Cylinderschreibtisch und andere auf das Bedürfniß eines Mannes eingerichtete Möbel, aber der Herr und eigentliche Besitzer dieses Raumes war in demselben nur selten einmal, und nur gelegentlich zu finden. Wenn er nicht bei seiner Frau und seinen Kindern war, für die er als ein ungewöhnlich zärtlicher Vater die größte Sorge trug, so traf man ihn sicherlich in zwei sehr kleinen dunkeln Stuben, welche das Ende der ganzen Wohnung bildeten und einen besondern Ausgang nach dem Hofe und damit nach der Straße hatten. Sie waren ringsum von oben[83] bis unten mit Bücherborden bestellt, und enthielten eine Bibliothek, die theils aus nationalökonomischen und statistischen Werken, hauptsächlich aber aus alten Provinzial-Chroniken, altdeutschen Gesangbüchern und ähnlichen für die altdeutsche Sprachforschung und für die Geschichte der Provinz bedeutenden Schriften bestand, für welche Professor Hoffmann von Fallersleben dem Onkel ein Interesse eingeflößt hatte.

Von einer hübschen Einrichtung, von irgend welchem Comfort war in den beiden Zimmern, die diesen Namen kaum verdienten, keine Rede; dafür aber war den ganzen Vormittag Gesellschaft darin, und die Hausfreunde des Onkels: Hoffmann von Fallersleben, Professor Stenzel, Professor Frankenstein, Doktor Eppstein, Doktor Halling, Doktor Kalkstein, der treue Hausarzt Doktor Guttentag, und was es von nahen und entfernten männlichen Verwandten der Familie in Breslau gab, das kam, saß und ging von früh bis Mittag in den kleinen Stuben, ohne in der Familienwohnung vorzusprechen, in der dieselben Gäste einzeln oder auch in größerer Zahl am Abend zu erscheinen pflegten. Man plauderte, man frühstückte auch bisweilen, und da oft mehr Gäste als Stühle vorhanden waren, so saß man auf einem Pack Bücher, auf einer Bibliothekleiter, auf einer Tischecke, wie es sich eben traf.

Ich konnte aus der Stube, in welcher die Gesellschafterin und ich zusammen wohnten, über einen verdeckten Corridor, der sich an der Hofseite des Hauses hinzog, nach der Bibliothek gelangen, ohne die Wohnzimmer zu passiren; und nachdem ich einmal im Auftrag der Großtante zum Onkel in seine Bibliothek gesendet,[84] und von ihm und dem dort versammelten Collegium sehr gut aufgenommen worden war, ging ich, da mein Onkel mich bisweilen einlud, öfter auch ungebeten zu ihm. Männer frei mit einander verkehren zu hören, war mir in der Weise etwas Neues. Zu Hause waren unsere männlichen Gäste bis zur Zeit meiner Abreise meist Altersgenossen von uns Kindern gewesen, und die älteren und fremden Personen, welche damals unser Vaterhaus besuchten, hatten bei der ganzen Unterhaltung immer die Rücksicht genommen, welche die Anwesenheit junger heranwachsender Mädchen und die Unfähigkeit meiner Mutter, sich an ernster Unterhaltung zu betheiligen, ihnen auferlegen mußte. Jede Discussion hatte dadurch in ihrem geistigen und räumlichen Gehalt bald ihre Schranke gefunden, und vertiefte sie sich einmal mehr als mein Vater für gut zu hören fand, oder dehnte sie sich auf Gebiete aus, auf welche er unsern Blick nicht geleitet zu sehen wünschte, so hatte er derselben ganz ohne alle Umstände mit der Erklärung ein Ende gemacht, davon wolle er nicht gesprochen haben.

In der Bibliothek beim Onkel war das anders. Die Zeit war bewegt, die deutschen Zeitungen und Journale brachten täglich Anregendes und Aufregendes, und waren ebenso wie die Revue de Paris und die Revue des deux mondes stets bei der Hand. Politik, Literatur, sociale und religiöse Fragen wurden mit voller Freiheit durchgesprochen, und weil ich ernsthaft war und wirklich verstehen lernen wollte, wovon man sprach und um was es sich handelte, so vergaß man es leicht, daß ich ein junges Mädchen[85] war, und verfolgte die Discussion bis zu ihren letzten Consequenzen.

Man befand sich damals an einem jener Zeitpunkte, in welchen das Leben der Völker und damit auch das Leben des Einzelnen in einen schnellern und lebhaftern Fluß gekommen zu sein scheinen. In Frankreich war die romantische Schule mit all ihren glänzenden und leidenschaftlichen Uebertreibungen, mit ihren bizarren aber doch geistreichen Compositionen aufgetreten, und hatte für den Augenblick selbst die Ruhigen und Besonnenen mit sich fortgerissen. Victor Hugo, Balzac, Lamartine, George Sand, Janin, Dumas, Eugene Sue, Alphonse Karr, Emile Souvestre waren von gewaltiger Wirkung auf alle Diejenigen, welche sich bisher mehr oder weniger fest und ausschließlich an die klassischen Vorbilder der deutschen Literatur gehalten hatten. Es wurde durch jene Schriften ein Einblick in die Zustände und Sitten der französischen Gesellschaft gewährt, der von Rechtswegen hätte abstoßen und erschrecken müssen. Weil aber das geistige Leben in Deutschland sich unter dem Druck der staatlichen Verhältnisse nicht frei entfalten konnte, weil ihm der rechte Gehalt, und den Männern ein rechtes Feld für die Entwickelung ihrer Kraft gebrach, so geschah es, daß man in der fremden Literatur Maßlosigkeit für Kraft, Zügellosigkeit für Freiheit, Verwirrung der sittlichen Begriffe und alle Fehler und Verbrechen, welche aus derselben entspringen, für die Berechtigung des Individuums halten konnte, und daß selbst gute Menschen, die keiner Fliege hätten wehe thun mögen, sich des schaudernden Entzückens nicht erwehren konnten, wenn Han d'Islande vor ihnen[86] herumwüthete, wenn die Histoire des treizes ihnen ihre grausenhaften Geheimnisse entrollte, wenn Quasimodo und Lukrezia Borgia, und die Schrecknisse der tour de Nesle, und die Verschmachtenden und Rasenden auf dem Salamander, ihnen bei völliger persönlicher Sicherheit jenes Entsetzen bereiteten, das Bettina bei ähnlichen Anlässen als ein »Grauel-Plaisir« zu bezeichnen pflegte.

Abgesehen aber von dem Ueberreizten in den Compositionen und von dem rein sachlichen Interesse, das sie dem Leser einflößten, fanden sich in den meisten jener Werke eine Menge tiefsinniger Gedanken und feine psychologische Beobachtungen, und die Sprache war zu gleicher Zeit so schmiegsam und so gewaltig, so zärtlich und so feurig geworden, daß jene Werke berauschend und blendend wirken mußten.

In Deutschland war ebenfalls ein neues Geschlecht in der Literatur herangereift. Heine's Reisebilder und französische Zustände, Börne's Mittheilungen aus Paris, vermittelten das französische Leben mit dem deutschen, und trugen das Verlangen nach freier Bethätigung des Einzelnen in dem Staate, nach freier Selbstbestimmung in den persönlichen Verhältnissen nur noch lebhafter nach Deutschland hinüber. Gutzkow, Laube, Theodor Mundt, Gustav Kühne und Wienbarg sprachen eine Sprache, welche man in Deutschland noch nicht gehört hatte. Und wie wir und einzelne dieser Männer selbst, jetzt auch über ihre ersten Compositionen denken und hinausgewachsen sein mögen, wir Alle, die wir damals jung waren wie sie selbst, wir müssen, wenn wir ehrlich Zeugniß geben wollen, es, wenn vielleicht auch mit Widerstreben, eingestehen,[87] daß wir alle jene Jugendwerke des sogenannten jungen Deutschland in Pausch und Bogen mit Ueberraschung und mit großer Zustimmung begrüßten, und daß selbst reifere Menschen, als das junge Deutschland und seine jungen Leser es damals waren, die bewegende und vorwärts bringende Kraft in den jungen Weltstürmern nicht verkannten, wenn schon sie weit entfernt davon waren, die Grundsätze und das phraseologische Gebahren derselben gut zu heißen und zu bewundern, wie wir Andern es thaten.

Neben all diesen neuen Dichtungen bewahrten aber die Freunde des Onkels ihre tiefe Verehrung für unsere Classiker, und selbst die deutsch-romantische Richtung, mit welcher die Mehrzahl sich nicht viel zu schaffen machte, hatte in Doktor Eppstein ihren leidenschaftlichen Verehrer. Er war, als ein unabhängiger und seiner Muße lebender Mann, der sich zum Dichter bestimmt glaubte, ohne es jemals auch nur zu irgend einer nennenswerthen Production gebracht zu haben, in Dresden in das Tieck'sche Haus eingeführt worden und ein häufiger Gast desselben gewesen. Das hatte ihn an Tieck und namentlich an dessen Tochter Dorothea gefesselt, und ihn für immer zu einem begeisterten Verehrer der ganzen von Tieck vertretenen Dichtungsgattung gemacht. Es kamen also auch Tieck, so weit ich ihn noch nicht kannte, und Novalis und Waiblinger, und daneben die Romane von Heinrich Steffens, und die Gedichte von Anastasius Grün und von Zedlitz in meinen Bereich; denn alle Bücher gelangten aus der Bibliothek nach kurzem Verweilen in die Zimmer meiner Tante, und war durch die Gesellschaft der Männer[88] meine Aufmerksamkeit erst auf die Werke hingeführt worden, so hatte ich nachher volle Muße, sie zu lesen und zu excerpiren, so viel ich nur immer wollte.

Ich habe noch einen Band Excerpte aus jener Zeit, der mir die Erinnerung an meinen damaligen Zustand lebhaft in das Gedächtniß ruft. Ich las, was ich irgend habhaft werden konnte, ich war unersättlich im Aufnehmen, aber glücklicher Weise auch im Nachdenken des Aufgenommenen. Jeder Pfad des Geistes, der sich vor mir eröffnete, lockte mich, ihn zu verfolgen, jeder Blick in die mir fremden Gebiete des Lebens reizte mich, sie kennen zu lernen. Ich hätte Alles auf einmal erfassen, Alles auf einmal verstehen lernen mögen, ich dachte mich und alle meine Freunde in die wunderbarsten Lebenslagen hinein, ich sann und dichtete unaufhörlich, ohne eine Vorstellung davon zu haben, daß ich dichtete, und ohne zu vermuthen, daß ich jemals dahin gelangen würde, dies Dichten ernsthaft zu nehmen, und dasjenige auszugestalten, was meine Phantasie ersann. Ich war wie die Bienen, wenn sie an den ersten schönen heißen Tagen des Jahres zu schwärmen beginnen. Sie wissen dann gar nicht, wie schnell sie die Flügel rühren, wie sie hoch genug gen Himmel steigen und wieder schnell genug zu den hervorbrechenden Pflanzen hernieder schweben sollen, von denen sie Ausbeute für sich hoffen. Sie schwärmen nach rechts und nach links, vom Grashalm zum Baumeswipfel, und überall finden sie sich in ihrem Element, in Luft und Licht, in Sonnenschein und Wärme; und mitten in dem üppigen Genuß arbeiten sie, und tragen sie zusammen, was ihnen frommt, und was, freilich nach[89] einem förmlichen Stoffwechsel, durch sie neu gestaltet und fruchtbar werden soll.

Es macht mir dabei einen seltsamen Eindruck, an jenen Excerpten zu ersehen, aus welch kleinen vereinzelten Bruchstücken sich mein Wissen und meine Einsicht gebildet, aus wie vielen unscheinbaren und von den verschiedensten Ecken und Enden mühsam herbeigeholten Stiftchen sich mein Lebensmosaik zusammengesetzt und zu einem selbstständigen Ganzen abgerundet hat; und es drängt sich mir das alte Bedauern darüber auf, daß man den Frauen auch heute noch jene gründliche wissenschaftliche Schulbildung, jene Erziehung für ihren Beruf versagt, welche man für die Männer aller Stände und Berufsthätigkeiten mehr oder weniger als eine unerläßliche Nothwendigkeit betrachtet.

Wäre es nicht so überaus ernsthaft, so könnte man die Zuversicht sehr komisch finden, mit welcher die Männer die Aufsicht ihres Hauses, die theilweise Vertretung ihrer Stellung in der Gesellschaft, die theilweise Verwaltung ihres Erwerbes, die Pflege und Erziehung ihrer Kinder, und endlich ihr eigenes Glück und ihre Ehre, in die Hände von jungen Personen legen, welche für alle diese wichtigen, ja für diese höchsten Leistungen durch Nichts befähigt sind, als etwa durch ihren guten Willen und den meist sehr blinden Glauben verliebter Männer an den Werth des Mädchens, das ihnen wohlgefällt.

Man nimmt keinen Dienstboten in sein Haus, ohne zu wissen, ob er die dazu nöthige Vorbereitung erhalten habe, man verlangt von jedem Lehrling, mag er Handarbeiter oder ein Lehrling auf geistigem Gebiete sein,[90] eine mehrjährige Studienzeit, man erkennt Niemand als Meister an, man vertraut keinem Lehrer, keinem Baumeister, keinem Tischler und keinem Professor oder Rath ein Amt an, ohne sich von seiner Tauglichkeit überzeugt zu haben, und man überantwortet die höchste Aufgabe des Lebens, die Gründung und Leitung der Familie, die Erziehung des Menschen, in der Regel den jungen unerfahrenen Geschöpfen, denen man grundsätzlich die Möglichkeit verweigert hat, sich für ihren Beruf gebührend vorzubereiten; ja man scheint offenbar der Ansicht zu sein, daß allein die Frauen untauglich gemacht werden, ihre Pflichten zu erfüllen, wenn man ihnen jene Kenntnisse systematisch zukommen läßt, deren Besitz fast jeder Mann ausdrücklich nachweisen muß, um zu der Ausübung irgend eines geistigen Berufs zugelassen zu werden.

Dies ist eine Geringschätzung der Frauen, ein völliges Verkennen ihrer Stellung und Aufgabe innerhalb der menschlichen Gesellschaft, von welcher dafür später auch Niemand schwerer zu leiden hat, als Diejenigen, welche sich dieser Sünde gegen die Frauen und gegen das menschliche Geschlecht schuldig machen. Die Zahl der wahrhaft glücklichen Ehen, die Zahl der Frauen und Mütter, welche im Stande sind, ihren Männern und Kindern im wahren Sinne des Wortes eine Stütze zu sein, ist daher überall, auch bei uns in Deutschland weit geringer als man es sich eingesteht, ja überaus gering; und es ist sehr häufig weder Glück noch Gedeihen zu finden in einer Masse jener Ehen, in welchen Mann und Frau nur deshalb friedlich neben einander leben, weil der Mann sich, im richtigen Gefühl seines Verschuldens,[91] bescheidet, von seiner Frau nicht zu fordern, was sie nicht leisten kann; weil er sich beschieden hat, nicht mehr zu erwarten, daß ein unreifes, weder durch wirkliche Kenntnisse noch durch Einsicht in die Verhältnisse der Menschen und des Lebens auf die Ehe vorbereitetes Geschöpf nicht dadurch reif geworden ist und Urtheil gewonnen hat, daß sich ein Mann gefunden, der es zu seinem Weibe machte.

Was von den eigentlichen Kenntnissen gilt, das gilt natürlich in den meisten Fällen auch von der Lektüre der Mädchen, die wenigstens für die geistige Entwickelung und für das Heranreifen derselben Etwas leisten, und ihnen den Weg bahnen könnte, sehen, denken und urtheilen zu lernen. Aber auch mit dieser war es, und ist es jetzt fast noch mehr als früher, schlecht bestellt; denn es gehört zu den abergläubischen Axiomen der gewöhnlichen Erziehung, daß jene Unschuld, welche im Nichtwissen besteht, und welche die erste Stunde der Ehe zerstört, die eigentliche Seelenschönheit des Mädchens und seinen höchsten Reiz ausmache, und daß daher jede Lektüre zu vermeiden sei, welche dieses Kleinod des Nichtwissens antasten könnte.

»Meine Tochter ist noch ein völliges Kind!« das habe ich unzählige Male von Müttern als ein Lob der Tochter aussprechen hören, der man so bald als möglich einen Mann zu geben wünschte, oder auf welche vielleicht eben die Wahl eines Mannes gefallen war. Auch Männer selbst haben mir rühmend gesagt: »meine Braut, meine Frau ist noch ein völliges Kind!« und es ist mir dann immer förmlich Angst geworden über eine solche Verblendung. Welche Früchte solche Unschuld und Unkenntniß[92] tragen, davon hat wohl Jeder Beispiele genug erlebt, und es wäre wirklich an der Zeit, daß man sich dazu erhöbe, von einem Weibe beim Antritt seiner Ehe, neben der Reinheit des Sinnes, die jeder Mensch, so Mann als Weib in sich zu wahren hat, auch einen gesunden und gereiften Verstand und jene ernste Entwickelung zu verlangen, ohne die keine wahre Selbstverläugnung und keine nachhaltige Einwirkung auf das Wohlgedeihen der Familie möglich ist. Man hat kein Recht, große Charaktere und Vaterlandsliebe, hohe Gesinnung und Mannesmuth, von einem Geschlechte zu verlangen, das zum großen Theil von kindischen Frauen, von unreifen Müttern erzogen worden ist.

Es ist, um gar keinem Zweifel über meine Forderung Raum zu lassen, es ist die Emancipation der Frau, die ich für uns begehre; jene Emancipation, die ich für mich selbst erstrebt und errungen habe, die Emancipation zur Arbeit, zu ernster Arbeit. Und es ist der Arbeit außerhalb, und mehr noch innerhalb der Familie überall vollauf für die Frau vorhanden, wenn man sie nur fähig macht, zu begreifen, worin dieselbe besteht, und zu leisten, was sie als ihre Aufgabe erkannt hat. Aber davon später mehr. Ich komme zunächst noch einmal auf den Ausgangspunkt dieser Erörterung, auf die Lektüre der Jugend zurück.

Die meisten Eltern und Erzieher leben, wie gesagt, der Ansicht, daß die Sittlichkeit der Jugend beider Geschlechter am sichersten durch das Nichtwissen bewahrt werde! Wer aber durch Lektüre verdorben werden kann, der muß nach meiner Ueberzeugung in sich eine Seite[93] haben, die ihn für jene Verderbniß vorzugsweise empfänglich macht, und es möchte selbst unter den Werken unserer Classiker nicht viele geben, aus denen sich nicht jene Vorstellungen und Eindrücke schöpfen ließen, die man für so gefährlich hält, wenn ein unreiner Sinn sich ihrer Deutung bemächtigt. Man bildet sich ein, etwas Gutes zu leisten, wenn man, wie mein Vater dies auch gethan, die Lektüre der Jugend, namentlich der jungen Mädchen, ängstlich überwacht, und ihnen Alles fern hält, was sie über die Leidenschaft der Liebe, über die Beziehungen zwischen Mann und Weib, über die Irrthümer des Herzens, die Verirrung der Sinne, und über jene unzähligen Conflicte aufklären könnte, aus denen sich die Zerwürfnisse in der Familie, und die traurigen Schicksale der Einzelnen entwickeln. Abgesehen davon, daß diese Maßregel nur bei jenen Naturen einigen Erfolg verspricht, bei denen der Gehorsam stärker ist, als der Trieb nach freiem Umschauen und die natürliche und berechtigte Wißbegierde, so wird im Allgemeinen mit solcher Vorsicht der erstrebte Zweck doch selten einmal erreicht. Es lebt innerhalb unserer Gesellschaft kaum ein Wesen, dem dasjenige, was man ihm durch Lektüre nicht nahe zu bringen wünscht, nicht dennoch früh genug zu Ohren käme. In jedem Orte, in der großen Stadt wie auf dem Dorfe, in den Familien der Vornehmen wie der Geringen, giebt es hie und da leichtfertige Liebeshändel, Verführung, ernste Leidenschaft, unglückliche Ehen, Ehescheidungen, Untreue und Verrath. Hüthen die Eltern sich auch noch so sehr, vor dem jungen Mädchen Etwas davon verlauten zu lassen, so kommt ein Freund, der unvorsichtig[94] davon spricht, so findet sich eine Bekannte, die davon gehört hat und es achtlos berichtet, so wissen die Dienstboten durch ihre Collegen davon; und was in der edlen Dichtung verständig und barmherzig motivirt und zugleich in den meisten Fällen sittlich abgeurtheilt wird, so daß es aufklärend und erziehend, Milde fordernd und vor Nachahmung warnend, dargeboten wird, das kommt der Jugend aus der Wirklichkeit unvermittelt und hart, ja oft leichtfertig besprochen und gedankenlos beschönigt entgegen.

Urtheile ich nach meiner eigenen Kindheit und Jugend, und nach den Erfahrungen, welche ich später selbst als Erzieher gemacht, so halte ich es für diejenigen jungen Leute, welche in einem gesunden Familienleben unter den Augen verständiger Eltern erwachsen, für das Allerbeste, sie lesen zu lassen, was zu lesen sie Neigung haben. Es geschieht gewiß sehr selten, daß junge Personen auf gut Glück an eine Bibliothek herangerathen, aus der sie eben so auf gut Glück bald dieses, bald jenes Buch hervorziehen und lesen. In den meisten Fällen ist es das Gespräch der Erwachsenen, welches die Jugend begierig macht, ein bestimmtes Werk kennen zu lernen. Liest man in einem Hause nichts Unwürdiges, bespricht man das Schlechte nur, um es zu tadeln, rühmt und schätzt man nur das Gute, so tritt die Jugend in gewissem Sinne schon vorbereitet an die Werke heran, sie weiß annähernd, wie sie sie aufzufassen hat, und dann mag man sie ruhig gewähren und ihrer instinktiven Einsicht überlassen. Denn die verschiedenen Alter lesen aus bedeutenden Werken ganz verschiedene Dinge heraus und[95] finden doch jedes auf seine Weise Genuß und Befriedigung daran. Es ist eben, wie der greise Goethe sagt:


»Anders lesen Knaben den Terenz,

Anders Grotius!

Mich Knaben ärgerte die Sentenz,

Die ich nun gelten lassen muß.«


Ich denke dabei in diesem Augenblicke an die Wahlverwandtschaften. Ich war sehr jung, vielleicht sechszehn oder siebenzehn Jahre alt, als ich in Königsberg diesen Roman einmal zufällig bei meiner jüngsten Tante aufgeschlagen fand und ihn zu lesen begann, während meine Tante schlief. Der Anfang hatte für mich etwas Erschreckendes. Der klare, anscheinend so kunstlose und durchsichtige Vortrag kam mir unheimlich vor, ich wußte nicht weßhalb. Es dünkte mich, als verberge er ein Geheimniß. Ich war davon wie von einem Schwindel erfaßt, und plötzlich kam mir, obschon ich nur die Tante zu besuchen brauchte, um den Roman in der Stille ganz gemächlich beenden zu können, der feste Vorsatz, diese Dichtung nicht zu lesen. Das war aber nicht Gehorsam gegen meinen Vater, nicht ein Trieb meines Gewissens, es war das instinktive Zurückschrecken vor einer Welt, die zu erfassen mir noch die Kraft gebrach.

Vier Jahre später, als ich in Breslau mit einem der Freunde meines Onkels einmal von dieser an mir selbst gemachten Erfahrung sprach, belächelte er jene Scheu; und ich selber meinte in den vier Jahren, welche seit meinem ersten Einblick in die Dichtung verflossen waren, derselben soweit nachgewachsen zu sein, daß ich versuchen könne, sie mir anzueignen. Gedacht, gethan! Ich machte[96] mich an's Werk. Der Roman fesselte mich, ich las ihn wieder und wieder, und doch war es noch nicht das Element der Liebe, der Leidenschaft, das mich an ihm entzückte, denn ich hatte die Liebe und die Leidenschaft noch nicht in ihrer ganzen Kraft gekannt. Es waren ernste Bemerkungen, Aussprüche zu Gunsten der Ehe, die ich nach dem zweiten Lesen des Romans in meinem Excerptenbuche aufgezeichnet finde.

Ich war damals sogar höchlich überrascht, als man die Wahlverwandtschaften in meiner Gegenwart für ein gegen die Heiligkeit der Ehe gerichtetes Werk er klärte. Ich sah in ihnen nur die Lehre von der Nothwendigkeit, die Ehe selbst auf Kosten einer an sich berechtigten Liebe, ja selbst der inneren Sittlichkeit zum Trotze, aufrecht zu erhalten, weil eine solche Anschauungsweise, mir durch meine Erziehung eingeimpft, mich die einzig moralische dünkte. Und erst viele Jahre später, als meine Anschauungen und Ueberzeugungen eine wesentliche Veränderung erfahren hatten, stellte sich in mir die Ansicht fest, daß Goethe bei der Anlage des Romans einen andern Ausgang desselben beabsichtigt, und nur aus der Scheu, sich mit der ihn umgebenden Welt in gar zu grellen Mißklang zu bringen, den ursprünglichen Plan, nicht zum Vortheil für die ethische Befriedigung wahrer Sittlichkeit, in der Mitte umgebrochen habe. Denn während der Roman, wie er ist, thatsächlich die äußere Berechtigung der Ehe aufrecht erhält, thut er schlagend die Unsittlichkeit solcher Gewaltthat dar. Das heißt, er beweist als nothwendig, was er zu thun für Unrecht erklärt – und darin liegt das Verderbliche und Verwerfliche in dem inneren[97] Wesen dieser in tausend Beziehungen so unvergleichlichen Dichtung.

Das herauszufühlen ist aber nicht Sache der Jugend, sie hält sich an das ihr Gemäße, und wie ich durch die Wahlverwandtschaften mich in meinem zwanzigsten Jahre nur in dem Respekt vor der Ehe bestärkt fühlte, so erzählte mir einmal ein junger Mann, daß er mit vierzehn Jahren zufällig das Werk gelesen, und kein anderes Interesse daran gefunden habe, als die darin geschilderten schönen Parkanlagen, womöglich auf dem Gute seines Vaters, in einem ihm zugewiesenen Raume von wenig Fuß, bestmöglichst nachzubilden. Es sieht, nach dem alten französischen Sprichwort, Jeder nur das, was er zu sehen geeignet und fähig ist, und einem reinen Sinne erwächst nicht leicht ein Nachtheil, wenn er früh dasjenige kennen lernt, woran reife Menschen sich erheben. Es ist der Jugend jedenfalls besser, ihren Geist früh an großen Gedanken und Problemen zu üben, als leer an äußerm Tand zu hängen. Falsche Gedanken lassen sich berichtigen und das Leben selbst tritt ihnen berichtigend entgegen; Fadheit aber ist unverbesserlich, und das absichtliche Kindlicherhalten der Mädchen, das man jetzt so vielfach zu erzwingen sucht, hat mit wenig Ausnahmen eine junge Generation herangebildet, deren Oberflächigkeit, Antheillosigkeit und Geistesleere mich erschrecken, wenn ich gelegentlich den Gesprächen junger Mädchen und Frauen zuhöre, oder den Unterhaltungen folge, welche die jungen Männer mit ihnen führen. Solche Mädchen und Frauen aber, ich wiederhole es, erziehen keine Männer![98]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 2, Berlin 1871, S. 76-99.
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Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

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Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

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