Einundzwanzigstes Kapitel

[365] Es war eigentlich immer bestimmt gewesen, daß ich bei dem Beginne des Frühjahrs Berlin verlassen sollte, und ich selber fühlte die Verpflichtung dazu, da mein Aufenthalt außer dem Hause, wie mäßig meine Ansprüche damals auch noch waren, doch mancherlei Ausgaben verursachte, welche fortfielen, wenn ich in der Heimath lebte. Aber meine Freunde widerriethen mir die Rückkehr. Sie machten mich darauf aufmerksam, daß ich mich in Berlin in jedem Betrachte erholt hätte, daß ich in meinem Vaterhause wieder von den alten Uebelständen zu leiden haben würde, und die Verständigsten und Wohlmeinendsten unter ihnen redeten mir dringend zu, eine Stelle als Gesellschafterin oder als Vorsteherin eines Hauswesens zu suchen. Man stellte mir das Beispiel von Henriette Mendelssohn auf, der Tochter von Moses Mendelssohn, die sich einst im Hause des General Sebastiani in Paris eine ehrenvolle Stellung bereitet hatte; man wußte mir noch andere ähnliche Fälle zu nennen, und die Sache leuchtete mir sehr ein, denn ich hatte jetzt mehr als je das Bedürfniß, Etwas mit mir anzufangen, weil mir die letzte innere Anlehnung genommen war, seit ich auf den Zusammenhang mit dem[365] Geliebten aus Selbsterhaltungstrieb verzichten müssen. Ich konnte mit Fug und Recht den Ausspruch auf mich anwenden, den Goethe von Ottilie thut, so wenig ich sonst Aehnliches mit dieser hatte. »Ein Herz das sucht, fühlt wohl, daß ihm etwas mangle, ein Herz das verloren hat, fühlt, daß es entbehre. Sehnsucht verwandelt sich in Unmuth und Ungeduld, und ein weibliches Gemüth, zum Erwarten und Abwarten gewöhnt, möchte nun aus seinem Kreise herausschreiten, thätig werden, unternehmen und auch etwas für sein Glück thun.«

Stärker jedoch als dies Gefühl war in mir die Scheu, mich über diese Dinge gegen meinen Vater auszusprechen. Wäre mir ein derartiger Antrag gemacht worden, so hätte ich ihn wohl mitgetheilt und die Erlaubniß erbeten, ihn annehmen zu dürfen. Indeß ihm zu schreiben, daß ich eine Stelle für mich suchen wolle, konnte ich nicht über mich gewinnen, denn es schien mir undankbar und deßhalb unmöglich ihm zu sagen, wie schwer das Leben in unserm Hause mir geworden, und wie also in gewissem Sinne all das Gute, das er mir erwiesen, für mich verloren gewesen sei. Ich beschloß daher, wie ich schon oft genug gethan, mich selbst zu betrügen. Das heißt, ich wollte dem Vater nicht unnöthig wehe thun, sondern für's Erste aufpassen, zusehen und abwarten, bis die Gelegenheit zu einem entscheidenden Handeln sich darbieten würde, und inzwischen that ich, was zu thun ich für Unrecht gehalten hatte, ich bat den Vater in einem Privatbriefe, mich noch in Berlin zu lassen, wo es mir wohl ginge und mir wohl gefiele.

Natürlich erhielt ich die Erlaubniß dazu, und ich[366] wiegte mich noch in meiner müden Unentschiedenheit, mit der ich nur Zeit und Muth verlor, als ich bald nach dem Begräbnißtage des Königs von meinem Vater die unerwartete Weisung erhielt, nach Hause zu kommen, da die wieder sehr leidende Mutter auf das Land hinausziehen solle, und meine Anwesenheit im Vaterhause dadurch wünschenswerth sei. Es ward mir zugleich angedeutet, daß je schneller ich heimkehrte, um so willkommener ich sein würde, und daß ich deßhalb, ohne auf irgend Jemand zu warten, mit dem ich die Fahrt gemeinsam machen könne, sobald ich fertig wäre, mit der Schnellpost allein nach Hause kommen solle.

Meine sämmtlichen Plane, wenn man die schwankenden Absichten eines unentschiedenen Menschen Plane nennen kann, wurden dadurch vollständig umgeworfen. Meine Gedanken wendeten sich alle plötzlich der Heimath zu. Ich fing an zu besorgen, daß meine Mutter mehr krank sei, als man es mir sage, und nachdem ich in der größten Eile Vorkehrungen für meinen Aufbruch gemacht hatte, kehrte ich nach Hause zurück.

Ich fand die Mutter schon auf dem Lande, d.h. in einem Hause der Vorstadt eingerichtet, welche man die Hufen nennt, und in der, nebst den Landhäusern der Wohlhabenden und einer Anzahl von Wirthshäusern, sich auch noch einige ländliche Besitzungen befanden, in denen man Sommerwohnungen zur Miethe erhielt. Das Quartier, das wir bekommen hatten, war nur klein. Es bestand aus zwei Stuben zu ebner Erde und einer Stube im obern Geschoß, so daß die Mutter nur eine der jüngsten Schwestern, die man besonders zu schonen hatte,[367] und meine zweite Schwester bei sich hatte, welche sie pflegte. Wir Andern blieben Alle in der Stadt, gingen aber natürlich fast an jedem Abende Einer oder der Andere mit dem Vater, oder auch Alle zusammen auf die Hufen hinaus, obschon es in der Stadt weit belebter und unterhaltender war, als es sonst zu sein pflegte, denn die Huldigungsfeierlichkeiten standen nahe bevor, und da mit denselben eine größere Heerschau verbunden werden sollte, hatten sich allmählig die Truppenkörper schon zusammen gefunden, und waren nach kurzer Rast in das bei Lauth, einem von der Stadt etwa eine Stunde entfernten Dorfe, aufgeschlagene Lager eingezogen. Viele der Landwehroffiziere, die Gutsbesitzer oder Beamte waren, hatten Frauen und Töchter zu den bevorstehenden Festlichkeiten mitgebracht, der Landadel, die Landstände, die Vertreter der verschiedenen Städte kamen allmählig auch herbei, und wenn solch ein Zusammenfluß von Menschen in den Städten, welche mehrere Hunderttausende von Einwohnern zählen, auch nicht eben auffällt, so machte es sich in einer Stadt von sechszigtausend Einwohnern, in welcher alle Welt einander mindestens von Ansehen kannte, natürlich sehr bemerklich, als zehn- bis zwölftausend Fremde in ihren Straßen auf- und niedergingen, das Militär gar nicht mit eingerechnet, welches unablässig aus dem Lager in die Stadt kam. Wir waren wie in eine fremde Welt versetzt, und bei der Gastlichkeit, welche dem Norden eigen ist, war das Treiben bald sehr allgemein.

In jedem Hause war es voll von Gästen aus der Umgegend, die ihre Freunde und Bekannten als eben so willkommene Gäste mit sich brachten; es kamen Leute zu[368] Tisch und wurden als gute Bekannte zur Wiederkehr eingeladen, von denen man Nichts erfuhr, als daß ihre Güter in der Nähe des Gutes eines uns befreundeten Gutsbesitzers gelegen waren. Die Abgeschlossenheit der meisten häuslichen Kreise hatte sich plötzlich in eine rasche Geselligkeit verwandelt. Die Massen waren in Fluß gekommen, die Pedanterie des steifen Umgangstones war vor dem Gefühl einer gemeinsamen freudigen Erwartung gewichen. Fremde Männer, schwarz gekleidet, gingen durch die Stadt und sahen Gebäude und Menschen an, glänzende Equipagen rollten durch die engen Straßen, überall tünchte man in der Eile noch die vernachlässigten Häuser an, besserte man das Straßenpflaster und die Brücken aus, und fuhr man ganze Wälder von Laub und Tannen herbei, um die Guirlanden zur Ausschmückung der Stadt zu fertigen. Es gingen Wunderdinge vor, und wir waren auf Großes gefaßt.

Und Großes und Bedeutendes stand uns denn auch bevor. Wie sehr auch die Folgezeit jene hochgespannten Erwartungen herabgestimmt und getäuscht hat, welche man von der Regierung Friedrich Wilhelms des Vierten zu hegen sich berechtigt hielt, man darf den Eindruck nicht vergessen und nicht verkleinern wollen, welchen sein erstes öffentliches Auftreten durch ganz Deutschland hervorrief, man muß den Zauber selbst empfunden haben, den seine Persönlichkeit damals auf die Menschen übte, um dem Wesen des Königs und seiner geistigen Bedeutung gerecht zu sein.

Es ist nicht nöthig, der Blumengewinde und der Triumphbogen zu erwähnen, welche die Thore und die[369] Straßen schmückten, und die Stadt auf dem ganzen Wege, den der König vom Brandenburger Thore bis zum Schlosse zurückzulegen hatte, gleichsam in einen altfranzösisch festonnirten Garten verwandelten. Es war das nicht wesentlich anders, wie es überall bei solchen Anlässen zu sein pflegt, wo die respektiven Stadtbehörden zu einem Thore aus- und einziehen, wo weißgekleidete Mädchen Blumen überreichen und Bürgermeister Reden halten. Wir hatten das Alles in ähnlicher Weise schon öfter gesehen, und wenn der Anblick der Blumen, dieser Sinnbilder der Freude und des Lebens, uns auch heiter stimmten, so war es doch nicht dasjenige, was uns in den Stunden, welche dem Einzuge des Königs vorangingen, mitten in den Schaaren der wogenden Menschenmenge das Herz bewegte und erschütterte. Es war ein Anderes und ein Größeres.

Es war der Aufzug der Zünfte, welche dem Könige entgegen gingen. Sie kamen an mit fliegenden Fahnen, mit den Zeichen ihres Gewerkes, mit lautem Spiel. Vorauf ritten die Fleischer, denen der alte Kurfürst für treue Kriegsdienste das Recht verliehen, die Beherrscher des Landes in die Stadt zu führen. Ihnen folgten die Maurer, die Zimmerleute, mit mittelalterlich gekleideten Fahnenschwenkern, die ihr lustiges Spiel zum Ergötzen der Menge ausübten, die Schuhmacher mit dem Bilde des tapfern Schusters, des wackern Hans von Sagan in ihrer Fahne, die Tischler mit künstlich gearbeitetem Geräth und Werkzeug auf zierlichen Stangen, und so, gar heiter herausgeputzt, auch die übrigen Gewerke nach einander.[370]

Und heiter wie der Anblick war, standen wir ganz ernsthaft da, und manch kräftiges Herz schlug höher und manch schönes Auge weinte, denn wir sahen, Viele von uns zum ersten Male, unsere Fabrikanten und Handwerker als eine Gesammtheit, als Bürger, vereint auftreten, und wir sahen kein Militär, das ihren Weg beschränkte, und keine Gensd'armes, die das Volk mit hochmüthiger Gewalt zurückstießen.

Die Bürger zogen feierlich froh durch die Straßen, sie bildeten selber das Spalier, das den Einzug des Königs beschützte, und der König zog dadurch ehrwürdiger ein, als wenn eine große Soldatenmacht die Straßen abgesperrt und das Volk von seinem Pfade zurückgehalten hätte. Drängte sich die neugierige Jugend einmal durch das Spalier, das die Gewerke vom Brandenburger Thore ab gebildet hatten, so wußten die handfesten Männer sie recht handgreiflich zurechtzuweisen, und die Umstehenden sahen das ruhig und billigend mit an, während sicherlich überall Streit entstanden wäre, wenn Polizeibeamte ähnliche Beruhigungsversuche gewagt hätten. Es war damals bei uns in Königsberg, wie es hier in Berlin vor drei Jahren bei dem Einzug des Kronprinzen und der Prinzeß Viktoria gewesen ist. Die Leute fühlten sich gehoben und verantwortlich, weil man sie ohne Bevormundung sich selber überließ, weil man ihre bürgerlichen Verhältnisse achtungsvoll anerkannte.

Nach den Gewerken fuhr die Deputation des Magistrates, der Oberbürgermeister, der Bürgermeister, sechs Stadtverordnete und sechs Stadträthe in Staatsequipagen dem Könige bis Schönbusch, dem Landhause eines Privatmannes,[371] eine Viertelmeile vor der Stadt, entgegen. Mein Vater befand sich unter diesen sechs Stadträthen, und er sah schön aus, mit dem Claquehut und der weißen Halsbinde. Ich dachte an meine kindische Phantasie von dem Aufzuge, in welchem mein Vater dem Kaiser Napoleon entgegengezogen und ihm die Stadtschlüssel überbracht haben sollte, und an die häufigen Verweise, welche ich erhalten, wenn ich immer wieder mit diesem Hirngespinste zum Vorschein gekommen war, das alles Anhaltes, das jedes vernünftigen Grundes entbehrte. Wie mochten die Feierlichkeiten dieses Tages sich einprägen in die Tausende von Kinderköpfchen, die von allen den Fenstern und Wolmen herniedersahen, und welche Phantasmagorien mochten daraus in denselben entstehen! Die Langgasse sah aber mit ihren Wolmen fast italienisch aus, und der Gäste waren überall so viele, als Fenster und Wolme fassen konnten. Wir hatten gegen achtzig Personen zum Frühstück geladen, und dabei meine kleine Stube noch eigens für die Mutter frei gehalten, welcher man einen ruhigen, stillen Anblick des Einzugs bereiten, und die Aufregung durch lebhaften Menschenandrang ersparen wollte.

Vor und in dem Thore der Stadt gab es denn natürlich Empfangsgedichte und Blumen, und als der König die Stadt betrat, kündete lauter Glockenschall von den Thürmen dies Ereigniß dem Volke an. Die Königin fuhr in langsamem Schritt in einem offenen Wagen, ihr zur Rechten ritt der König in einer militärischen Galauniform, links vom Wagen der Prinz von Preußen. Sie waren damals Beide schöne, sehr gebietende Gestalten, und die alten Leute, welche sich noch der Königin[372] Luise erinnern konnten, fanden Friedrich Wilhelm den Vierten seiner Mutter in den Zügen, wie in dem freundlichen Ausdruck seiner Mienen, auffallend ähnlich. Der König ritt so langsam, daß die Menge sich dicht bis an sein schönes Pferd herandrängte, und da weder Militär noch Gensd'armes anwesend waren, ihm Platz zu schaffen, bog er selbst sich von Zeit zu Zeit hernieder, um freundlich die Bitte auszusprechen: »Kinder! laßt mich durch!« Seine Heiterkeit, die sichtliche Ergriffenheit der Königin, gewannen ihnen die Neigung der Menge, und es ist sicherlich etwas Großes um das Glück, sich als Herrscher von einem Volke geliebt zu wissen.

Am Abende war die Stadt erleuchtet, es war Cour im Schlosse, und durch die ganze Woche währte das festlich bewegte Leben in den Straßen und in den Häusern fort. Der König inspicirte die Truppen im Lager, es gab Manöver in der Umgegend, und mit seinen Brüdern machte der König einen Ausflug nach der Seeküste und in das Land. Täglich war bei dem Könige Tafel, zu welcher Männer aus allen Provinzen und aus den verschiedensten Ständen, vor Allen aber Gelehrte und Deputirte gezogen wurden. Sie rühmten sämmtlich den Geist und die Liebenswürdigkeit des neuen Herrschers, und seine Theilnahme für Alles, was die Wissenschaft betraf, oder sonst eine Bedeutung beanspruchen konnte. Der botanische Garten, die Sternwarte, welche damals noch unter Bessel's genialer Leitung stand, wurden in Augenschein genommen, Kinderwarteschulen, Hospitäler, Kirchen besucht; man sah zu, wie ein großes Briggschiff mit voller Takelage vom Stapel gelassen wurde, das den[373] Namen der Königin führte; der Hof erschien fortwährend öffentlich, und da man bald hier bald dorthin ging, um den König und die Königin zu sehen, so bewegten die Menschen sich den Tag über auf den Straßen. Wer nicht, wie einzelne Gewerke, zu den Festlichkeiten zu arbeiten hatte, ließ seine Geschäfte ruhen, man wollte nur sehen und sich sehen lassen, hören und plaudern.

Nächst der königlichen Familie war es die katholische Geistlichkeit, welche die Augen am meisten auf sich zog, vor Allen der Posener Erzbischof von Dunin, ein kleiner, magerer Mann, mit kleinen, scharfen Zügen, schnellem Auge, eigensinniger Physiognomie und rascher Bewegung. Er hatte genugsam von sich reden machen, man fand, daß er dem Bilde wohl entsprach, das man sich von ihm entworfen. Der Bischof von Hatten, ein hinfälliger, gebückter aber freundlicher Greis mit milden, hellen Augen, und die Bischöfe von Culm und Braunsberg begleiteten ihn häufig, der ganze katholische Clerus bildete eine kompakte Masse.

Während man die Fragen berieth, welche sich auf die Vereidigung der Deputirten von verschiedenen Confessionen bezogen, und in der Versammlung der Stände sich die ersten Conflikte zwischen dem König und dem Volke vorbereiteten, bot jeder Tag zwischen der Ankunft des Monarchen und der Huldigungsfeier neue und wechselnde Festlichkeiten dar. Am Vorabende der Huldigung gaben die Stände dem Könige ein Abendfest in dem, auf dem Königsgarten gelegenen, und für diesen Zweck dekorirten Exercirhause, bei welchem lebende Bilder und Musik die Unterhaltung ausmachten. Eine Borussia hielt die Ansprache[374] an das Königspaar und an das Volk. Danach folgten die Bilder, alle aus der Geschichte der Provinz. In dem ersten führte der Landmeister Herrmann von Balk dem Bischof Christian die ersten Christen zu, in dem zweiten weihte der sterbende Ordensmarschall Schindekop den Winrich von Kniprode zum Hochmeister. Das dritte Bild zeigte den Herzog Albrecht, der seine Braut Dorothea von Dänemark in Königsberg empfängt, das vierte den großen Kurfürsten, wie er seiner Gemahlin die besiegten schwedischen Generale vorstellt, und das letzte Tableau war eine Allegorie auf die Krönung Friedrichs des Ersten. Professor Cäsar von Lengerke hatte den Text zu den Erklärungen gemacht, die der jetzige Oberlandesgerichts-Präsident, Professor Eduard Simson, sprach, und ich glaube, obschon mir damals noch der vergleichende Maßstab für derlei Festlichkeiten fehlte, so daß mein Urtheil einem Jugendeindruck zu vergleichen ist, daß die ganze Festlichkeit eine gelungene zu nennen war.

Indeß Alles, was man für den Empfang des Königspaares bereitet hatte, trat zurück und wurde verdrängt und vergessen durch die Ereignisse des Huldigungstages, durch die Huldigung selbst und durch die Ansprache des Königs an die Huldigenden und an sein Volk.

Die Huldigung sollte im innern Schloßhofe stattfinden. Das Königsberger Schloß liegt auf einer Höhe mitten in der Stadt, und hat in einzelnen Theilen noch den Charakter seiner ersten, burgartigen Anlage bewahrt, obschon es durch Anbauten und Aenderungen aller Art umgestaltet, kaum ein Ganzes genannt, oder gar irgend einem Baustyle eingereiht werden kann. Es hat keine ordentliche[375] Façade nach irgend einer Seite, und ist, mit keinem andern Schlosse zu vergleichen, nur sich selber gleich. In Mitten der Baulichkeiten, aus welchen das Schloß sich zusammengesetzt, befindet sich ein viereckiger, nicht allzuweiter Hof, der Schloßhof. Das eigentliche alte Schloß bildet die eine Seite des Vierecks, ihm gegenüber nimmt die Schloßkirche die zweite Seite ein; eine Reihe neuerer Gebäude, in denen sich die Wohnung des Oberpräsidenten und die Räumlichkeiten verschiedener Dikasterien befinden, umgiebt die dritte Seite, an der vierten ziehen sich andere Gebäude hin, die, theilweise während der russischen Okkupation umgestaltet, den Namen des Moskowitersaales führen. Dazwischen liegen noch ein paar Thürme, die als Gefängnisse dienen, kurz es ist das sonderbarste Gemisch von Bauten, das sich auf einem Platze zusammengefunden hat. Nur durch ein enges und niedriges Thor unterhalb des Schlosses, und durch ein zweites unterhalb der Kirche gelangt man in den Hof, der auf diese Weise wohl abgeschlossen und von hohen Mauern umgeben, für eine akustische Wirkung besonders geeignet ist.

Vor dem ersten Stockwerk des Schloßflügels hatte man nun einen Balkon erbaut. Er war in der Mitte hoch, an den Seiten niedriger, trug den Thron, und gewährte auf seinen beiden Seitenflügeln Raum für die höchsten Beamten des Civil und Militär. Ein Sammetdach deckte den Thron, eine scharlachbeschlagene Treppe führte in den Hof hinunter. An dem Aufgange flatterten auf hohen Standarten die preußischen Fahnen, während Fahnen mit den Wappen von Ostpreußen und Litthauen, von Westpreußen und von Posen die Abtheilungen bezeichneten,[376] in denen die Deputirten der verschiedenen Provinzen sich dem Throne gegenüber zu versammeln hatten. Links von demselben war eine niedere Estrade für die lutherische, rechts eine für die katholische Geistlichkeit errichtet. – Der rechte und der linke Flügel des Hofes waren mit den für das Publikum bestimmten Tribünen umgeben.

Schon um sieben Uhr Morgens versammelten sich die Landstände und die Deputirten der Städte, der Magistrat und die Stadtverordneten von Königsberg, und alle Diejenigen, welche Eintrittskarten zu dem Platze oder zu den Tribünen erhalten hatten, in dem Schloßhofe. Stunden vergingen bis Alle und Jeder sich an ihrer rechten Stelle befanden. Das Wetter war sehr hell und der Septembermorgen eben so klar und leuchtend als frisch.

Als die Ordnung hergestellt war, trat der König auf den Balkon hinaus. Er ging allein und zuerst die Freitreppe, welche nach dem Schloßplatz führte, hinunter; ihm folgten die Prinzen des Hauses, die Minister und Würdenträger, der Magnifikus der Universität im rothen Sammetmantel und Baret, die Dekane der Fakultäten, die Geistlichkeit beider Confessionen, die Deputirten und Landstände von ihren Marschällen geführt; und in dieser Ordnung begab sich der Zug in die Kirche und nach dem Gottesdienste zurück in das Schloß, wo die Fürsten von Thurn und Taxis und von Sulkowski durch Stellvertreter, und der Magnifikus der Universität im Thronsaal den Huldigungseid schwuren. – Man hatte bei dem langen Wege durch den Schloßhof hinlänglich Gelegenheit, den König und die Prinzen zu sehen: sie hatten Alle einen ritterlichen Anstand, und selbst der zwölfjährige[377] Sohn des Prinzen Carl hatte für sein Alter schon eine feste, sichere Haltung.

Als nun der König wieder heraustrat, und sich auf den Thron gesetzt hatte, hielt der Kanzler von Preußen, Herr von Wegnern, eine Anrede an die Stände, welche die Sprecher der drei Provinzen beantworteten. Darauf verlas ein Regierungsrath den Huldigungseid, der wie aus Einer Brust nachgesprochen wurde, und von dem man jede Sylbe vernahm, obgleich mehr als zwölftausend Menschen auf dem beschränkten Raume beisammen waren.

Da, als nun mit dem »Amen« das letzte Wort verklungen war, erhob sich der König mit dem Impuls der höchsten Begeisterung, trat mit einer stürmischen Bewegung bis an den äußersten Rand des Balkon's, und sprach mit einer Stimme, die in jeder Brust wiederklingen mußte, indem er die Hand zum Schwur aufhob: »Und ich schwöre und gelobe vor dem allmächtigen Gott und vor diesen lieben Zeugen allen, daß ich ein gerechter Richter, ein treuer, sorgfältiger, barmherziger Fürst, ein christlicher König sein will, wie mein unvergeßlicher Vater es war! Gesegnet sei sein Andenken! Ich will Recht und Gerechtigkeit mit Nachdruck üben, ohne Ansehen der Person, ich will das Beste, das Gedeihen, die Ehre aller Stände, aller Confessionen und aller Volksstämme mit gleicher Liebe umfassen, pflegen und fördern – und ich bitte Gott um den Fürstensegen, der dem Gesegneten die Herzen der Menschen zueignet, und aus ihm einen Mann nach dem göttlichen Willen macht – ein Wohlgefallen der Guten, ein Schrecken der Frevler! Gott segne unser theures Vaterland! Sein Zustand ist von Alters her oft beneidet, oft vergebens erstrebt! Bei uns ist Einheit[378] an Haupt und Gliedern, an Fürst und Volk, im Großen und Ganzen herrliche Einheit des Strebens aller Stände nach einem schönen Ziele – nach dem allgemeinen Wohl in heiliger Treue und wahrer Ehre. Aus diesem Geiste entspringt unsere Wehrhaftigkeit, die ohne Gleichen ist. – So wolle Gott unser preußisches Vaterland sich selbst, Deutschland und der Welt erhalten. Mannigfach und doch Eins! wie das edle Erz, das, aus vielen Metallen zusammengeschmolzen, nur ein einziges edelstes ist – keinem Roste unterworfen, als allein dem verschönernden der Jahrhunderte.«

Nur wer eine solche Scene erlebt, wer es selbst einmal empfunden hat, wie die Flamme der Begeisterung in vielen tausend Herzen zugleich auflodert, kann sich einen Begriff von jenem Augenblicke machen. Der König selbst sank auf den Thron zurück, und barg sein Antlitz in seinem Tuche, und es war kein Auge trocken geblieben. Ernsten Männern rollten vor Begeistrung die Thränen über die Wangen, und das Lebehoch, das dem Könige und der Königin gebracht wurde, und sich bei seiner Rückkehr in das Schloß wiederholte, war an jenem Tage der leidenschaftliche Ausdruck hoher Verehrung.

Friedrich Wilhelm der Vierte, obschon kein junger Mann mehr, war durch seine enthusiastische Natur noch jung in seinen Empfindungen, und selbstherrlich in dem Ausdrucke derselben, hatte er sich mit seinem Volke in diese bisher in Preußen völlig ungewöhnliche persönliche Berührung gebracht. Er fühlte, ohne alle Frage, in jenem Momente das Glück, ein Volk wie das preußische zu beherrschen, und die Pflicht, es nach dessen Bedürfniß wohl zu regieren. Er war stolz darauf, als Herrscher[379] eines solchen Volkes dazustehen, und Mann gegen Mann, erhob er sich zum Gegenschwure; und das starke Echo im Schloßhofe wiederholte jedes seiner Worte, als ob es den Schwur noch bindender machen wollte. Es war ein außerordentlich bedeutender Eindruck und die Wirkung auf die Menschen eine überwältigende.

Aufgeregt, voll Vertrauen, voll Erwartung und voll Hoffnung kehrten die Menschen in ihre Behausungen zurück. In allen Häusern hatte man Gäste, gab es so zu sagen offene Tafel, stand das Gabelfrühstück auf dem Tische. Die ältern Personen sagten, so aufgeregt, so unruhig sei es in Königsberg seit der Franzosenzeit nicht gewesen. Auch bei uns im Hause war der ovale Eßtisch in dem großen, nach hinten gelegenen Wohnzimmer für achtzehn Personen gedeckt, die Dienstboten waren wie zum Sonntag gekleidet, wir Alle kamen in Festtagskleidern von der Huldigungsscene heim, unsere nächsten unverheiratheten Freunde begleiteten uns. Niemand mochte in den überfüllten öffentlichen Gastzimmern sein, der mit Freunden zusammenbleiben konnte, Niemand mochte allein speisen. Stehend, an Nebentischen sitzend, nahm man die gebotenen Erfrischungen an. Man wollte von den Andern hören, daß man dies Alles wirklich erlebt, daß ein König von Preußen aus freiem Antriebe also zu seinem Volke geredet habe, man wollte sich aussprechen. Mit den Hausfreunden kamen deren Bekannte herbei, die Herzen waren offen, wie sollten die Häuser es nicht sein? Mein Vater, sonst ein strenger Wirth in diesen Dingen und immer der Ansicht, daß Weinluxus im Hause eines Weinhändlers sich nicht gut ausnehme, ließ Wein heraufbringen, so viel man trinken mochte; Jeder war zur[380] Freigebigkeit geneigt. Es giebt gar Nichts, das liebenswürdiger wäre, als ein zur Hoffnung aufgeregtes Volk!

Man nannte den König groß, den Vorgang erhaben, unvergleichlich, man überbot sich in Lobpreisungen. Alle waren von dem gleichen Gefühle, von dem gleichen Enthusiasmus erregt; ich habe meinen Vater niemals durch einen äußern Vorgang so erhoben gesehen. Nur Einer von Allen war völlig ungerührt geblieben; das war Rath Crelinger. Er nannte das Erlebte eine originelle Scene!

Man verargte ihm das, es focht ihn nicht an. Sein leises ironisches Lächeln flog um seinen Mund, und er drückte die Brille fester gegen das Auge, um die einzelnen Personen näher anzusehen. Die allgemeine Stimme einigte sich darin, die Rede des Königs als ein Versprechen, als die Zusage anzunehmen, mit welcher er die Verfassung zur Ausführung zu bringen verhieß, welche sein Vater dem Lande noch schuldig geblieben war. Es war freilich kein Wort davon in der Rede oder vielmehr in dem Eidschwur vorgekommen, aber man hatte mit voreingenommener Seele zugehört, und das Orakel auf seine Weise gedeutet.

Wird der König die Constitution geben? wird er sie noch hier geben? wird sie morgen proklamirt werden? wer hat sie verfaßt? weiß Herr von Schön darum? hat er vorher darum gewußt? das waren die Fragen, mit denen man sich beschäftigte. »Oh!« rief mein Vater, der seiner Natur nach ganz auf persönliches Eingreifen gestellt, und sein Vertrauen daher leicht auf den Willen und die Stärke eines Einzelnen zu bauen geneigt war, »oh! mit einem solchen Könige brauchen wir keine Constitution!« –[381]

Der und Jener unter den ältern Männern stimmten ihm bei, aber auch jetzt blieb jener Eine völlig unbewegt, und dem Vater leise auf die Schultern klopfend, sagte er gelassen: »Lieber Herr Stadtrath! das wollen wir doch erst abwarten!«

Er mißfiel mit dieser Bemerkung allgemein, er sah das, und lächelte wieder; und sich zu mir wendend, fragte er mich: »Kennen Sie die Aeußerungen, welche Pius der Siebente bei Napoleon's Krönung in Paris gethan?« Ich verneinte es. »Erinnern Sie mich, daß ich sie Ihnen einmal gelegentlich mittheile!«

Man blieb nicht lange bei dem improvisirten Frühstück, man zog aus einem Hause in das andere, man besuchte alle seine Freunde. Am Abende regnete es, als der Fackelzug der Studenten nach dem Schlosse hinaufging, und wie eigenartig das Fest auch war, welches am folgenden Tage die Kaufmannschaft in der Börse und auf den Dampfschiffen veranstaltet hatte, mit denen man in das Haff hinausfuhr, wie prächtig das Souper und das Concert auch sein mochten, mit welchem der König der Bürgerschaft und den Deputirten ihre Aufnahme vergalt, so war doch, da jeder Zustand seinen Höhepunkt hat, der eigentliche Huldigungsakt dieser Culminationspunkt gewesen, und schon am nächsten Morgen, als die Königsberger Hartung'sche Zeitung, und in ihr die Schwurrede des Königs erschien, fiel es allen Denen, welche sie selbst vernommen hatten, peinlich auf, daß in dem Abdruck, an der Stelle: ich will das Beste, das Gedeihen, die Ehre aller Stände, aller Confessionen und aller Volksstämme mit gleicher Liebe umfassen, pflegen und fördern – die Worte »aller Confessionen« ausgeblieben waren.[382]

Andere Gerüchte über die politischen Ansichten des Königs, über Aeußerungen, welche er gegen einzelne Personen gethan haben sollte, wurden damit zusammen gehalten, und erregten Befremdung und Erstaunen. Man wollte jedoch Nichts glauben, als was man selbst vernommen, und man hielt sich an den Eindruck, dessen Nachwirkung man noch empfand. – Während der König den Eid leistete, hatte man einen furchtbaren Schrei vernommen, den eine Frauenstimme ausgestoßen zu haben schien. Die Nächststehenden wollten die Worte gehört haben: »Du sollst nicht schwören! sagt der Herr!« Man behauptete, es sei eine halb irrsinnige Mennonitin gewesen, welche die Warnung ausgerufen. Am Huldigungstage hatte man das Intermezzo ganz vergessen, in den nächsten Tagen erinnerte man sich plötzlich daran. Es war Etwas in der Stimmung der Menschen verändert, sie waren noch dieselben, aber sie sahen nicht mehr so strahlend und so hoffnungsreich aus. Die Sonne lag nicht mehr so hell über der Gegend, es fanden sich schon Einer oder der Andre, welche sich zu Crelingers Ansicht bekannten: daß man es abwarten müsse! Aber die Begeisterung und das Vertrauen waren noch sehr groß, und wie auch die spätere Zeit die Gesinnungen Friedrich Wilhelm's des Vierten gewandelt haben mag, daß er in jener Stunde voll festen Glaubens an sich selber, voll großen Willens und selbst eben so hingerissen war, wie er hinriß, davon bin ich noch heute überzeugt. Er war eine der reizbaren und phantasievollen Naturen, welche der Augenblick über sich hinaushebt, und die dann später vor ihrer eigenen Größe bange werden, weil ihnen die Kraft gebricht, sich selber dauernd gleich zu sein![383]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 2, Berlin 1871, S. 365-384.
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