Fünfter Brief

[44] Als wir im vorigen Jahre in Genf einmal über die Emancipation der Frauen zur Arbeit und über die weibliche Gewerbthätigkeit sprachen, bemerkte man mir, daß in Genf die industrielle Beschäftigung der Mädchen und Frauen in den eigentlichen Arbeiterständen und auch über deren Bereich hinaus etwas Altherkömmliches sei. Für die Mädchen habe man darin keinen Nachtheil gefunden, sie hielten sich zu ihren Familien und brächten es auch zu einem Heirathsgute. Auf meine Frage, ob sich der Bildungsgrad und die Moralität der Mädchen durch die industrielle Beschäftigung, im Vergleich zu den Cantonen, in welchen dieselbe weniger üblich sei, gebessert oder verschlechtert hätten, konnte ich von meinen Bekannten keine Auskunft erhalten. Sie waren aber natürlich auch der Ansicht, daß es eine Wohlthat sei, wenn durch eine ordentliche Unterweisung der Mädchen und durch ihre zuverlässige Erwerbsfähigkeit die Möglichkeit der Ehen und der soliden Familienbegründung erhöht, und eben dadurch der Entsittlichung beider Geschlechter in ungeregelten und zügellosen Verbindungen so viel als[44] thunlich begegnet würde. Sie äußerten sich jedoch weniger günstig über die gewerbliche Beschäftigung der Frauen, sofern diese außer dem Hause zu arbeiten genöthigt würden. Man schilderte mir es, wie die Eltern, wenn sie von der Arbeit kämen, in das Café oder das Estaminet gingen, um dort, die Kinder neben sich und auf dem Arme, nach der mühevollen Tagesarbeit ihr Abendbrod zu essen und ihr Glas Wein oder Bier zu trinken. Wie die Kinder auf den Tischen und Bänken einschliefen, die Säuglinge oft noch in der späten Abendkühle nach Hause getragen würden; wie der sonntägliche Kirchenbesuch darunter litte, wenn die Hausfrauen die eigentliche Hausarbeit auf den Sonntag zurücklassen müßten, und wie denn doch Zeiten kämen, in denen die Frau selbst nicht in Arbeit gehen könne, und andere, in welchen Krankheit der Kinder und andere unabweisliche Pflichten sie zu Hause hielten. Aber es ist damit, wie mir scheint, gegen die Gewerbthätigkeit des weiblichen Geschlechts im Allgemeinen eben so wenig etwas bewiesen als mit der Klage, die ich in Berlin sehr häufig aussprechen hörte, daß in den Familien der arbeitenden Stände der Selbsterwerb den Mädchen eine zu große Selbständigkeit gäbe. Es hieß, sie wollten dann den Eltern nicht wie sonst »pariren«, sie wollten ihren eigenen Kopf und Willen, wollten Vergnügungen außer dem Hause haben, und wohin diese sie führten, das wisse man ja!

In Bezug auf die Einwendungen, welche man gegen[45] die außerhäusliche Beschäftigung der weiblichen Verheiratheten hegt, so ist es keine Frage, daß diese ein Uebel ist, welches, wofern es irgend möglich, vermieden werden muß. Es kommt also wahrscheinlich darauf an, die Mädchen nicht einseitig zu unterrichten, sondern ihnen so viel praktische Kenntnisse und so viel Handgeschicklichkeit zu geben, daß sie sich in gefordertem Falle leicht aus einer Art von Beschäftigung in eine andere hinüberfinden können. Gewannen sie, so lange sie Mädchen waren, als Buchführerin ihr Brod außerhalb des Hauses, so wird es sicherlich besser sein, wenn sie es nach ihrer Verheirathung in ihrer Wohnung mit Federn kräuseln oder Spitzen appliciren oder wie es sonst angeht, verdienen können; denn die gute deutsche Sitte des häuslichen Familienlebens soll ja durch die Gewerbthätigkeit der Frauen gefördert, nicht beeinträchtigt werden, und dazu eben soll die vielseitige und größere Ausbildung der Frauen in den Gewerbeschulen die Möglichkeiten bieten.

Daß Mädchen, welche sich selbst ernähren, unabhängiger werden als solche, welche dies zu thun nicht im Stande sind, ist keine Frage. Aber das Gefühl der Selbständigkeit und die Neigung zur freien Selbstbestimmung sind nur da bedenkich, wo Sittenlosigkeit und Unbildung zu einem Mißbrauch der an und für sich wünschenswerthen Selbständigkeit verleiten können. Daß dieser Mißbrauch vorgekommen ist und noch vielfach vorkommen kann, wird Niemand abzuleugnen vermögen, der[46] das Leben und namentlich die Verhältnisse in den großen Städten kennt. Indeß auch gegen diese Uebelstände liegt die Hülfe eben nur in der besseren Erziehung der weiblichen Jugend; und vor Allem, wie mich dünkt, darin, daß man ihnen die Aussicht eröffnet, durch ihren Fleiß zu einem verhältnißmäßig günstigen Loose gelangen zu können, sei es, daß ihnen die Ehe oder die Ehelosigkeit zu Theil werde.

Schlimmer als es jetzt in den meisten großen Städten um die Zuchtlosigkeit der Mädchen aus den nicht gebildeten Klassen beschaffen ist, kann es wohl schwerlich werden; und wenn wir den Grund derselben aufsuchen wollen, werden wir in vielen Fällen darauf kommen, daß die nicht ausreichende Erwerbsmöglichkeit und das aus ihr folgende Bestreben, »sich an den Mann zu bringen«, die jungen Frauenzimmer geneigt machen, sich blindlings mit jedem Manne einzulassen, der ihnen die Hoffnung auf die Ehe eröffnet. An die ganz verwahrlosten armen Geschöpfe, die noch als halbe Kinder von ihren eigenen Müttern geradezu verkauft und der Wollust zum Opfer überlassen werden – und ich habe deren unter Augen gehabt – darf man nicht denken, wenn man sich das Herz nicht zerreißen lassen will; aber auch dagegen wird die alleinige Hilfe doch nur darin zu finden sein, daß man Mütter heranzubilden sucht, die Gewissen, Herz und Ehrgefühl genug haben, ihre Kinder nicht in das Elend und in das Verbrechen zu stoßen.[47]

Anders als in diesen Volksklassen, in denen man es oft mit der ersten sittlichen Erhebung des weiblichen Geschlechts zu thun hat, stellt sich das Verhältniß in den gebildeten und doch für die Frauen des Selbsterwerbes bedürftigen Klassen, in denen die Mädchen, welche vielleicht nicht abgeneigt wären, sich zu ehrlicher Arbeit, zum Brodgewinn durch ein Gewerbe zu entschließen, häufig von diesem vernünftigen Vorsatze zurückgeschreckt werden, weil sie fürchten, dadurch der gesellschaftlichen Vortheile verlustig zu gehen, deren sie innerhalb ihrer Kaste bisher genossen hatten. Ich brauche das Wort Kaste ganz mit Absicht, denn unsere Gesellschaft hat in der That noch einen Kastengeist und Kastenvorurtheile, wenn sich die verschiedenen Kasten auch nicht durch ihre Kleidung oder durch sonst äußerlich in die Augen fallende Abzeichen wie in Indien unterscheiden.

»Frau Stahr!« sagte mir einmal die Tochter eines Banquiers, der obenein noch Geheimer Commerzienrath war, als ich davon sprach, eine der ersten industriellen Familien zu besuchen, die wir im Bade hatten kennen lernen, »Frau Stahr, Sie werden doch nicht zu den Leuten gehen?« – »Weshalb denn nicht?« – »Ach, die haben ja einen offenen Laden!« – Man konnte es in Bombay nicht besser verlangen. –

Diesem Kastengeiste zu begegnen, ist von Seiten derjenigen Frauen, welche nicht zur Erwerbsarbeit genöthigt sind, eine der unerläßlichsten Pflichten, wenn man dem[48] Gewerbwesen und der Emancipation der Frauen zur Arbeit wirklich die Wege bahnen will. Ich meine damit natürlich nicht, daß man in die gebildete Gesellschaft ungebildete Frauen und Mädchen aufnehmen solle, nur weil sie sich ihr Brot erwerben und in dem oder jenem Fache geschickte Arbeiterinnen sind; aber ich meine, daß man diejenigen gebildeten Mädchen und Frauen, die sich zum Betrieb eines bürgerlichen Gewerbes entschließen, nicht um deswillen von der gebildeten Gesellschaft, in welcher sie bis dahin zu leben gewohnt gewesen sind, ausschließen soll, wie das bisher fast durchweg der Fall gewesen ist. Ich könnte auch dafür eine Menge von Beispielen anführen; aber ich will nur eines herausgreifen, weil in diesem alle Personen, die es betrifft, nicht mehr am Leben sind.

In Berlin lebte im Hause eines Seehandlungs-Präsidenten als Gesellschafterin der edeln und höchst gebildeten Frau desselben ein junges Mädchen aus angesehener Familie. Auguste war klein, reizend, geistreich, die Frau vom Hause hatte ein Vergnügen daran, sie elegant gekleidet, sie bewundert zu sehen, und sie ward in der That von ihrem achtzehnten bis achtundzwanzigsten Jahre in einer Weise von den jungen und alten Männern des großen gesellschaftlichen Kreises lebhaft gefeiert, so daß man nicht begreifen konnte, wie es zuging, daß sie sich noch immer nicht verheirathete. Sie war ein sittlicher Charakter, das gaben alle Männer zu; aber sie[49] war an großen Luxus, an die Loge im Theater, an Badereisen u.s.w. gewöhnt, und sie hatte keinen Heller Vermögen und war doch nur »eine Gesellschafterin«, die nicht einmal mit dem Haushalte Bescheid wußte, für den eine andere Person zu sorgen hatte. Es ging denn wie es immer geht: Auguste hatte getäuschte Hoffnungen die Hülle und Fülle erlitten, ihre gute Laune, ihr Frohsinn ließen allmälig nach, die Präsidentin fand, daß ihre Gesellschafterin unliebenswürdig werde, sie war nicht mehr das Kind, mit dem alle Welt zu tändeln geliebt hatte. Es gab auch gelegentlich Mißverständnisse, die Thränen fließen machten; das verjüngte und verschönte Auguste auch nicht, und – man trennte sich endlich, weil Auguste es unerträglich fand, immerfort nur »zum Liebenswürdigsein auf dem Platze zu stehen«. Sie wollte sich nützlich machen, wissen, wozu sie auf der Welt sei, und entschloß sich als Haushälterin in das Haus eines bejahrten Mannes, eines Wittwers einzutreten, der vier, fünf erwachsene Söhne hatte und als Hoflieferant das damals berühmteste Modegeschäft von Berlin betrieb. Sie nahm sich in den sehr veränderten Verhältnissen vortrefflich, aber die »Gesellschaft«, die es ganz in der Ordnung gefunden hatte, daß sie zehn Jahre lang im Hause der Präsidentin einen ungehinderten unnützen und müßigen Verkehr mit Männern gehabt hatte, fand es »nicht in der Ordnung«, daß sie für das häusliche Behagen von sechs Männern sorgte, gegen deren Aufnahme in die Gesellschaft man[50] übrigens kein Bedenken gehabt haben würde. In diesem Verhältniß blieb Auguste sieben, acht Jahre, und die »Gesellschaft« gewöhnte sich endlich doch daran, ihren ungewöhnlichen Schritt stillschweigend »zu toleriren«. Auguste hatte während dessen einen Einblick in die kaufmännischen Verhältnisse gethan, hatte ein Mädchen kennen gelernt, das in dem Geschäfte des Hoflieferanten lange Jahre thätig gewesen war, und da beide Mädchen etwas erspart hatten, beide sich sagen mußten, daß sie in ihren jetzigen Verhältnissen lebenslang abhängig bleiben müßten, was zuletzt doch sein Drückendes habe, beschlossen sie, sich zusammenzuthun und das Wäschgeschäft zu gründen, das noch jetzt in Berlin an der Schloßfreiheit unter der Firma Pauli und Scharrenweber besteht. Sie gingen beide mit Energie an die Arbeit, das Geschäft kam rasch in Aufschwung, ihre alten Bekannten bildeten ihnen eine gute Kundschaft; aber – mit Augusten's gesellschaftlichen Beziehungen war es mit einem Male vorbei – oder doch nahezu vorbei; denn es waren allerdings einige Familien verständig genug, den Entschluß des Mädchens als sehr achtungswerth und von der Nothwendigkeit als geboten zu erkennen, und sie wie früher bei sich aufzunehmen, die Mehrzahl ihrer Bekannten zog sich jedoch von ihr zurück. Die Eine war gerade in den Laden gekommen, als Auguste einem Manne, den sie beide kannten, Nachthemden zum Besehen vorgelegt und angemessen hatte, die Andere hatte dabei gestanden, wie sie Pantalons und Kinderzeug verkauft![51] – Das war doch Alles »sonderbar« war »komisch« – kurz – »es paßte sich eben nicht«, und der größte Theil der Frauen, welche Auguste reizend und liebenswürdig und eine angenehme Gesellschafterin genannt hatten, so lange sie kein eigenes Vermögen besaß, von fremden Leuten abhing und keine Viertelstunde über sich bestimmen konnte, fanden sie ihres Umganges nicht mehr werth, seit sie zu allen ihren guten Eigenschaften noch Vermögen und Freiheit gewonnen hatte.

Sie hat sich einmal bitter genug darüber gegen mich ausgesprochen, als wir zufällig zusammentrafen und ich ihr zu ihren Erfolgen Glück wünschte, die sie leider nicht lange genossen hat, da ein plötzlicher Tod sie früh ereilte; aber von dem Verlangen, in der »Gesellschaft« zu »glänzen« und von der blinden Unterordnung unter das »Was wird man dazu sagen?« war sie gründlich geheilt worden.[52]

Quelle:
Fanny Lewald: Für und wider die Frauen. Berlin 1870, S. 44-53.
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