Achtzehntes Capitel

[211] In Rothenfeld und in Richten, im Amthofe wie im Schlosse hatte man vollauf zu thun. Der Glöckner mit Frau und Kindern, der Sacristan mit seinen vier Schülern waren eingetroffen. Eva hatte auf Anweisung des Freiherrn das Haus für sie eingerichtet, die Vorräthe für den ersten Bedarf des neuen Hausstandes herbeigeschafft, und wie leicht der Freiherr dies auch veranschlagte, fiel es für die Verwaltung doch immer in das Gewicht, denn der Unterhalt für zehn Personen will erworben sein.

Im Schlosse langte um die festgesetzte Stunde der Fürstbischof, wie zur Grundsteinlegung, mit seinen Vicaren und Caplänen an, und Angelika, obschon sie sich danach zurückzog, um ihre Kräfte für den nächsten Tag zu Rathe zu halten, ließ es sich nicht nehmen, ihm bis an die Schwelle ihres Hauses entgegen zu gehen. Sie wollte die erste sein, welche des verehrten Greises Segen für sich und ihren Sohn erbat.

Im Laufe des Tages hatte der Bischof verschiedene besondere Unterredungen mit dem Freiherrn und mit dem Caplan; auch mit der Herzogin wanderte er im letzten Sonnenscheine noch auf der Terrasse umher. Renatus, an dem sie, ohne auf ihn zu achten, mehrmals vorübergegangen waren, hörte, daß sie von Italien sprachen, und fragte am Abende die Mutter, weßhalb sie nicht auch einmal nach Italien reisten, wenn es dort so schön sei.

Herbert war schon seit zwei Tagen im Amthause. Er hatte dem Freiherrn am bestimmten Termine den Bau übergeben, die[211] Schlüssel ausgeliefert, und dieser hatte es an Lob und Anerkennung für den Architekten auch jetzt nicht fehlen lassen. Eine Einladung, in das Schloß zu kommen, war an Herbert nicht ergangen, aber der Freiherr hatte ihn aufgefordert, am Abende des Festtages sich zu der Mahlzeit auf der Birkenhöhe einzustellen, und er hatte dies schicklicher Weise nicht ablehnen dürfen, obschon ihm jede Begegnung mit den Schloßbewohnern peinlich war.

Die ganze Nacht hindurch hatte der Gärtner mit seinen Gehülfen Kränze und Guirlanden zu den Ehrenbogen geflochten, die den Eingang der Kirche, den Altar wie die Kanzel zieren sollten. Als der Morgen in seiner Herrlichkeit heraufzog, waren der Gehülfe und Herbert schon auf den Füßen, um die Ausschmückung für die Kirchenfeier zu überwachen und zu leiten.

Es hatte in der Nacht stark gethaut, nun dehnten und wiegten sich unter dem heißen, entfaltenden Sonnenstrahle die feuchtglänzenden Blätter und Gräser. Kein Wölkchen stand am Himmel. Ueber die Getreidefelder wehte der Morgenwind, daß die Halme sich neigten und hoben und die noch weiß schimmernde Aehrenfülle des Weizens und der Gerste sich unter dem leisen Luftzuge wie die zitternden Wellen eines glänzenden Wasserspiegels schillernd bewegten. Die Vögel stiegen überall aus Feld und Busch empor und schwangen sich mit jubelndem Gesange hoch hinweg über das goldene Kreuz des Kirchthurmes, welches, wie Angelika es einst ersehnt hatte, jetzt weithin leuchtend in die Ferne strahlte.

Früh um neun Uhr ging der Glöckner zum ersten Male an sein Amt.

Angelika stand an dem Fenster ihres Zimmers; sie sah gedankenvoll in die Gegend hinaus. Ich habe einen sonderbaren Traum geträumt, sagte sie zu Marianne. Ich ging allein, vor euch Allen in die Kirche; es war ein prächtiger Tag, und ich fühlte mich so leicht, daß ich die Erde gar nicht berührte. Ich[212] wandelte ruhigen Schrittes durch die Luft, ohne mich darüber zu verwundern. Nur Eines fiel mir auf: die Tannenbäume, welche vom Gitter nach der Kirche führen, standen in voller Blüthe und trugen statt der Zapfen die schönsten weißen Rosen. Ich freute mich so darüber!

Indem sie diese Worte sprach, ertönten die ersten Schwingungen der Glocken durch die Weite. Angelika's Herz wallte auf, sie hielt in ihrer Erzählung inne und knieete nieder.

Es drängte sie, dem Herrn dafür zu danken, daß er sie die Erfüllung ihres Gelöbnisses erreichen lassen, daß sie den Tag erlebte, an welchem die Glocken ihrer Kirche fernhin mahnend zu ihr hinüber schallten, und sie dachte nicht daran, daß es andere, ganz andere Gefühle waren, welche dieser fremde Klang in den Herzen ihrer Unterthanen weckte.

Nach kurzem, inbrünstigem Gebete richtete sie sich auf. Sie mußte ihren Gatten sehen.

Du hier? rief er, als sie bei ihm eintrat, und ihre Hand ergreifend, hieß er sie willkommen, während er sie zu einem Sessel geleitete. Die Glocken der Kirche tönten fort und fort. Der Freiherr und Angelika waren beide sehr bewegt. Sie fühlten sich durch ein gemeinsam Gewolltes und Erreichtes, sie fühlten sich durch die heiligsten Bande, durch die schmerzlichsten Erinnerungen, durch Leiden und Freuden, durch die Hoffnungen und Sorgen für ihres Sohnes Zukunft verbunden und zu einander gehörend. Niemals waren sie in ihrem Denken und Empfinden mehr im Einklange gewesen, als unter dem ersten, feierlichen Läuten dieser Glocken, und doch hatten sie es verlernt, sich einander vertrauend hinzugeben. Vereinsamt und zagend standen sie sich gegenüber, das Herz that beiden wehe, weil jeder von ihnen seine Aufwallung zurückhielt.

Endlich überwand der Freiherr sich. Wir sind am Ziele, sagte er, und wie man auf der Höhe eines Berges der Mühen,[213] mit denen man ihn erstieg, leicht vergißt, um sich der herrlichen Fernsicht zu erfreuen, so dürfen auch wir, der Opfer, die wir bringen müssen, fortan nicht mehr gedenkend, uns des Geschaffenen erfreuen, das denen, die nach uns kommen werden, von uns Kunde geben und unsere Namen in eine ferne Zukunft tragen wird. Laß uns einander Glück dazu wünschen!

Er küßte sie mit Feierlichkeit auf die Stirne, und unfähig, ihre Erschütterung zu verbergen, zu scheu, sich ihm in die Arme zu werfen, küßte sie ihm die Hand. Das fuhr ihm wie ein Stich durchs Herz.

Angelika, Beste, was thust Du? rief er erschrocken aus. Aber sie sah ruhig zu ihm empor und sagte: Laß es geschehen! Es hat mir wohlgethan, lieber Franz, Dich so mild gestimmt zu finden, und ich gewinne dadurch den Muth, eine Bitte an Dich zu richten!

Er setzte sich an ihre Seite; sie blieb eine Weile in schweigendem Nachdenken versunken, dann sagte sie: Ich möchte mich dazu des Bildes bedienen, das Du eben jetzt gebrauchtest, Lieber! Man sieht vom erreichten Ziele die Dinge freier an, und – Du wirst Dich darüber so wenig zu täuschen vermögen, als ich – auch mein Ziel wird bald erreicht sein! Da möchte ich den Personen, denen ich genaht bin, so weit es möglich ist, gern freundliche Erinnerungen hinterlassen!

Der Freiherr unterbrach sie. Sie hatte bisher niemals von der Wahrscheinlichkeit ihres frühen Todes zu ihm gesprochen. Er versuchte ihre Ahnung zu bekämpfen, er wollte sich selber die Wehmuth verscheuchen, es gelang ihm Beides nicht.

Was uns auferlegt ist, werden wir erwarten und tragen müssen, sagte Angelika ergeben, aber erfülle meinen Wunsch. Lege noch heute Eva's Hand in Herbert's Hand. Es würde mich schmerzen, wenn er, der uns so schön gedient, und der – jetzt wirst Du mir es glauben – rein und ehrenhaft Dir gegenüber dasteht, unserer mit Abneigung gedenken sollte.[214]

Der Freiherr schloß, wie unter einer schmerzlichen Berührung, unwillkürlich die Augen, seine Brauen, seine Lippen preßten sich zusammen: Angelika blieb ruhig und gelassen. Das Erlebte lag weit hinter ihr.

Der Tag ist uns, die wir den Bau begründet haben, ein hohes Fest, sprach sie; Du wünschest ihn der Herzogin zu einem Ehrentage zu machen. Laß ihn für Herbert, für Eva und für ihren Bruder gleichfalls zu einem Tage freudiger Erinnerung werden, und auch mein Herz wird ihn dann als einen doppelt gesegneten empfinden, denn ich werde Deine Verzeihung in der Gewährung meiner Bitte empfangen zu haben glauben.

Laß die Vergangenheit begraben sein, laß uns auf die Zukunft blicken, sagte der Freiherr mit milder Abwehr, und sei es, wie Du's wünschest. Noch heute will ich Eva meine Zustimmung verkünden.

Angelika dankte ihm dafür. Sie wollte Zeit und Stunde wissen; ihr Gatte bat, ihm dies zu überlassen; er wollte sich wie immer die Freiheit augenblicklicher Entschließung vorbehalten.

Inzwischen war es Zeit geworden, sich nach der Kirche zu begeben. Wie vor acht Jahren fuhr man in vier Wagen durch das Dorf, weniger noch als damals ließen die Gutsinsassen sich blicken. Es war Sonntag; sie waren vollzählig zu ihrem Pfarrer in die Kirche gegangen. Die Pfarrerin hatte diesen mit Bitten und mit Thränen davon abzuhalten gestrebt, daß er eben an dem heutigen Tage ein Aergerniß gäbe, aber der Pastor ließ es sich nicht nehmen, grade heute mit feurigem Worte sein Herz vor der Gemeinde auszuschütten und sie zu warnen, daß sie sich nicht durch äußeren Glanz und äußeren Vortheil verführen lassen sollte.

Der Amtmann und Eva fehlten in der Kirche. Wie sehr sie ihren alten Pfarrer auch verehrten, sie hatten zu viel Freude an dem Ehrentage Herbert's; sie waren dem Baue durch alle seine Stufen mit zu großer Theilnahme gefolgt, als daß sie es[215] sich und Herbert hätten versagen mögen, das schöne Bauwerk in seinem ersten Schmucke zu sehen, die ersten Orgeltöne in diesem Gotteshause erklingen zu hören.

Die Wagen machten außerhalb des Kirchhofes Halt. Der Freiherr, seine Gattin am Arme, seinen Sohn an der Hand, durchmaß den mit Blumen bestreuten Weg. Da er und Angelika sich in der Vorhalle mit dem geweihten Wasser netzten, war es ihnen, als hätten sie dies nie zuvor gethan, und es durchschauerte sie feierlich.

Von der Herzogin begleitet, begaben sie sich in die herrschaftliche, der Kanzel gegenüber gelegene Loge. Die katholische Dienerschaft aus dem Schlosse hatte unten in den Bänken Platz genommen. Unter dem Portale empfing der Caplan, als Pfarrer der neuen Kirche, den Fürstbischof und sein Gefolge. In vollen, jubelnden Klängen ließ die schöne Orgel ihr Halleluja ertönen, die Chorknaben schwangen die silbernen Weihrauchgefäße, und das große, bischöfliche Kreuz voraufgetragen, schritt der Bischof mit seinem Gefolge dem Altare zu, die erste Messe in der Kirche zu lesen.

Dann bestieg der Pfarrer seine Kanzel, und Angelika wie der Freiherr glaubten ein Wunder vor sich zu sehen. Wie verjüngt strahlte sein Antlitz, mit fremdem, mächtig ergreifendem Tone schallte seine Stimme von der hohen Wölbung der Kuppel zurück. Er fühlte die Begeisterung, das Feuer und den Eifer seiner jungen Jahre in sich wiederkehren, die rückwirkende Kraft der Gemeinde erwies sich an ihm mächtig, und er kannte die Herzen derer, zu denen er zu sprechen hatte, genau genug, um die Worte zu finden, mit denen er sie bewegen konnte. Er wußte, was dem Hause derer von Arten fehlte, er war diesem Hause durch ein langes Leben so eng verbunden gewesen, der Freiherr und Angelika waren seinem Herzen jeder auf seine Weise so nahe verwandt, daß es keiner Kunst bedurfte, daß er nur der eigenen Eingebung zu folgen brauchte, um sie mit sich zu erheben.[216]

Mit stolzem Selbstgefühle verließ der Freiherr nach beendigtem Gottesdienste seinen Sitz. Er ließ Herbert herbeirufen, um ihn dem Fürstbischof vorzustellen. Angelika sah ihn in diesem Augenblicke zum ersten Male wieder. Als auch sie ihm dankte und ihm ihre Hand hinreichte, wagte er es, sie an seine Lippen zu ziehen, und sie sah Thränen in seinem Auge, die sie sich zu deuten wußte.

Ja, sprach sie, ich bin recht krank, aber heute mag ich nicht daran denken, heute ist es auf lauter Freude abgesehen, und ich hoffe Sie am Abende noch zu begrüßen.

Die Herrschaften und der Bischof nahmen die Kirche und die Kirchenwohnung in Augenschein; sie belobten Alle den Baumeister; Herbert hatte heute ein großes Wohlgefallen an der Anerkennung, denn Eva und ihr Bruder hörten sein Lob und waren stolz auf ihn; aber der Anblick der Baronin ließ in ihren guten Herzen keine wahre Freude aufgehen.

In demselben Zuge, in welchem man sich nach der Kirche begeben hatte, verließ man sie. Angelika schien keine Ermüdung zu empfinden. Sie machte bei dem Mittagbrode, das man dem Bischofe zu Ehren veranstaltet hatte, mit Freundlichkeit die Wirthin; sie empfing die zahlreichen Gäste aus der Nachbarschaft, welche man für den Abend eingeladen hatte, das Namensfest der Herzogin zu begehen.

Der schöne Tag machte dem mildesten Abende Platz. Man brachte die letzten Stunden des Nachmittags auf der Terrasse zu. Als die Sonne sank, fuhren die Wagen vor, um diejenigen, welche, wie Angelika, die Mühen des Weges zu scheuen hatten, nach der Birkenhöhe hinauf zu bringen. Der Justitiarius, der Amtmann und Eva hatten Einladungen zu dem Abendbrode erhalten, das man oben einzunehmen dachte. Herbert und der Gehülfe, wie das ganze Gefolge des Bischofs, befanden sich selbstverständlich unter der Gesellschaft. Bei einem im Freien veranstalteten[217] Feste brauchte man mit den Einladungen nicht so ängstlich zu sein.

Der Park war belebt wie in den glänzendsten Tagen des Hauses, der Freiherr recht eigentlich in seinem Elemente. Der Fürstbischof, die geistlichen Herren seines Gefolges, die Herzogin, die adeligen Familien der Nachbarschaft bildeten eine stattliche Versammlung.

Als man oben auf der Höhe anlangte, fand man den neuerbauten kleinen Tempel in allen seinen hervorragenden Linien mit Blumenguirlanden geschmückt. »Der Freundschaft!« war mit goldenen Buchstaben über der Eingangsthüre zu lesen. Man hatte die Marmortafel, welche diese Inschrift trug, erst während des Tages angebracht. Eine sanfte Musik ertönte aus dem Innern des Baues, die Thüren öffneten sich, das Bild der Herzogin, welches während ihres Aufenthaltes in der Stadt im Auftrage des Freiherrn von einem geschickten Maler ausgeführt worden war, hing reich bekränzt dem Eingange gegenüber. Man hatte davor eine Art von Altar aufgerichtet, auf welchem Blumen und Feldfrüchte, Garten- und Feldarbeits-Geräthschaften wie in einem Tempel der Ceres und der Flora aufgestellt waren. Von dem Sacristan wohl eingeübt, sang das Quartett der Knaben ein Loblied auf die Herzogin, das von dem Freiherrn selber dem Schiller'schen »Mädchen aus der Fremde« nachgedichtet worden war.

Bei der Strophe:


Sie theilte jedem eine Gabe,

Dem Früchte, jenem Blumen aus;

Der Jüngling und der Greis am Stabe,

Ein jeder ging beschenkt nach Haus –


führte der Freiherr die Gefeierte vor den Altar. Unter den dort aufgestellten Geräthschaften befanden sich verschiedene kleine Körbe, in denen auf und unter blühenden Blumen, mit den Namen der anwesenden Personen bezeichnet, die mannigfachsten[218] Geschenke vorbereitet lagen. Er händigte ihr das erste dieser Körbchen aus und bat sie, als Schützerin dieses Tempels, der fortan ihren Namen tragen sollte, den versammelten Freunden ein Andenken an sich zu hinterlassen.

Die Herzogin, solcher Darstellung im höchsten Grade mächtig, unterzog sich mit vollendeter Anmuth ihrer Aufgabe, und eine gewisse Rührung, eine ihr sonst fremde Weichheit verliehen den Geschenken, die sie auszutheilen hatte und die dem Range der Herzogin wie dem Ansehen der Empfänger angemessen waren, einen erhöhten Werth.

Schweigend und in sich selbst versunken wohnte Angelika dem Schauspiele bei. Sie schien es kaum zu bemerken. Ihr Auge sah durch die offenen Bogenfenster in das Thal hinaus. Auch Herbert hatte wenig Sinn für die gegenwärtige Feierlichkeit. Er ahnte, was in dem Herzen der Baronin vorging.

So, im sinkenden Tagesscheine, hatte er einst mit ihr auf dieser Höhe gestanden, hier auf dieser Stätte war sie ihm als das Urbild edler Schönheit erschienen, hier hatte ihre Trauer ihm das Unglück ihres Lebens enthüllt, hier hatte er sich ihr in selbstloser Freundschaft zu eigen geloben wollen – und schon damals hätte ihr Ausruf: »Hier oben dürfen wir keine Kirche bauen!« ihm verrathen können, was später ihm so verwirrend und so schmerzlich klar geworden war.

Ihr, der Reinen, der erhabenen Seele hätte er hier einen Tempel der Erinnerung errichten mögen, und man weihte diese Stätte dem Andenken jener fremden Frau, deren selbstsüchtige Arglist Angelika's Glück untergraben und zerstören geholfen. Er konnte die Augen nicht von der Baronin wenden, auch Eva dachte nur an sie.

Man schämt sich seines Glückes, wenn man auf sie blickt! sagte sie zu Herbert, der sich zwanglos an ihrer Seite hielt.

Der Freiherr wies den einzelnen Gästen mit leichter Handbewegung[219] die Reihenfolge an, in welcher sie sich der Herzogin zu nähern hatten. Die gute Stimmung wuchs von Minute zu Minute. Zwischen den einzelnen Strophen des Gedichtes waren kleinere, die Vertheilung begleitende und sich in raschem Rhythmus und in heiterer Melodie leicht bewegende Verse eingelegt. So ging es fort, bis die geladenen Gäste alle ihre Gaben empfangen hatten und auf ein Zeichen des Freiherrn der Architekt an den Altar beschieden wurde.

Als er sich demselben näherte, erhob sich Angelika von ihrem Platze, winkte Eva zu sich heran, und während sie selbst das überraschte Mädchen an Herbert's Seite geleitete, sangen die Knaben die Schlußverse des Gedichtes:


Doch nahte sich ein liebend Paar,

Dem reichte sie der Gaben beste,

Der Blumen allerschönste dar!


und Eva's und Herbert's Hände in einander legend, sagte Angelika leise, daß nur die beiden es vernehmen konnten: Seid glücklicher, als ich, und denket meiner, wenn ich nicht mehr bin!

Herbert und Eva sanken ihr zu Füßen, die Gesellschaft rief ihren Beifall und ihre Glückwünsche aus. Man merkte es nicht, daß Angelika noch blässer geworden war und leise ihre Thränen trocknete. Herbert und Eva waren ein so schönes Paar.

Die ganze Erfindung und Ueberraschung war vollkommen im Sinne der Gesellschaft, und man hatte auch mehr zu thun, denn draußen waren inzwischen die Lampen angezündet, der Tempel, die Höhe, der Garten, die Terrasse, das Schloß strahlten im Lichtglanze der Illumination, und während von den dem Tempel gegenüber gelegenen Ruinen des alten Schlosses die ersten Garben des Feuerwerks in die Höhe stiegen, brachte der Fürstbischof selber in dem schäumenden Champagner, den die Diener zu credenzen begannen, den ersten Toast auf das Bestehen, Wachsen und Gedeihen des von Arten'schen Geschlechtes aus.[220]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 5, Berlin 1871, S. 211-221.
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