Siebentes Capitel

[78] Alle Bemühungen bewiesen sich fruchtlos; Paul kam nicht wieder. Ein Arbeiter hatte spät am Abende einen Knaben, auf den die Beschreibungen des Vermißten paßten, am Außenhafen gesehen, aber wohin er gegangen oder wo er geblieben war, das hatte er nicht bemerkt. Die Polizei, die man in Bewegung gesetzt hatte, war ungeübt und lässig, und man kannte damals jene wundervollen Erfindungen noch nicht, welche, Zeit und Raum überwindend, dem Menschen fast eine Allgegenwärtigkeit verleihen und sich zu unfehlbaren Dienern und Boten unserer Freude, unseres Schmerzes, unserer Sorge machen. Man mußte abwarten und hoffen oder sich bescheiden, das Schlimmste zu erfahren, und in diesem Falle war die Liebe verzagter als der Eigennutz.

Die Kriegsräthin, welche ohne das ansehnliche Kostgeld ihres Pflegesohnes gar nicht auszukommen wußte, rechnete zuverlässig auf dessen Wiederkehr; Seba betrauerte seinen Verlust. Sie allein hatte die leidenschaftliche Natur des Knaben, die starken, tiefen Empfindungen gekannt, deren er fähig war, und die ihn in einem Augenblick vernichtender Enttäuschung leicht zu einem Aeußersten getrieben haben konnten. Wohin sie sich wendete, fehlte ihr Paul, vermißte sie ihren jungen Gefährten, dessen zuversichtliche Liebe ihr ein Bedürfniß geworden war, und mit dessen Zukunft sie sich zu beschäftigen liebte, wenn ihr der Muth gebrach, der eigenen Zukunft zu gedenken; und wie sie sich auch[78] dagegen wehrte, drängte sich ihr doch oftmals die entmuthigende Vorstellung auf, daß Paul besser daran gewesen sein würde, wenn er sich ihr nicht angeschlossen, und sich im Verkehr mit ihr nicht über seine Jahre hinaus entwickelt hätte.

Es war gut für Seba, daß die Familie von Arten noch immer in der Stadt war, die Baronin noch immer in dem Flies'schen Hause verweilen mußte, denn es gab Seba eine Beschäftigung, welche sie von dem Schmerze um den Knaben abzog.

Der Arzt hatte es, selbst als die dringendste Gefahr vorüber war, entschieden widerrathen, die Kranke in den Gasthof bringen zu lassen, und Madame Flies wollte davon auch gar nicht sprechen hören. Ihr gutes Herz und ihre bürgerliche Eitelkeit fanden eine große Befriedigung darin, eine solche Dame zu bedienen und zu pflegen, mit ihr beständig zu verkehren, ihren Umgangsgenossen von diesem Verkehr zu erzählen, und daneben dachte sie, in dem romantischen Glauben an die wunderbaren Wege der Vorsehung, von welchem nur wenige Frauen frei sind, man könne doch nicht wissen, wozu es gut sei, daß die Schwester des Grafen Gerhard eben in ihrem Hause erkranken müsse und daß sie ihre Seba und die ganzen Verhältnisse der Familie nun so unerwartet kennen lerne. In der Residenz hatten schon Grafen und Prinzen sich mit Jüdinnen verheirathet, und was Einer Jüdin widerfahren war, konnte der andern auch begegnen, besonders wenn dieses ihre Seba war.

Weniger angenehm war es dem Freiherrn, seine Gemahlin noch immer in der Obhut der Familie Flies zu wissen und sich von dieser eben in diesem Augenblicke Verbindlichkeiten auferlegen zu lassen, die er nicht bezahlen, nicht gleich vergelten konnte. Sein Geist war ohnehin verdüstert, sein Gemüth beschwert. Das plötzliche Wiedersehen seines Sohnes, an dem er einst gehangen, das eben so plötzliche Verschwinden desselben hatten einen furchtbaren Eindruck auf ihn gemacht. Trotz des flüchtigen[79] Blickes, den er auf Paul geworfen, hatten die Schönheit des Knaben, die auffallende Aehnlichkeit mit dem von Arten'schen Geschlechte ihn erschüttert, und es war eine wundersame Freude gewesen, mit der er Paul's unleugbare Ueberlegenheit über Renatus anerkannt. Auch jetzt konnte er des Zwiespaltes in seinem Innern nicht Meister werden. Er ließ die eifrigsten Nachforschungen nach Paul anstellen, so widerwärtig das dadurch gemachte Aufsehen und die unvermeidliche Besprechung aller seiner persönlichen Verhältnisse ihm auch waren. Er litt unter dem Gedanken an den immer wahrscheinlicher werdenden Untergang des Knaben, und er trug doch kein Verlangen danach, ihn wieder vor sich zu sehen; aber auch Renatus mochte er nicht um sich haben, und vor Allem vermied er es, Seba zu begegnen, deren herbe Wahrhaftigkeit ihn schwer beleidigt hatte.

Selbst die Gesellschaft der Herzogin war ihm nicht willkommen. Ihre leichte Unterhaltungsgabe vermochte nicht, ihn zu zerstreuen, ihr Bestreben, ihn von sich abzuziehen, that ihm jetzt nicht wohl. Er fühlte sich allein und von jedem Anspruche an ihn belästigt. Erst nachdem er sich eines Tages eingestanden, daß auf ihm ein schweres, ein besonderes Schicksal laste, daß eine dämonische Gewalt, mächtiger als sein Wille, nicht aufgehört habe, ihn, seit er sich von Pauline getrennt und mit der Baronin verbunden habe, zu verfolgen, begann er seine Fassung wieder zu finden. Er kam sich eben durch diese Besonderheit seines Looses ausgezeichnet und wie durch seine Geburt und die Bedeutung seiner Person von den ihn umgebenden Menschen geschieden und über sie erhaben vor. War es doch etwas so Gewöhnliches, glücklich zu sein! Ein Jude wie Flies konnte das Glück für sich haben auf allen seinen Wegen, denn das Glück wohnt und waltet auf jener breiten Heerstraße des Lebens, auf der sich die Mittelmäßigkeit und die Niedrigkeit berechnend und schwachherzig bewegen. Ein Mann, der wie der Freiherr[80] seinem inneren Bedürfen, seinem Glauben an ein Ideales, der einzig den großmüthigen Regungen seines Herzens folgte, der seinen Ehrbegriffen und den unabweislichen Pflichten seines Standes nachzuleben hatte, der wandelte auf einem anderen Pfade, der hatte wenig Aussicht, auf seinem einsam erhabenen Wege dem Glücke zu begegnen. Was war es denn gewesen, als Großmuth, daß er einst sein Leben an das Leben eines armen Kindes gesetzt? Was war es gewesen, als sein Glaube an ein Ideales, der ihn bewogen, dieses Mädchen zu bilden? Seinen Standespflichten zu genügen, seinem alten Stamme zur Ehre hatte er das geliebte Geschöpf von sich entfernt und sich mit Angelika verbunden. Aus Achtung vor seiner Ehe und um Angelika seinen guten Willen zu beweisen, hatte er darauf verzichtet, Paulinen's Sohn unter seinen Augen aufwachsen zu lassen – und beide, Pauline und ihren Sohn, hatte der Tod ereilt, beide hatte er Angelika geopfert, der Frau geopfert, die ihn für einen Mann vergessen können, dem er großmüthig und vertrauend, wie er Angelika vertraut, sein Haus geöffnet. Großmuth und das Gefühl der Standesehre hatten ihn bewogen, die Herzogin und den Marquis gastlich bei sich aufzunehmen. Sein eigenes Ehrgefühl hatte ihn veranlaßt, sich auf das Ehrgefühl des Marquis zu verlassen, und wie hatte dieser ihm die Rücksicht für die Herzogin, wie hatte er ihm das Zutrauen gedankt, das er ihm bewiesen! – Großmuth war es gewesen, die ihn zu dem Bau der Kirche getrieben, als er Angelika nach einer äußeren Befriedigung ihres religiösen Sinnes trachten sehen, deren er für sein Theil nicht bedurfte; und all diese hohen Empfindungen, all sein edles Wollen hatten ihm keine beglückende Frucht getragen, hatten ihm die Liebe der Menschen nicht zugewendet, ja, waren von ihnen kaum erkannt geschweige denn gewürdigt worden. Sogar sein ältester Lebensgenosse, der Caplan, ward ihm nicht mehr gerecht, hielt nicht mehr zu ihm, wie er es erwarten durfte, und auch[81] die Herzogin hatte es nicht ganz begriffen, daß ein Mann wie er mit seinem Glauben, mit seinem Vertrauen und mit seiner Neigung nicht unterhandeln, daß er keine Gemeinschaft mehr mit seiner Gattin haben könne, wenn deren Hingabe für ihn nicht mehr eine volle und unbedingte war. Auch die Herzogin verstand ihn nicht vollkommen, nicht wie er's bedurfte. Er stand allein, ganz allein in seiner Umgebung, unter seinen Standesgenossen, weil ihnen allen der rechte Sinn des Adels verloren gegangen war. Aber das Bewußtsein dieser Einsamkeit warf ihn nicht nieder, sondern hob ihn in seinen Augen über die Andern hoch empor; denn »fortis in adversis«, »Muth in Widerwärtigkeiten« war der Wahlspruch seines Hauses! Mochte die Gunst des Lebens sich von ihm wenden und das Glück sich ihm entziehen, – den stolzen Herzschlag seines edeln Blutes, den frei über die Reihen der niedrig geborenen Menschen sich aufschwingenden Sinn seines alten adeligen Geschlechtes, den konnte ihm nichts rauben; und diese Vorzüge immer und gegen Jedermann mit Entschiedenheit geltend zu machen, das däuchte ihm in diesen Zeiten und in seiner besonderen Lage seine ideale Aufgabe, die wahre Aufgabe des Edelmannes zu sein.

Madame Flies jedoch, die in ihrer schlichten Güte wenig Ahnung von solchen idealen Lebensaufgaben hatte, weil sie sich immer an das Nächste und an das Natürliche hielt, sah es mit Erstaunen, wie ruhig und sicher der Freiherr einherschritt, wie das Verschwinden des Knaben, wie die Krankheit seiner Gemahlin, wie selbst die Verwicklung seiner Vermögensverhältnisse und alle jene Sorgen, von denen eine einzige zu tragen ihr schwer gefallen sein würde, ihn gar nicht anzufechten schienen. Sie wußte nicht, sollte sie ihn bewundern und loben, oder ihn verabscheuen und tadeln, aber sie konnte sich, wenn sie den Freiherrn am Krankenbette der Baronin sah, es wohl erklären, warum dieselbe seufzte, sobald er sie verließ, warum sie ihr und vor[82] Allem ihrer Seba so freundlich die weiße, schmale Hand entgegen reichte, so oft sie sich ihr nahten.

Die Kranke hatte nach dem Caplan verlangt und der Freiherr sogleich eine Staffette zu ihm gesendet; indeß es mußten Tage um Tage vergehen, ehe man auf sein Eintreffen rechnen durfte, und der Arzt sah, da er jede Aufregung für die Baronin scheute, die nothwendig verzögerte Ankunft des Geistlichen nicht ungern. Angelika hingegen fragte an jedem Morgen, ob der Caplan noch nicht angekommen sei, schien aber sonst kaum ein Bedürfniß nach Mittheilung zu haben. Sie lag meist still und in sich gekehrt mit gefalteten Händen da und verlangte wenig, wenn sie im Laufe des Tages ihren Sohn einmal gesehen hatte, dem sie mit ernster Zärtlichkeit begegnete. Seba, die ihr unverkennbar die liebste Pflegerin war, verließ sie selten. Einstmals, als sie wieder an ihrem Bette weilte und das Sonnenlicht sie wieder so hell wie an dem ersten Krankheitstage Angelika's umfloß, blieb diese lange in ihrem Anschauen versunken, dann reichte sie ihr die Hand und sagte: So wie in diesem Augenblicke hatte ich Sie in Ihrem weißen Kleide vor mir, als ich, aus dem ersten träumerischen Schlummer erwachend, den ich unter Ihrer Hut genossen, Sie für meinen Schutzgeist hielt! Sie blickten so liebevoll, so traurig auf mich nieder! Sie sind gewiß sehr gut! Und daß man Ihnen ansieht, wie sanft, wie glücklich Ihr Lebensweg gewesen und wie Sie reinen Herzens sind, das macht mir Ihre liebe Nähe so erquicklich!

Es fuhr wie ein Messerschnitt durch Seba's Brust. Alles Blut entwich aus ihren Wangen, ihre Lippen zuckten, und mit dem Ausrufe: Und das sagen Sie, eben Sie! sank sie vor dem Lager der Baronin auf die Kniee, das Gesicht in ihren Händen bergend. Aber in dem nämlichen Augenblicke kam ihr auch der Gedanke, daß sie Angelika erschreckt habe, daß sie sie nicht beunruhigen dürfe, und gewaltsam die Herrschaft über sich gewinnend,[83] richtete sie sich empor. Ihre Wangen waren noch bleich, indeß ihr Mund konnte wieder lächeln, und Angelika's Hände sanft in die ihren schließend, sprach sie freundlich: Wie mich das freut, daß meine Dienste Ihnen angenehm und meine Nähe Ihnen lieb ist! Nur danken, nur loben müssen Sie mich nicht, ich verdiene das nicht!

Wer eine Wunde in seinem Innern zu verbergen hat, wird feinfühlig für fremden Schmerz. Angelika hörte, daß in Seba's Worten mehr als jene höfliche Ablehnung eines Dankes verborgen war, mit der die gesellschaftliche Sitte sich ihr Dankescapital auf Zinsen legen läßt; darum wagte sie keine Frage zu thun, aber die Frage, was ihrer sanften Pflegerin begegnet sein, was sie erfahren und erlitten haben könne, beschäftigte sie fort und fort. Sie wünschte von ihr zu hören, sie wünschte zu wissen, ob ihre Theilnahme für Seba Werth besitzen könne, und sie hatte, als ihre Kräfte sich wieder hoben, keine große Mühe, Madame Flies von ihrem einzigen Kinde, von ihrer Seba sprechen zu machen.

Mit größter Genugthuung erzählte dieselbe der Baronin wie jedem Anderen von der fröhlichen Kindheit, von der ersten, blühenden Jugend ihrer Tochter, von den zahlreichen Bewerbern, welche sie zurückgewiesen, und wie sie jetzt mit ihren bleicheren Wangen und ihrem ernsten, stillen Blicke, so schön sie sei, doch lange nicht mehr so herrlich aussehe, als vordem.

Aber was hat Ihre Tochter denn so verändert? War sie krank oder was ist ihr geschehen? fragte die Baronin, die, abgesehen von ihrer Theilnahme für Seba, immer mehr von der Fremdheit der Lebensverhältnisse, welche sie umgaben, angezogen wurde.

Madame Flies schöpfte Athem. Also endlich war er doch gekommen, der Augenblick, auf den sie so lange gehofft, auf den sie sich vorbereitet hatte, seit die Baronin in ihrem Hause darniederlag,[84] endlich war er gekommen, endlich war er da! Sie rückte näher an das Bett heran, sah vorsichtig hinter den grünen Schirm, der das Lager der Baronin umgab, schob sich die Kantenhaube zurecht und sagte mit klopfendem Herzen, während sie vertraulich ihre Hand auf den Arm der Kranken legte: Aufrichtig, gnädige Frau Baronin, wissen Sie denn gar nichts von uns? Hat er Ihnen denn gar nicht von ihr gesprochen?

Angelika verstand sie nicht. Was soll ich denn von Ihnen wissen, meine Beste?

Nicht von mir, Gott bewahre, nicht von mir; denn was wir gethan haben, war unsere Schuldigkeit, und wir haben es sehr gern gethan! Nur von meiner Seba meinte ich! bedeutete die Mutter.

Von Seba – wer sollte mir wohl von ihr gesprochen haben? fragte Angelika.

Ich dachte der Herr Graf! – Aber freilich, der Herr Graf sind gerade .... Sie wollte sagen: wie der Herr Baron; indeß sie unterdrückte das Wort, und Angelika fiel ihr mit der Frage: Von welchem Grafen sprechen Sie? auch lebhaft in die Rede.

Madame Flies schwankte einen kurzen Augenblick. Sie wußte, daß sie auf dem Punkte stand, ein Unrecht gegen die Ruhe der ihr anvertrauten Kranken zu begehen, und daß Seba ihr sicherlich nicht danken würde, was sie unternahm; aber die Selbstsucht und die anmaßende Gewaltthätigkeit, von denen die Liebe so vieler Mütter nicht frei ist, trugen es über jede Rücksicht davon, und auf die wiederholte Frage Angelika's, welchen Grafen sie denn meine, antwortete sie schnell, als wolle sie es sich unmöglich machen, sich eines Besseren zu besinnen: Wen denn anders, als den Herrn Grafen Berka, den Grafen Gerhard, der im Quartiere bei uns lag!

Die Baronin schwieg. Es war lange her, daß Jemand[85] ihr von ihrem Bruder gesprochen hatte. In der Welt, in welcher sie lebte, wußte Jedermann, daß sie mit ihrer Familie zerfallen war, und man hütete sich, sie daran zu erinnern; aber sie hatte in den bangen Stunden, in welchen sie zu sterben geglaubt, sich lebhaft nach ihrem Vater und nach ihrer Mutter gesehnt, und hier in diesem Hause, in dem sie, fremd unter Fremden, einer Liebe theilhaftig wurde, welche sie an ihr Vaterhaus gemahnte, hier plötzlich von ihrem Bruder reden zu hören, kam ihr wie ein Gruß aus fernen Tagen, wie ein Gruß der Ihrigen vor.

Sie kennen meinen Bruder? fragte sie endlich.

Ob ich ihn kenne! rief Madame Flies, und erging sich in einer Schilderung des Grafen, in einer weitläufigen Erzählung der kleinen Erlebnisse, die man hier im Hause zur Zeit seines Aufenthaltes mit ihm gehabt, um dabei der Bewunderung gedenken zu können, welche er ihrer Tochter gezollt, und es mit lebhaftem Kopfschütteln völlig unbegreiflich zu finden, daß er ihres Hauses und ihrer Seba niemals gegen die Schwester Erwähnung gethan habe.

Angelika schwankte unentschlossen. Jene Schamhaftigkeit der Seele, welche die zuverlässigste Bewahrerin und Schutzwehr wirklicher Würde ist, machte sie davor zurückschrecken, einer Frau, welcher eben diese Eigenschaft fehlte, ein Vertrauen zu beweisen, das bei ihr sicherlich nicht wohl aufgehoben war; aber sie mochte auch den Bruder nicht gegen die Menschen undankbar erscheinen lassen, denen sie sich selbst zu so großem Danke verpflichtet fühlte, und die Rücksicht auf Andere trug es bei ihr über ihr eigenes Empfinden fort. Ich habe meinen Bruder seit Jahren nicht gesehen! sagte sie nach langem Zögern leise und begütigend.

Indeß sie hatte selbst diese Aeußerung zu bereuen; denn nun der Damm der strengen Zurückhaltung einmal durchbrochen war, überstürzte Madame Flies die Kranke mit den Fragen[86] ihres beschränkten Erstaunens, ihrer scharfsichtigen Neugier, und wie man sich von der harmlosen und doch quälenden Zudringlichkeit eines Kindes, nur um der Beunruhigung zu entgehen, oftmals mehr entlocken läßt, als man ihm irgend zuzugestehen dachte, so fand Angelika, als Madame Flies sich zurückzog, daß sie, solcher anmaßenden Herzlichkeit in ihrer Umgebung nicht gewohnt, der Fragenden mehr, weit mehr anvertraut, als sie irgend beabsichtigt hatte. Aber auch sie meinte erfahren zu haben, was ihr bisher nicht deutlich gewesen war. Sie meinte jetzt zu wissen, weßhalb Seba sich nicht verheirathet hatte, weßhalb ihre dunkeln Augen oft so traurig und forschend auf ihr ruhten, ja, weßhalb ihre Zärtlichkeit sie so warm umfing; und Seba wurde ihr nur werther, seit die Baronin sich sagen konnte: auch sie liebte hoffnungslos, auch ihr traten die Schranken entgegen, welche die Stände von einander halten, auch sie hat es gekannt, das hoffende Verlangen und das traurige Entsagen, und sie ist besser als Du, denn keine Pflicht verbot ihr, frei über ihre Liebe zu verfügen, und kein Eid stand zwischen ihr und ihres Herzens freier Wahl!

In dem einsamen Sinnen des Tages, in dem schlaflosen Brüten der Nächte hatte Angelika eine Einkehr in sich selbst gehalten, sich Bekenntnisse gemacht, wie man sie nie vor einem Andern, wie man sie nur dem eigenen Gewissen abzulegen vermag; denn es gibt ein Innerstes in dem Seelenleben fast eines jeden Menschen, das er nicht Preis geben kann, ohne das geheime Band zu zerreißen, welches die Elemente seines Wesens zusammenhält, ohne sich des freien Willens zu entäußern, der ihn zu einem selbstständigen Menschen, eben zu dem Menschen macht, als welcher er sich von der Masse seiner Mitmenschen unterscheidet. Jedes Bekenntniß, welches der Mensch vor einem andern Menschen ablegt, ist daher immer ein bedingtes. Die Persönlichkeit, die Meinung, der Glaube dessen, vor dem wir[87] sprechen, wirken auf uns zurück, und hüllenlos, schrankenlos wahr vermag der Mensch nur gegen sich selbst zu sein, wenn Geständniß und Urtheil, aus gleicher Quelle entspringend, in Eins zusammenfallen.

So lange sie sich in der Nähe und unter der geistigen Obhut des Caplans befunden, hatten sein religiöser Sinn und sein fester Glaube sie vor jedem Schwanken bewahrt. Sie hatte selbst die Sehnsucht nach dem ihr versagten Glücke eine Sünde in ihrer Brust gescholten. Das Beispiel des Caplans hatte sie zur Entsagung ermahnt, und wie der Freiherr es auf seine Weise that, hatte auch sie danach gestrebt, sich mit dem Gedanken an ihre bevorzugte Lebensstellung, mit der Erinnerung an ihren Rang und an ihre Geburt zu trösten und von dem Schicksale damit abgefunden zu glauben.

Aber die Gedanken und Anschauungen des Menschen gehören ihm nur an, wie die Frucht dem Samenkorn angehört. Sie werden in ihrer mehr oder weniger schnellen Entwickelung, wie in der Art ihrer Entfaltung durch die äußeren Umstände bedingt, und seit Angelika nicht mehr im Schlosse weilte, seit sie nicht mehr ausschließlich von ihren Standesgenossen umringt, nicht mehr von der Unterwürfigkeit ihrer Dienerschaft umgeben ward, fing die Welt an, ihr verwandelt zu dünken, weil der Blick sich änderte, mit dem sie in ihr Inneres und in das Leben schaute.

Von dem Tage ab, an welchem sie des Freiherrn Gattin geworden war, hatte die Ruhe sie geflohen. Schwere Enttäuschungen, Sorge um seinen Gemüthszustand, Gewissenszweifel, religiöse Kämpfe und Familienzerwürfnisse hatten ihre Seele nicht zum Frieden gelangen lassen, ehe die Herzogin ein Gast des freiherrlichen Hauses geworden war, und seit dem Erscheinen dieser Frau war Angelika nicht nur sich selber, sondern war ihr auch der Mann verloren gegangen, dessen Namen sie trug[88] und dem sie sich für gute und für böse Tage unauflöslich verbunden hatte.

Jetzt, da sie nicht mehr täglich auf die Unternehmungen und auf die Handlungsweise der Herzogin zu achten hatte, da die Anforderungen augenblicklicher Nothwehr sie nicht mehr in Beschlag nahmen und sie mit nachdenkender Prüfung auf die vergangenen Jahre zurückblicken konnte, wurden ihre Erlebnisse ihr klar und räthselhaft, deutlich und fast unbegreiflich zu gleicher Zeit. Sie konnte sich die Liebe nicht wegläugnen, welche sie für Herbert hegte, aber sie vermochte sich es jetzt völlig darzulegen, mit welcher berechneten Arglist die Herzogin sie dahin gebracht hatte, sich eine Neigung für den jungen Architekten zuzutrauen, und wie schlau und geflissentlich sie dieselbe in ihr zu nähren, ja, selbst durch ihr Abmahnen anzufeuern verstanden habe. Sie erinnerte sich, mit welchem Erschrecken es sie erfüllt, als die Herzogin ihr zuerst die Möglichkeit einer Liebe für Herbert vor das Auge geführt; sie durfte sich sagen, daß sie redlich dagegen angekämpft habe, und wenn sie daneben auf die Verwicklungen, auf das Unglück blickte, das über sie gekommen war, das ihrem ganzen Hause drohte, so vermochte sie sich nicht, wie der Freiherr, fest auf sich selbst zurückzuziehen, sondern sie fragte sich: Warum ward mir dieses Schicksal? Warum legte Gott mir Prüfungen auf, die zu bestehen er mich zu schwach gemacht hat? Grade jetzt, wo sie des festen, gottvertrauenden Glaubens nöthiger als jemals hatte, versagte er sich ihr, und ihr Verlangen nach der beruhigenden Nähe des Caplans steigerte sich an ihrem Trostbedürfnisse, obschon sie eben in ihrem gegenwärtigen Leiden die Führung und Fügung einer höheren, sie erziehenden und aufklärenden Macht zu erkennen geneigt war.

Krank und im höchsten Grade hülfsbedürftig, hatte sie sich in einem bürgerlichen Hause auf die Pflege einer ihr fremden Familie angewiesen gefunden. Keine Verwandtschaft, keine gemeinsame[89] Erinnerung, keine Gleichheit der Gesinnungen, nicht einmal der religiöse Glaube verband sie diesen Menschen. Man hatte die Baronin von Jugend auf gelehrt, die Bürgerlichen gering zu schätzen, die Juden zu verachten; ihre Wirthe, ihre Pflegerinnen, die das wußten, ließen sie es nicht entgelten, sondern umgaben sie mit einer Liebe, die ihr das Herz erwärmte und es ihr darthat, was der Mensch dem Menschen über alle Verschiedenheit des Glaubens, der Meinung und der Bildung hinaus zu sein vermag. Sie hörte es gar nicht mehr, was ihr Anfangs in der Sprache des jüdischen Kaufmanns auffällig gewesen war; sie merkte die Verstöße gegen die gute Form nicht mehr, welche Madame Flies sich in ihrem Eifer häufig zu Schulden kommen ließ. Sie sah nur das uneigennützige Wohlwollen, mit welchem man sie bediente, nur den Eifer, mit dem man ihre Wünsche zu errathen strebte; sie fühlte nur die Güte, von der sie in jedem Augenblicke umgeben ward, und oftmals meinte sie sich ihrer allmählichen Genesung nur darum zu erfreuen, weil ihre Pflegerinnen sich über dieselbe so glücklich bezeigten. Sie vergaß es fast, daß sie vornehm sei, so heimisch ward es ihr unter der Obhut ihrer Wirthe. Nur der Dank der Kranken, der jungen Frau gegen die ältere, mütterliche Pflegerin war in ihr lebendig, wenn Madame Flies sich neben ihr bemühte, und die Baronin hatte es bald genug erlernt, wie die Stunde der Noth die Schranken niederwirft, welche die Stände von einander halten; sie lernte es in ihrer Hinfälligkeit, wie erhebend es sei, bei seinen Mitmenschen freiwilliger Hingebung und reiner, erbarmender Menschenliebe zu begegnen.

Noch an dem Tage ihres Erkrankens hatte die Aussicht, daß die Familie Flies künftig das Haus von Fräulein Esther, das von Arten'sche Haus in der Residenz bewohnen werde, die Baronin in allen ihren Ansichten gekränkt; jetzt konnte sie mit[90] völliger Ruhe daran denken. Denn obschon ihr Befinden sich besserte, sagte ihr eine bestimmte und unabweisliche Ahnung, daß ihr Lebensziel ihr nicht allzu fern gesteckt sei, und vor dem Glauben an die eigene Vergänglichkeit verlor die Vorstellung von der Vergänglichkeit und Wandelbarkeit alles Bestehenden immer mehr ihre Schrecken für sie, bis sie ihr als eine Nothwendigkeit, ja, fast als eine Wohlthat zu dünken begannen. Wie den Freiherrn der Gedanke an die Wandelbarkeit und Vergänglichkeit aller Dinge zur stolzen Aufrechterhaltung seines Ichs und seiner persönlichen Bedeutung anreizte, so machte die gleiche Erkenntniß seine Gattin mild und weich, denn das Gleiche wirkt verschieden, je nach dem Boden, auf den es fällt, je nach den Elementen, mit denen es sich vermischt.

Muß ich doch meinen eigenen Leib, meines Geistes Haus, in Staub zerfallen lassen, sagte sich Angelika, wie dürfte mich's betrüben, daß ein Haus von Stein und Mörtel nicht auf ewige Zeiten hinaus denjenigen zu eigen bleibt, deren Väter es errichteten! Renatus hat seinen eigenen Leib und seinen eigenen Geist von Gott empfangen, mag er sich auch, gleich seinen Ahnen, sein eigenes Haus erbauen, und wie Gerhard und ich hier in diesem fremden Hause weilten und von seinen Bewohnern Gutes erfuhren, Liebe gewannen, so mag die schöne Seba in Gottes Namen in dem Hause leben, das wir unser eigen nannten und das ich einst bewohnte; nur – fügte sie seufzend hinzu – möge sie dort glücklicher werden, als ich![91]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 5, Berlin 1871, S. 78-92.
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