Zehntes Capitel

[380] Der Feldzug, zu welchem die Regimenter so fröhlich aus der Hauptstadt ausmarschirt waren, hatte nicht lange gewährt und war ein fruchtloses, ja, ein unheilvolles Unternehmen gewesen sowohl für diejenigen, denen er helfen und dienen, als auch für jene Anderen, welche die Hülfe hatten bringen sollen. Die Revolution war in Frankreich immer energischer und siegreich vorwärts geschritten, und kleinlaut waren die Truppen der Coalition in ihre Standquartiere und Garnisonen zurückgekehrt.

Graf Gerhard, dem es an persönlichem Muthe nicht gebrach und dem seine kräftige Gesundheit zu Statten gekommen, wo viele seiner Cameraden Krankheit und Tod gefunden, war als Rittmeister aus dem Feldzuge nach der Champagne heimgekehrt. Sein Regiment hatte seiner Zeit auch wieder mehrere Tage in der Hauptstadt der Provinz verweilt, aber der Graf hatte gleich nach dem Einrücken Urlaub genommen und sich zu seinen Eltern nach Berka begeben. Er hatte die Familie Flies nicht aufgesucht, auch zu der Kriegsräthin war er nicht gegangen. Seba erfuhr das gleich, obschon sie ihren Verkehr mit derselben bedeutend eingeschränkt hatte und obschon auch der Vater noch weniger als sonst Behagen an der Freundschaft zu finden schien, welche die Mutter noch immer mit der Frau seines Miethers unterhielt.

Gott soll mich bewahren, daß ich Sie anklage, theuerste Frau Kriegsräthin, sagte Madame Flies eines Nachmittags, als[380] diese auf eine Tasse Kaffee zu ihrer Wirthin gekommen war – Gott soll mich bewahren, daß ich Sie verkenne; Sie haben es sehr gut mit uns gemeint, aber der Mensch denkt und Gott lenkt!

Es ist mir freilich immer derselbe Kummer, meinte Laura, indem sie wohlgefällig den silbernen Kaffeelöffel ihrer Wirthin in der Hand wog, der doppelt so schwer war, als die ihrigen, daß ich die unschuldige Veranlassung zu Seba's Liebe für den Grafen gewesen bin, aber es geht ja wieder besser mit ihr. Sie ist wirklich schöner als je, und sie schlägt es sich ja endlich auch wieder aus dem Sinne.

Die Mutter zuckte die Schultern. Glauben Sie das nicht, liebe Frau Kriegsräthin, Seba hat des Vaters Kopf! Die vergißt nicht, was sie einmal gewollt hat; und wenn sie auch wieder munter ist vor den Leuten und wenn sie auch schön ist wie sonst, – Sie sollten sie nur sehen, wenn sie sich unbeachtet glaubt! Seba hat ihre Taubenaugen, ihre sanften Kinderaugen nicht mehr!

Wie traurig ist das! rief die Andere mit jenem kühlen Bedauern der Gleichgültigkeit, das der Leidende als eine schwere Beleidigung empfinden würde, wäre er nicht in der Regel zu sehr in sich versunken, um darauf zu achten. Die Kriegsräthin aber glaubte der Theilnahme, die man von ihr fordern konnte, mit jenem Ausruf vollauf genügt zu haben, und da man der fremden Klage am leichtesten ledig wird, wenn man selbst zu klagen beginnt, wiederholte sie mit einem Seufzer ihr: Wie traurig! und fügte dann eilig und lebhaft hinzu: Aber es trägt ja Jedermann von uns sein Theil, liebste Flies, und was Sie leiden, leiden Sie mit Ihrem eigenen Kinde, das ja jung und schön ist, und da Sie reich sind und ihm Alles gewähren können, auch früher oder später glücklich werden wird. Nehmen Sie dagegen mich und unsern Paul! Was habe ich nicht Alles[381] für den Knaben schon gethan, und Alles das umsonst! Nur an Seba hängt er und an meinem Manne, als wäre ich gar nicht da – und im Grunde ist das noch das Wenigste!

Sie machte eine Pause, wollte verschweigen, was sie drückte, konnte dann aber doch nach Frauenart der Lust nicht widerstehen, einmal ihr Herz recht gründlich auszuschütten. Es trifft Alles so schlimm zusammen, – sagte sie fast gegen ihren Willen, – so schlimm, als sollte mir grade jetzt von allen Seiten Verdruß und Sorge bereitet werden. Nicht genug, daß der Knabe immer verschlossener wird, daß ich mir Seba's Kummer zu Herzen nehme, habe ich mich eben in diesen Tagen auch mit unserem alten, guten Freunde und Gönner, dem Präsidenten, erzürnen müssen.

Mit dem Herrn Präsidenten? fragte näher rückend Madame Flies, die seit der ganzen Reihe von Jahren gewohnt war, den alten Herrn täglich zu seiner Freundin gehen zu sehen. Wie ist das denn zugegangen?

Weiß ich's? rief die Kriegsräthin und knüpfte, weil ihr warm wurde, das Band auf, mit welchem ihre Flatteuse unter dem Kinn zugebunden und das mit einem Liebesknoten an dem Brustlatze befestigt war. Elf runde Jahre ist er bei uns ein und aus gegangen; wir waren so an einander gewöhnt, er, mein Mann und ich; wir wußten, wie wir einander zu nehmen und wie weit wir auf einander zu rechnen hatten; da bringt ein unglücklicher Zufall dem guten Präsidenten ein Billet in die Hände ....

Ein Billet – ja, was denn für ein Billet? forschte die Andere, deren Augen vor Ungeduld und Neugier zu funkeln begannen.

Ach, ein Billet des Hauptmannes – ein Billet, das er mir am Tage nach der Rückkehr schrieb – die Kriegsräthin lächelte und wendete den Kopf nach dem Spiegel, der zwischen den[382] beiden Fenstern hing – ein Billet, wie jede halbwegs angenehme Frau deren unzählige erhält! Ein paar Verse, wie er sie mir, seit er damals hier war, bisweilen schickte, reine Poesie. Ich hatte sie nicht beachtet, sie vergessen, sie lagen in meinem Nähtischchen, da fand sie der Präsident ....

Da fand sie der Herr Präsident? wiederholte Madame Flies.

Ja, rief Laura, die in ihrem Verdrusse die verwunderte Frage der Anderen gar nicht beachtete; und stellen Sie sich vor, aus diesem ganz gleichgültigen Briefe macht er mir ein Verbrechen. Er erlaubte sich, mich zu beschuldigen, verlangte Erklärungen, als wäre ich ein Kind und nicht eine Frau, die weiß, was sie zu thun hat.

Madame Flies wurde stutzig. In Bezug auf die eheliche Treue verstand sie keinen Spaß. Aber wie kamen denn der Herr Präsident darauf und was sagen der Herr Kriegsrath dazu? fragte sie bedenklich.

O, der ahnt davon noch gar nichts, der würde mir es nicht vergeben!

Hören Sie, brach nun Madame Flies plötzlich aus, hören Sie, liebe, gute Frau, das kann ich ihm auch nicht verdenken! Sie wissen, wie viel ich von Ihnen halte, liebe Frau Kriegsräthin, aber Verse, heimliche, jahrelange Verse an eine verheirathete Frau .... Sie brach ab, schüttelte das Haupt, daß die echten Kanten von ihrem Kopfzeuge ihr tief auf die Stirn niederfielen, und reichte, als wolle sie gut machen, was sie nothgedrungen hatte sagen müssen, ihrer Freundin, obschon dieselbe sich eben erst bedient, noch einmal die silberne Zuckerschale mit einem freundlichen: Ist's gefällig? hin.

Die schöne Laura lachte plötzlich ganz hell auf, und sie sah wirklich noch sehr hübsch aus, wenn sie lachend die weißen Zähne und die tiefen Grübchen in den vollen Wangen sichtbar werden ließ. Sie meinen, um die Verse kümmere sich mein[383] Mann? Gott bewahre, das hat ja gar nichts auf sich! Verse an seine Frau, die werden doch einen verständigen Mann nicht in Harnisch bringen, auf die muß jeder Mann gefaßt sein, der sich eine junge und passabel hübsche Frau genommen hat. Aber daß ich unsern Präsidenten nicht zu menagiren, nicht nach seiner Weise zu behandeln wußte, das wird mein Mann mir nicht vergeben – und ich vergebe mir es selber nicht!

Der Herr Präsident sind des Herrn Kriegsrathes Chef! bemerkte Madame Flies, um doch etwas zu sagen, da die Heiterkeit der Anderen ihr noch weniger gefiel.

Ja, freilich, das ist's ja eben, bekräftigte Laura, sich besinnend, mit ganz verändertem Tone, da sie die zweifelhafte Miene ihrer Hauswirthin bemerkte. Das ist es eben, wir sind abhängig von ihm! Sie machte eine Pause, als sinne sie über diese ihre bedenkliche Lage nach, bis sie seufzend ausrief: Und wir haben kein Vermögen! – Sie hielt abermals inne, sah ihre Freundin prüfend an und sagte dann ernst und niedergeschlagen: Sie, die Sie reich sind, die Sie freie Hand in Ihres Mannes Casse haben, Sie können gar nicht wissen, wie schwer in diesen Zeiten das Auskommen für den Beamten ist. Jedes zu Ende gehende Quartal hat seine Nothwendigkeiten, jedes beginnende macht seine Ansprüche; die Rechnungen kommen, die täglichen Ausgaben laufen fort, man muß nach außen anständig auftreten, wie man sich in seinem Hause auch beschränkt, die Miethe ist zu zahlen – Sie glauben nicht, welche Verlegenheiten das bereitet!

Madame Flies versicherte und erinnerte sie, daß es mit der letzteren nicht eile, daß ihr Mann ja immer gern gewartet habe.

Gewiß, gewiß, rief Laura, der Kriegsrath besitzt ja einen wahren Schatz an Ihres Mannes Freundschaft! Aber was hilft mir das? Sie wissen gar nicht, wie ängstlich, wie genau der Kriegsrath ist. Jede Cocarde, jede Falbala, jedes Theaterbillet[384] und jedes Biscuit muß verzeichnet werden und wird bekrittelt, wenn es verzeichnet ist. Da half denn des Präsidenten Galanterie gelegentlich ein wenig aus – versteht sich, nur leihweise – für Tage nur – nur um den lieben Hausfrieden nicht zu stören! Und da muß mir nun nach elf Jahren der Präsident die gute Laune ohne allen Grund verlieren. Ich habe schon gedacht, ob Sie, liebe Madame Flies ....

Sie brach plötzlich ab und sagte nicht, was sie gedacht hatte; denn das Gesicht ihrer Wirthin verrieth ihr, daß sie sich wahrscheinlich eine unnütze Blöße gegeben hatte. Das Kaffeezeug war fortgeräumt, die Hausfrau erhob sich, um den süßen Wein und das Confect zu holen, die den Imbiß vervollständigen sollten, aber wie mild und glatt der alte Malaga die Kehle auch hinabglitt, die Unterhaltung wollte nicht wieder in Fluß gerathen.

Die gute Meinung, welche Madame Flies von ihrer Freundin gehegt, hatte einen schweren Stoß erlitten, und die Kriegsräthin hatte auch besser von ihrer Wirthin gedacht. Nach der sorglosen Weise, in welcher sie Seba früher ihren Weg gehen lassen, hatte sie die Mutter nicht für so spießbürgerlich und namentlich nicht für so sittlich engherzig gehalten. Sie waren beide verstimmt und beide begannen wieder von Seba zu sprechen, über deren Seelenzustand sich freilich beide eine falsche Vorstellung machten.

Seba's erstes Empfinden nach jenem unheilvollen Morgen und nach den Tagen, welche ihr die Ueberzeugung aufgedrängt, daß sie gewissenlos von einem Elenden verrathen und verlassen sei, war der Drang gewesen, sich Vater und Mutter zu Füßen zu werfen und ihnen Alles zu gestehen. Aber es war genug, daß ihr eigenes Herz gefoltert ward, daß sie sich selbst verloren hatte, daß sie elend geworden war, daß sie sich verachtete und nicht mehr vorwärts, nicht mehr rückwärts zu blicken wagte.[385] Ihr war Alles entrissen, was bis dahin ihr Leben ausgemacht: nur Eine Gewißheit und nur Ein Gefühl waren unverändert in ihr geblieben: sie wußte, daß sie das Glück ihrer Eltern war, und sie liebte ihre Eltern. Daran mußte sie sich halten!

Es wäre ihr eine Befreiung gewesen, sich anzuschuldigen, ein Trost, sich zu demüthigen; denn es ist für ein rechtschaffenes Herz leichter, verdienten Tadel, als unverdientes Lob zu ertragen und eine Liebe über sich walten zu fühlen, deren es sich nicht mehr würdig glaubt. Aber was sie selber auch empfand, wie hart ihr Verstand und ihr Ehrgefühl sie verurtheilten, wie tief sie sich erniedrigt fühlte, den Eltern mußte und wollte sie zu bleiben suchen, was sie ihnen gewesen war: ihr Stolz und ihre Freude. Sie mußte schweigen, sie mußte die Wiederkehr einer Ruhe heucheln, nach der sie vergebens rang, mit der sie die Eltern doch nicht völlig täuschte, und Heucheln fiel ihr schwer. Sie sah es, daß die feinen Furchen um ihres Vaters Mund und auf seiner Stirn tiefer geworden waren, seit seine Tochter ihm nicht mehr fröhlich wie in vergangenen Tagen entgegen kam. Es entging ihr nicht, wie sorglich die Blicke der Mutter auf ihr ruhten, wie ängstlich die Eltern danach spähten, einen Strahl der alten Lebenslust in der Seele ihres Kindes zu entdecken; sie hätte sie selber suchen, finden mögen, neuen Muth und neues Wollen und Streben; aber woher sollten sie ihr kommen in dem Gefühle ihrer Erniedrigung und Herzgebrochenheit?

Traurig, den Kopf auf die schmale, weiße Hand gestützt, saß sie eines Abends an dem Fenster ihrer Stube. Draußen war das Wetter schlecht. Es war noch früh im Jahre, ein kalter Wind jagte den Regen schräg durch die Luft und warf ihn klatschend zur Erde. In den großen Lachen spiegelten sich die Lichter der Laternen, welche die Leute, die unter ihren Schirmen in das Theater gingen, sich vortragen ließen. Es[386] war eine Schauspieler-Gesellschaft angekommen, welche für einige Monate Vorstellungen geben sollte und dieselben gestern mit der Aufführung von Schiller's »Fiesco« begonnen hatte. Kein Gebildeter hatte bei diesem Anlaß fehlen dürfen, auch Seba hatte der Darstellung beigewohnt, und Verrina's: »Was that jener eisgraue Römer, als man seine Tochter auch so – wie nenn' ich's nur – auch so artig fand?« lag noch schwer auf ihrer Seele.

Sie war von Herzen traurig, sie konnte nicht deutlich denken, nur daß sie müde, bis zum Tode leidensmüde sei, das fühlte sie mit dumpfer Schwere. Sie hatte keinen religiösen Glauben, an dem sie sich erheben, keine Kirche, in der sie beten konnte, denn der Cultus, dem sie durch ihre Geburt angehörte, war ihr fremd geblieben; sie hatte keinen verschwiegenen Beichtvater, dem sie sich anvertrauen konnte, sie hatte keinen Erlöser, an den sie sich wenden konnte. Sie war ganz allein, ohne eine Stütze, ohne einen anderen Halt, allein mit der unverbrüchlichen Wahrhaftigkeit des eigenen Gewissens, die ihr sagte, daß sie gefehlt, daß sie sich entehrt habe vor den Menschen und mehr noch vor sich selber, und daß kein fremder Trost und keine fremde Hülfe von ihr nehmen könne, was sie selber auf sich geladen hatte.

Paul, der auch an diesem Abende wie gewöhnlich herunter gekommen war, um seine Freundin zu besuchen, hatte sich allmählich daran gewöhnt, ihr schweigend Gesellschaft zu leisten. Eine geraume Zeit sah der große, schlanke Knabe geduldig zu, wie auf der Straße die Lichter flackerten und wie die Leute mit dem Winde kämpften. Endlich mochte er dessen überdrüssig sein, denn sich zu Seba wendend, bat er: Sprich doch mit mir!

Sie überhörte es. Er wartete wieder eine Weile, ob sie sich nicht mit ihm beschäftigen würde, dann sagte er ganz plötzlich: Seba, Du wirst Dich gewiß auch noch einmal ins Wasser stürzen![387]

Sie fuhr entsetzt empor. Wer hat Dir das gesagt? rief sie, indem sie ihn bei den Händen erfaßte.

Ihre Stimme klang ihm fremd, und so gewaltsam hatte sie ihn niemals angefaßt. Er fürchtete sich vor ihr. Laß mich los, rief er erschreckend, laß mich los!

Sie beachtete es nicht. Wer hat Dir das gesagt? wiederholte sie.

Ich sehe es ja! gab er ihr zur Antwort.

Was denn? Was siehst Du denn? drängte ihn Seba, der das Herz fast hörbar klopfte; denn das schweigende Leiden unter lächelnder Miene hatte sie erschöpft, und schwarze, unklare Gedanken waren in ihr aufgetaucht, als unten in der Straße das Wasser in den Lachen so gezittert und geglänzt. Eine schmerzliche Sehnsucht hatte sie ergriffen und an ihrem Herzen gezogen. Sie hätte fortgehen mögen, fort von Vater und Mutter, weit fort, um einmal in einsamer Ferne ihre bitteren Thränen laut zu weinen und dann endlich nichts mehr fühlen zu dürfen und all des Elendes ledig zu werden, mit Einem Male für immerdar.

Was siehst Du? wiederholte Seba noch einmal, und ihre milder gewordene Stimme löste des erschreckten Knaben Lippen.

Du sitzest immer grade so still wie meine Mutter, sagte er, und weinst immer wie sie, Du wirst Dich auch noch wie sie ins Wasser stürzen!

Seba schlug die Hände vor dem Gesichte zusammen, sie erschrak vor sich und ihren eigenen Gedanken; des Knaben Worte hatten sie zur Besinnung gebracht. Ein heißes Mitleid für die Todte mischte sich in Seba's Schmerz um das eigene Geschick, und Mitleid ist Befreiung; denn wer Theilnahme für einen Andern zu empfinden vermag, reicht wenigstens in dem Momente über die eigene Noth hinaus. Die Thränen schossen ihr in die Augen, indeß diese Thränen thaten ihr nicht so[388] wehe, als die unzähligen andern, welche sie seit der Unglücksstunde bis auf diesen Tag vergossen. Und mitten in ihrer Hülfslosigkeit zuckte zum ersten Male der Gedanke in ihr auf, daß sie sich erlösen müsse, wenn sie nicht ihr Leben enden wolle; daß sie wählen müsse zwischen Selbstvernichtung und Selbsterhaltung durch ein klar bewußtes Thun, durch Selbsterhebung und durch Selbsterlösung.

Sie konnte Geschehenes nicht ungeschehen machen, sie konnte ihre reine, schuldlose Vergangenheit nicht wieder erwecken, sie konnte Paulinen nicht mehr helfen; aber sich selber konnte sie helfen, und Paulinen's Sohn war da! Sie und dieser Knabe, Seba und Paul, sie gehörten zu einander, das war die Vorstellung, die ihr wie ein neues Licht entgegenstrahlte. Er war ein Verstoßener, einer Verstoßenen und Verlassenen Sohn, und war sie doch auch entehrt und verrathen und wie seine Mutter verlassen worden.

Sie hatte es bisher stets vermieden, mit ihm von seiner Mutter und von seinen Erinnerungen zu sprechen. Heute fragte sie ihn, was er von seiner Mutter wisse. – Er hatte ein klares Gedächtniß von dem letzten Gange mit ihr bewahrt; er erinnerte sich ihres Hauses, seiner Heimath, des Wagens, in welchem der Baron zu kommen gewohnt war, und er wußte, daß der Baron von Arten sein Vater sei. Aber mit der Festigkeit, welche frühreife Kinder oftmals auszeichnet, hatte er, nachdem der Zufall ihm einmal einen Theil seines Wissens entlockt, wieder geschwiegen bis auf diese Stunde. Auch des Augenblickes entsann er sich, da er die Kunde von dem Tode seiner Mutter erhalten hatte.

Ich weiß es noch sehr gut, sagte er, wie ich aufwachte und die Stube voller Menschen war. Sie schrieen alle, die Mutter sei ins Wasser gestürzt, und die Magd, welche bei uns[389] diente, hielt meiner Mutter Tuch und meiner Mutter Schuhe in der Hand und weinte.

Seba schauerte zusammen. Was sollte aus ihr werden, wenn sie es nicht vermochte, mit sich selber fertig zu werden, mit ihrer Schuld, mit ihrem Unglücke? Wenn sie sich in grübelnder Verzweiflung auf dem Wege gehen ließ, auf welchem sie sich eben angetroffen? Was sollte aus ihren Eltern werden, wenn die Leute einmal in ihr Zimmer träten, ihnen des einzigen Kindes Tuch und Schuhe vorzuzeigen?

Nein, nein, niemals! rief sie voll Entsetzen aus und umschlang den Knaben, als müsse sie sich an sein blühendes Leben halten, um sicher vor dem Tode zu sein. Ich will nicht untergehen, ich will und werde nicht zu Grunde gehen! Ich will leben bleiben, Paul! Ich bleibe bei Dir und bei meinen Eltern, bei meinen guten, armen Eltern, lieber Paul!

Sie weinte bitterlich und weinte lange. Paul, wie alle Kinder von der Rührung eines Erwachsenen leicht überwältigt, weinte mit ihr. Er hielt sie mit seinen Armen umfaßt, und es war ihr, als löse sich das pressende Band von ihrer Stirn, als schmelze das starre Eis in ihrem Herzen und als durchziehe eine milde Wärme ihre Brust. Ihre Thränen hörten zu fließen auf, auch sie umfaßte den Knaben zärtlich, und ihn an sich drückend, sagte sie: Paul, habe mich doch lieb!

Ja, antwortete er ihr ernsthaft.

Und wir wollen recht gut sein, Paul!

Ja, entgegnete er ihr wieder.

Und meinen Eltern wollen wir rechte Freude machen! Hörst Du, rechte Freude, Paul! Und hier in meiner Stube wollen wir uns immer von Deiner Mutter erzählen, und Du mußt recht brav werden, Paul! Ich will Dich auch so lieb haben, wie Deine Mutter, ich will Deine Mutter sein, Paul! rief sie, und es kamen Kraft und Freude in ihre Stimme bei[390] den Worten. Ich will Deine Mutter sein, Paul, und Du sollst mein Sohn sein, das heilige Vermächtniß Deiner armen Mutter! wiederholte sie.

Kommen wir dann auch in das Schloß und in den Park? fiel ihr der Knabe in die Rede, der sich nach Kinderweise schnell erheiterte und dadurch auf die angenehmen Vorstellungen verfiel, welche ihn im Stillen oftmals beschäftigt haben mochten.

Nein, entgegnete sie, indem sie traurig auf ihn niederblickte, nie! Wir kommen beide nicht hinein, nicht Du, nicht ich! Aber leben wollen wir bleiben, leben will ich bleiben für die Eltern und für Dich! – Leben! rief sie noch einmal, tief Athem schöpfend, indem sie sich emporrichtete; leben und lieben, helfen und retten, und auch mich selbst erretten will ich![391]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 4, Berlin 1871, S. 380-392.
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