Vierzehntes Capitel

[365] Als Renatus seine Wohnung betrat, fand er seinen Burschen bereits damit beschäftigt, die für den Feldzug bestimmten Effecten auszusondern und zu packen. Renatus freute sich dessen, denn er sehnte sich, fortzukommen. Wie man die erhitzten, müden Glieder in eine frische, kühle Flut zu tauchen begehrt, so wünschte er die Erfahrungen der letzten vierundzwanzig Stunden in frischen, ermuthigenden Erlebnissen zu vergessen, und mit wahrer Sehnsucht richteten seine Gedanken sich in die Zukunft, in eine Zukunft, die er selber sich rein und schön und frei zu gestalten hoffte.

Nicht in der Todesstunde seiner Mutter, da sie ihn mit frommem Wunsche gesegnet, nicht an dem Tage, an welchem der Freiherr von ihm bei dem Abschiede aus dem Vaterhause das Gelöbniß gefordert hatte, daß er sich seines Namens und Hauses würdig machen wolle, hatte Renatus sich so ernst und in sich gefestet empfunden, als heute; aber es war die Weihe jener Momente, welche in ihm nachwirkte und ihn sich selbst versprechen ließ, was er denjenigen gelobt hatte, die er freilich jetzt nicht mehr als seine Vorbilder zu betrachten vermochte. Er beklagte seine Mutter, er bedauerte die Charakterschwäche seines Vaters, er pries sich glücklich, den Caplan zum Lehrer und Führer gehabt zu haben, er segnete die einsame, sittenstrenge Erziehung, die ihm zu Theil geworden und die er noch wenig Stunden vorher als ein Unglück anzusehen geneigt gewesen war, und es fiel ihm gar nicht ein, wie schnell eben im Laufe des letzten Tages seine[365] Empfindungen und Gedanken sich gewandelt und mit einander gewechselt hatten. Er hielt eben noch immer jede seiner Stimmungen für die Folge einer neu gewonnenen Erkenntniß und jede solche Erkenntniß für die einzig richtige und abschließende; das ist eine Eigenschaft der Jugend, welche beschränkten Geistern aber lebenslang eigen bleibt und es ihnen möglich macht, alle ihre Irrthümer im besten Glauben an die Unumstößlichkeit ihres Rechtes zu begehen.

Der Freiherr hatte, im Geiste der Zeit, welcher er angehörte, sich selbst genügen, und von dem Momente ab, in welchem er die Rechte seines Standes angefochten sah, sich in diesen Rechten, in seinem Ansehen und in seiner äußern Würdigkeit behaupten wollen. Das erkannte und begriff der Sohn, aber seine Erziehung hatte ihm, wie er meinte, ein höheres, ein idealeres Ziel vor Augen gehalten, und nie hatte ihm dies heller entgegen geleuchtet, als eben jetzt. Nicht allein um die äußere Würdigkeit war es ihm zu thun; er wollte in seiner Person, in seiner Handlungsweise es bestätigen, daß der Edelmann in sich den Begriff der Ehre reiner bewahre und darstelle, als die anderen Stände, daß er eine edlere Kaste sei, welche eben deßhalb sich einer strengen Ausschließlichkeit befleißigen müsse. Das hatte, wie Renatus meinte, sein Vater außer Acht gelassen, das hatte auch seine Mutter nicht genug beherzigt, und eben deßhalb hatte auch er jetzt auf dem Punkte gestanden, in unpassenden Verbindungen zu unangemessenen Handlungen verleitet zu werden. Ein Schreckbild war ihm in der Gestalt des Grafen zur rechten Stunde entgegen getreten. Er dankte seinem Schutzgeiste dafür, daß es einzulenken noch Zeit für ihn, noch nicht zu spät war, daß er sich noch vorwurfslos aus Umgebungen befreien konnte, in denen sein Name nicht an seinem Platze gewesen wäre, in denen seine Seele hätte Schaden leiden können und, er wies den Ausdruck Anfangs von sich, aber er drängte sich ihm ihm immer[366] wieder auf, in denen er in Gefahr gewesen war, sich zu erniedrigen.

Wie er sich auf den stolzen Schwingen seiner guten Vorsätze über seine Eltern erhob, so sah er von seiner neu erklommenen Höhe auf alle seine bisherigen Verhältnisse herab, und wie fern er sich auch von der bürgerlichen Gesellschaft fortan zu halten entschlossen war, wollte er doch nicht, daß irgend Jemand sich über ihn zu beklagen oder ihn der Versäumniß einer gesellschaftlichen Form zu zeihen haben sollte. An ihm, an einem Freiherrn von Arten, sollte, so weit er es verhindern konnte, kein gerechter Vorwurf haften.

Er hatte bis zum nächsten Mittage noch vollauf Muße, alles, was ihm oblag, zu ordnen und abzuthun. Er sendete seinen Burschen fort, einige Rechnungen zu bezahlen, verschiedene kleine Besorgungen zu machen; dann suchte er die Bücher zusammen, welche er im Laufe der Zeit von Seba entliehen hatte, packte sie sorgfältig ein und setzte sich nieder, ihr zu schreiben; indeß er konnte die Form dafür nicht finden. Er wünschte sich einfach zu verabschieden, aber es kam ein vornehmer, feierlicher Ton in seine Worte, der ihm selbst fremd und dann auch kränkend für Seba erschien, bis er nach mehreren vergeblichen Versuchen, ein förmliches und doch freundliches Billet zu Stande zu bringen, sich sagte, daß er ein Unrecht begehe, wenn er sich zu einer Vertraulichkeit zwinge, die er nicht mehr fühle, und daß es demjenigen, der sich zu einem Charakter zu erziehen wünsche, weil er die Kraft eines solchen in sich trage, wohl anstehe, auch in Kleinigkeiten den Muth seiner Meinung zu haben. Er las sein Schreiben mehrmals durch, es gefiel ihm allmählich immer besser, und als er das freiherrlich von Arten'sche Siegel mit seinem »Fortis in adversis« darauf drückte, hatte er eine Genugthuung, als ob er eine gute That vollbracht oder eine schwierige Arbeit beendet hätte.[367]

Er ließ die Koffer zuschnallen, die Kisten vernageln, in denen alles, was nicht zu seiner Feldausrüstung gehörte, in Berlin zurückbleiben sollte. Die Gräfin Rhoden hatte sich erboten, ihm diese Sachen aufzuheben. Es that ihm leid, daß er sie, deren Wohnung sehr eng war, damit beschweren mußte, und er dachte an die großen, weiten Räume, an die Fluren, Zimmer, Galerien und Remisen im Flies'schen Hause, um dabei die Betrachtung anzustellen, wie gut sein Vater es in seiner Jugend gehabt habe, als dieses Haus noch in Tante Esther's Händen gewesen war, und um es zu beklagen, daß ein so schicklicher Besitz für seine Familie verloren gegangen sei. Er hatte das nie vergessen können, wenn er bei Seba gewesen war, und schon deßhalb war es ihm lieb, mit den Eigenthümern jenes Hauses künftighin nicht mehr in Verkehr zu bleiben.

Es dunkelte schon, als die bestellten Träger sich mit seinen Sachen auf den Weg machten, und es war ziemlich spät, als der heimkehrende Diener ihm ein Briefchen der Gräfin einhändigte, in welchem diese die Erwartung aussprach, daß sie ihn heute noch sehen werde, da sein letzter Abend in Berlin, falls er nicht mit jüngeren Genossen eine Verabredung getroffen habe, nothwendig seinen ältesten Freunden zugehören müsse.

Er sah aus den wenigen Zeilen, daß Hildegard der Mutter ihren heutigen Streit mit ihm verschwiegen hatte, denn die Gräfin würde desselben sonst in einer oder der anderen Weise erwähnt oder unter den obwaltenden Umständen es vielleicht vermieden haben, den Jüngling, der ihr Haus im Mißmuthe verlassen hatte, zur Wiederkehr aufzufordern. Renatus fand sich dadurch aber in Verlegenheit gesetzt, und da er nun begonnen hatte, sein Thun und Handeln, wie er es nannte, einem strengen Urtheile zu unterwerfen, dünkte ihn sein ganzes Verhalten gegen seine mütterliche Freundin, gegen die Gräfin Rhoden, die ihm[368] zutrauensvoll den freiesten Verkehr mit ihren Töchtern gestattet hatte, noch weniger tadellos, als sein Betragen gegen Hildegard.

Beiden war er eine Erklärung schuldig, aber um sie zu machen, bedurfte er einer genauen Prüfung seines Herzens, und er war nicht ruhig genug, eine solche anzustellen. Die Fragen seines Dieners, die mancherlei Anordnungen, welche er zu treffen hatte, unterbrachen und zerstreuten ihn, wenn er sich zu sammeln strebte, nur daß er vor sehr ernsten Entscheidungen stehe, fühlte er deutlich und immerfort.

Es war kein Tanz, zu dem er morgen auszog! Seit die Geschichte die Thaten der Menschen aufgezeichnet hatte, war kein so gewaltiger Heereszug unternommen worden. Die ungeheuren Vorbereitungen, welche Napoleon getroffen hatte, ließen auf die Schwierigkeiten und auf den furchtbaren Widerstand schließen, den er selbst erwartete. Glänzende Erfolge waren für den Theilnehmer an diesem Kriege eben so möglich als das größte Unheil und Elend. Renatus konnte ruhmgekrönt, er konnte siech und verstümmelt wiederkehren: der Abschied, den er heute von dem Mädchen nahm, das er seit einiger Zeit als seine Geliebte und künftige Gattin im Herzen getragen hatte, konnte ein ewiger sein. Aber eben das machte ihn nur bedenklicher, Versprechungen zu leisten oder zu begehren, und dazwischen wunderte er sich, daß die Aussicht, von Hildegard zu scheiden, ihn nicht mehr erschüttere, daß er weit weniger an sie, als an die bevorstehenden wechselnden Ereignisse und Abenteuer seines Kriegerlebens denke, daß ihn die Hoffnung, Vittoria wahrscheinlich wiederzusehen, weit lebhafter beschäftigte, als die Nothwendigkeit, sich von Hildegard zu trennen.

Er nahm ein Etui heraus, in welchem sich eine Silhouette von ihm befand, die er, in Erwartung des Feldzuges, für die Gräfin Rhoden zum Andenken hatte machen lassen. Später, als er seine Wünsche auf Hildegard gerichtet, hatte er dieser das kleine[369] Bildniß bestimmt, und jetzt war er unsicher, ob er es überhaupt einer der Frauen anbieten dürfe und solle. Von jener Leidenschaft, welche die Dichter besingen, von jener überwältigenden Liebe, deren Feuer die Jugend so durchglüht und umleuchtet, daß ein ganzes Leben davon bis in seine fernsten Tage erwärmt und verschönt wird, fühlte er nichts in sich. Von dem unwiderstehlichen Zuge, von dem naturgewaltigen Müssen, die zwei Menschen zwingen, sich einander zu eigen zu geben, empfand er keine Spur. Er liebte Hildegard also nicht eigentlich, er hatte sich über seine Empfindung für sie getäuscht, hatte die Freundschaft, das Wohlgefallen, mit denen er an ihr hing, für ein wärmeres Gefühl gehalten, und wie peinlich diese Erkenntniß und die aus ihr folgenden Schritte für ihn in diesem Augenblicke auch sein mochten, durfte er es doch immer als ein Glück bezeichnen, daß er seines falschen Wahnes rechtzeitig inne geworden und vor dem Loose bewahrt worden war, sich im Herzensirrthume unwiderruflich an ein Mädchen zu binden, dem er keine wahre Liebe entgegenbrachte und mit dem er also eben so wenig glücklich werden, als er es mit seiner unvollständigen Liebe glücklich machen konnte. Er hatte Erinnerung genug an seine Kindheit, um eine unglückliche Ehe sehr zu fürchten, aber eben so schreckte er vor der Nothwendigkeit zurück, Hildegard seinen Selbstbetrug einzugestehen und von ihr wie von ihrer Mutter seine Vergebung zu fordern.

Alle seine Geschäfte waren abgethan, er stand allein in dem jetzt leer aussehenden Zimmer und blickte zerstreut auf die Straße hinaus. Von Minute zu Minute verschob er es, sich zu entschließen. Es war dunkel, der Wind hatte sich gelegt, Renatus fand keinen festen Anhaltspunkt für seine Vorstellungen.

Wie manchen Marsch in dunkler Nacht, wie manchen dunkeln Weg werde ich zu gehen haben, und wer weiß, auf welcher dunkeln Straße mir mein Todesloos geworfen wird! sagte er[370] mit einem Male zu sich selbst, und es ergriff ihn, daß ihm eben eine solche Idee gekommen war. Sollte das eine Ahnung sein?

Er wurde immer trauriger. Er konnte es sich nicht verhehlen, seiner Kindheit, seinem ganzen Dasein hatte der rechte, heitere Glanz gefehlt, und wie er in dem Lebensherbste seines Vaters geboren worden, war jetzt auch der Stern seines Hauses über die Mittagshöhe hinaus und nicht mehr im Steigen. Von früh auf hatte man ihn auf den Wahlspruch seines Wappens, auf das »Fortis in adversis« verwiesen, das er noch vorhin mit so viel Selbstbefriedigung betrachtet. Er hatte die Worte auch oft im Munde geführt, aber er hatte dabei immer an große, plötzliche Unglücksfälle gedacht, denen gegenüber man sich mit entschlossener That schnell und muthig zu bewähren hätte. Die Widerwärtigkeiten, die inneren Hindernisse und Zweifel, mit denen zu kämpfen ihm beschieden war, hatte er damals noch nicht gekannt, und Ehre und Ruhm, wie sie ihm begeisternd vor der Seele schwebten – wo sollte er sie erringen? In dem Kriege, zu welchem das Volk, das Heer des großen Friedrich jetzt unter dem Adler seines Unterdrückers auszog, waren sie für einen preußischen Edelmann nicht zu suchen und zu finden.

Er hielt inne, als er in seinen Gedanken auf diesen Punkt gekommen war; denn das, eben das, hatte ja Tremann gestern ausgesprochen. Es war nicht anders, Tremann hatte Recht gehabt, und mit allen seinen Vorsätzen und Entschlüssen kam Renatus nicht über die Schranke hinaus, in welche er durch seine Verhältnisse gebannt war: die Gesetze der Standesehre zwangen ihn, wider seine Neigung, ja, gegen seine Ueberzeugung zu handeln.

Wohin er sich auch wendete, nirgends hatte er einen klaren, freien Ausblick, nirgends sah er einen leichten Weg für sich offen, und doch war er durch seine Geburt auf die Höhen des Lebens gestellt und über die große Menge hinausgehoben! – Er wußte[371] sich nicht zu helfen in seiner stolzen Verzagtheit, und weil ihm Alles nur schwerer und trüber erschien, je länger er darüber nachsann, faßte er sich endlich gewaltsam zusammen, um das Nöthigste abzuthun und sich wenigstens nach der einen Seite Luft und Freiheit zu verschaffen.

Renatus hatte von seinem Hause bis zu der Wohnung der Gräfin ziemlich weit zu gehen und also hinlängliche Muße, sich zu überlegen und zu wiederholen, wie er sein Verhalten zu erklären und zu rechtfertigen versuchen solle. Weil er die regelmäßigen Gewohnheiten seiner Freunde kannte, fiel es ihm leicht, sich die Lage, in welcher er sie antreffen werde, vorzustellen, sich den Gang auszumalen, den das Gespräch wohl nehmen würde, und sich danach die Form zurechtzulegen, in welcher er von der Unterhaltung über seine äußeren Angelegenheiten auf seine Empfindungen und innerlichen Erlebnisse überleiten könne, und er hatte eine gewisse Fassung und Haltung gewonnen, noch ehe er vor der Thüre der Gräfin anlangte.

Er sah zu ihren Fenstern hinauf, das Licht schimmerte durch die Vorhänge, die beiden großen Myrtenstöcke warfen ihren Schatten gegen dieselben. Die Gräfin hatte diese beiden Myrten bei der Geburt ihrer Töchter, nach der Sitte ihres Hauses, selbst gepflanzt; es waren unter ihrer sorglichen Hand zwei schöne Stöcke geworden, sie sollten einst die Kränze für ihre Töchter liefern. Renatus hatte vor Hildegard's Myrte manch lieblichen Traum geträumt; jetzt fiel ihm bei dem Anblicke das Non più andrai far fallone amoroso! ein, das Herr von Castigni ihm vor wenig Stunden zugerufen hatte. Die Zeit der Liebeständelei, die Zeit der Jugend waren für ihn vorüber!

Oben angelangt, dünkte es ihn, als müsse er lange warten, bis das Mädchen ihn angemeldet hatte und ihm die Thüre zum Eintritte öffnete. Es war in den Zimmern Alles wie sonst. Die Gräfin saß ruhig wie immer auf ihrem gewohnten Platze,[372] Cäcilie am unteren, Hildegard am oberen Ende des Tisches. Er hätte sich nicht gewundert, hätte er sich selber zwischen den beiden Schwestern an der freien Seite, der Gräfin gegenüber, sitzen sehen. Das sollte nun ein Ende haben.

Das Herz wurde ihm schwer und fing ihm stark zu klopfen an, als er den Frauen den guten Abend bot, denn ihre Traurigkeit war unverkennbar. Er sagte sich, daß er Muth für sie alle werde haben müssen und daß es nöthig sei, sich nicht erweichen zu lassen. Mit festem Schritte und noch festeren Vorsätzen ging er zu der Gräfin, ihr, wie immer, die Hand zu küssen, dann reichte er Cäcilien die Hand und wollte sich eben der älteren Schwester in gleicher Absicht nähern, als diese sich schnell erhob, ihm beide Hände entgegenreichte und mit warmer Empfindung die Worte hervorstieß: Vergib mir – ach, vergib mir!

Daß Hildegard ihn in Gegenwart der Mutter, ohne all sein Zuthun, um Vergebung bitten könne, darauf allein hatte er nicht gerechnet. Es erschreckte ihn also, wie es ihn rührte, und weil es ihn unvorbereitet traf, wußte er nicht gleich das rechte, mit seinen Absichten vereinbare Wort zu finden.

Liebe Hildegard, sagte er; aber sein zögernder Ton bestärkte sie in dem Glauben, daß er ihr noch zürne, und ihres Schmerzes bei dem Gedanken an die bevorstehende Trennung nicht länger Meister, hingerissen von ihrer Liebe, warf sie sich mit erhobenen Armen um seinen Hals und klagte: Ich sterbe, Renatus, wenn Du im Zorne von mir gehst!

Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter, er fühlte das Schlagen ihres Herzens an dem seinigen, er hielt sie umfangen, er erwiederte ihre Küsse, er knieete mit ihr zu den Füßen ihrer Mutter, die sie unter Thränen segnete.

Er hatte das so oft geträumt, daß es ihm auch jetzt war, als träumte er es wieder; nur daß er im Schlafe sehr natürlich gefunden hatte, was ihm jetzt fast unglaublich däuchte, und daß[373] statt der unklaren Furcht vor dem Erwachen, die ihn sonst in seinem Glücke gestört hatte, jetzt wie ein kühler, unheimlicher Schatten das Bewußtsein über ihm lag, daß kein Erwachen das Geschehene ungeschehen machen werde. Seine Gefühle und Gedanken trieben in einem solchen Wirbel durcheinander, daß er keinen von ihnen festzuhalten wußte und allmählich von ihnen fortgerissen wurde. Hildegard's überwältigende, alle mädchenhafte Scheu besiegende Liebe schmeichelte seiner Eitelkeit, ihre Zärtlichkeit entflammte, aufgeregt, wie er es ohnehin war, seine Sinne. Er hielt sich berechtigt, seine Braut – denn das war Hildegard ihm jetzt – im Bei sein ihrer Mutter fester und inniger zu umarmen, als je zuvor, und die Phantasie des Mädchens war der seinigen seit langer Zeit vorausgeeilt, denn Mädchen reifen immer schneller als der Jüngling. In dem Bestreben, ihrer Mutter zu erklären, daß sie nicht anders habe handeln können und daß sie ihrem Herzen habe folgen müssen, erzählte Hildegard mit frohem, liebevollem Rückerinnern, wie Alles sich in den letzten Monaten zwischen ihr und dem Geliebten begeben habe, und Renatus' eigenes Herz wurde davon erweicht und entflammt. Er fragte sich, wie er das alles habe vergessen können, er sagte sich daneben, daß ein Edelmann, der mit einer Dame seines Standes so weit gegangen sei, sich auch ohne eine bestimmte Erklärung an sie gebunden habe, und es fiel ihm nicht ein, daß er mit diesem bloßen Gedanken seine Verlobung als eine nicht frei gewollte That anerkannte, daß er es stillschweigend beklagte, seine Freiheit verloren zu haben. Er hatte auch zu solchen Ueberlegungen die äußere Ruhe nicht.

Die Gräfin sprach es ihm mit ihrer sanften Würde offen aus, daß seine Liebe für Hildegard ihr kein Geheimniß gewesen sei und ihr den liebsten Wunsch ihres Herzens erfülle, daß sie aber fürchte, der Freiherr werde anderer Ansicht sein und eine mittellose Schwiegertochter nicht willkommen heißen. Sie klagte[374] sich an, in ihrer Rührung voreilig ein Bündniß gesegnet zu haben, für welches Renatus die Zustimmung seines Vaters noch fehle; sie hielt ihm seine Jugend, die Gefahren des bevorstehenden Krieges vor, sie ersparte ihm keines der Bedenken, die er sich selbst entgegengehalten hatte – und ohne daß sie es wollte oder auch an eine solche Möglichkeit dachte, half sie ihm damit, sich in seiner neuen Lage festzusetzen.

Die Nothwendigkeit, die Gräfin zu überreden, zwang ihn, nach Gründen zu suchen, welche sie widerlegen konnten und welche also auch seine früher gehegten Besorgnisse widerlegten. Der Hinweis auf seine Jugend, auf seine Abhängigkeit von seinem Vater regte sein männliches Selbstgefühl auf, und da er wenig gewohnt war, auf Widerstand zu stoßen, trieb ein solcher ihn nur an, es darzuthun, wie er ihn zu besiegen wisse. Die berechnetste Absichtlichkeit hätte für Hildegard's Wünsche und gegen die früher gefaßten Vorsätze des jungen Freiherrn nicht wirksamer eintreten können, als die edle Gewissenhaftigkeit der Gräfin.

Kein Mann mag vor den Augen eines Weibes, das ihm nur irgend eine Art von Theilnahme eingeflößt hat, als ein Abhängiger, ein Unfreier erscheinen, am wenigsten konnte Renatus dies ertragen. Er sagte, daß er die Hoffnung hege, von seinem Vater die Wahl gebilligt zu sehen, welche sein Herz getroffen habe, aber er betheuerte zugleich, daß er Mannes genug sei, auch wider seines Vaters Willen sein Recht auf freie Selbstbestimmung zu behaupten. Hildegard's strahlendes Antlitz, ihr fester Händedruck, die Bewunderung, mit welcher die liebliche Cäcilie auf den Geliebten ihrer Schwester blickte, der sanfte Beifall, den er in der Mutter Augen las, steigerten seine Selbstgewißheit wie sein Feuer. Er versicherte, daß er nicht von dieser Stelle scheiden werde, ohne die feste Zusage von Hildegard's Hand erhalten zu haben. Er ging so weit, ihr und der Mutter zu bekennen, wie er sich alle jene Einwendungen selbst gemacht habe,[375] wie er Willens gewesen sei zu schweigen, und ohne das beseligende Bewußtsein, daß die Geliebte für ihn bete und ihm mit ihrem Geiste nahe sei, in den Kampf zu ziehen, und wie unmöglich er das gefunden habe, als er Hildegard ins Auge geschaut, als ihr süßer Mund von ihm Vergebung gefordert habe, wo er, er ganz allein der Schuldige, ihrer Verzeihung bedürftig gewesen sei.

Er lag dabei vor ihr auf den Knieen, er hatte sich von Allem überredet, was er sagte, Hildegard's Hände hoben sein blondes Haupt empor, er blickte trunken und beseligt in ihr Antlitz. Es war ihm völlig entschwunden, daß er sie am Morgen unschön gefunden hatte. Er nannte sie seinen Engel, seine schöne, blonde Heilige, und sie sah auch schön aus in ihrem Glücke. Wie hätte die Mutter ihren Kindern diese erste Seligkeit des Zueinandergehörens trüben oder stören mögen, wie hätte sie nicht mit ihren Kindern hoffen sollen, daß Alles sich zum Guten wenden werde!

Es war weit über die gewohnte Stunde, als sie den Jüngling daran erinnerte, daß es Zeit zum Aufbruch sei, daß er Hildegard verlassen müsse.

Auf morgen! sagte er, als er die Braut umarmte.

Aber dann, aber dann! rief sie in Vorahnung der langen, schweren Trennung, die ihnen drohte. Auch ihm krampfte es das Herz zusammen. Er küßte sie wieder und wieder, er trank die Thränen von ihren Augen, und jetzt dachte er wieder an die für Hildegard bestimmte Silhouette. Die Zweifel, die ganze Stimmung, mit welcher er das Portrait am Abende in Händen gehalten und betrachtet hatte, waren wie aus seiner Erinnerung weggelöscht. Der glückliche Augenblick verscheuchte und verhüllte, wie ein mächtiger Zauber, alles, was seiner Herrschaft in der Vergangenheit und in der Zukunft im Wege stand.

Hildegard drückte das Bild an ihre Lippen, dann rief sie,[376] daß man ihr folgen, daß man ihr leuchten solle, und schnellen Schrittes eilte sie den Andern voran in ihr Schlafgemach.

Renatus hatte den stillen Raum nie zuvor betreten. Ueber dem keuschen, weißen Lager der Geliebten hing das Crucifix und das Weihwasserbecken, ein kleines Bild, das die Gräfin als Braut darstellte, hing darunter. Hildegard nahm es von der Wand und befestigte die Silhouette an der Stelle.

Ihm mußt Du weichen, Mutter, das ist jetzt sein Platz! rief sie, indem sie die Gräfin umarmte, und sich zu Renatus wendend, sagte sie mit einer Erhebung, die ihr sehr wohl anstand: Denke hierher, Geliebter! Hier wird meine Seele für Dich beten, hier werde ich auf meinen Knieen liegen früh und spät und Gottes Schutz und Segen herniederflehen auf Dein geliebtes Haupt, und hier – ihre Stimme ging in Thränen unter – wird mein letzter Seufzer Dir gehören, wenn Gott es anders über Dich und mich beschlossen hat!

Die Verlobten sanken sich tief erschüttert in die Arme, die Gräfin und Cäcilie waren nicht weniger gerührt, sie umarmten den Jüngling gleichfalls, und die schlanke Cäcilie konnte sich in ihren Thränen kaum von seinem Halse trennen. Er mußte sie endlich mit sanfter Gewalt von sich entfernen, sie war des Schmerzes noch ganz ungewohnt.

Als ein verwandelter Mensch kehrte Renatus in seine Wohnung zurück. Wie verdiene ich dieses Glück, wie verdiene ich ihre Liebe? fragte er sich – ich, der ich mich so schwer gegen dieses reine, seltene Herz versündigt habe?

Hildegard's Frömmigkeit wirkte in ihm nach. Er betete ernster, inbrünstiger, als seit langer Zeit, und mit voller Ueberzeugung wiederholte er sich alle die Gelöbnisse, die er sich gethan hatte, und fügte den Schwur hinzu, daß Hildegard's Glück ihm heilig wie seine Ehre, und seine Ehe mit ihr ein Musterbild adeliger Würdigkeit und Sitte werden solle.[377]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 5, Berlin 1871, S. 365-378.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Reuter, Christian

Der ehrlichen Frau Schlampampe Krankheit und Tod

Der ehrlichen Frau Schlampampe Krankheit und Tod

Die Fortsetzung der Spottschrift »L'Honnête Femme Oder die Ehrliche Frau zu Plissline« widmet sich in neuen Episoden dem kleinbürgerlichen Leben der Wirtin vom »Göldenen Maulaffen«.

46 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon