Erstes Capitel

»Die Tage folgen einander und gleichen einander nicht!« wiederholte sich der Freiherr, als er in seiner Reisekalesche einsam durch die tief verschneiten Haiden gen Osten nach seiner Heimath fuhr.

Er empfand das jetzt noch lebhafter, als es sich ihm bei seiner Reise durch Deutschland dargestellt hatte. Gerade sechs Jahre waren es her, seit er mit dem preußischen Contingente, am Ausgange des Winters, denselben Weg gegangen war; aber sie waren dahin, die jugendlichen Liebes- und Ruhmesträume, welche ihm damals die Brust geschwellt hatten. Ihm winkte jetzt nicht mehr das Wiedersehen mit seinem Vater, nicht mehr die Aussicht, mit seinen fröhlichen Kameraden in seiner Väter Schloß heitere Tage zu verleben, und Vittoria und ihren Sohn in Freuden zu umarmen. Er war noch jung genug, indeß die großen Ereignisse, die ungewöhnlichen Schicksalswechsel, die er an sich hatte vorüberziehen sehen und in denen er selbst betheiligt gewesen war, die Gefahren und Nöthen, die er überstanden, die Vorgänge in seiner Familie und namentlich die Erfahrungen, die sich ihm in Paris in den letzten Wochen und Monaten aufgedrängt hatten, machten, daß er sich älter, in der That weit älter dünkte. Dazu trat die Sorge jetzt nahe und näher an ihn heran.

So lange er in Frankreich gewesen war, hatte er sie wie eine ferne, weit entlegene Gebirgsreihe nur in unbestimmten[5] umrissen und nur gelegentlich vor sich gesehen. Jetzt, da er sich auf der altbekannten Straße wiederfand, da jede Station ihm eine halbvergessene Erinnerung wachrief, tauchte auch die ganze Kette seiner Sorgen immer deutlicher vor ihm empor, und er konnte, wohin er den Blick auch wendete, es nicht hindern, daß sie sich hoch und höher aufzuthürmen schienen, bis er sich endlich wie von ihnen umringt und seinen ganzen Horizont von ihnen in einer Weise eingeschlossen fühlte, daß es ihm jeden freien Ausblick hemmte und ihm den Athem einzuengen drohte.

Was ging ihm nicht alles durch den Kopf! – In diesem Gasthofe war er gewesen, als er mit seinen Eltern, in Begleitung der Herzogin, nach der Stadt gefahren war. Er erinnerte sich, wie man ihn in den Wagen der Herzogin gebracht hatte, damit die Mutter Ruhe hätte, und wie heiter sein Vater an dem Tage gewesen war. Vor jenem Kruge hatte man ihm auf der Rückreise zu trinken geben lassen, und der Krüger hatte nach der Frau Baronin gefragt, die unter Seba's Obhut mit dem Caplan in der Stadt schwer krank zurückgeblieben war. Nun lebten sie alle nicht mehr: nicht sein Vater, nicht seine Mutter, nicht der Caplan und nicht die Herzogin! Und wie ihm das auch weh that, sie konnte er nicht beklagen. Das Leben dünkte ihm kein so großes Glück. Brauchten sie alle es doch nicht zu hören, was er von Tremann und von dem Grafen hatte hören müssen! Er dachte mit einer zärtlichen Genugthuung daran, daß sie mit weniger beschwertem Sinne, als er, durch ihr Dasein gegangen waren, und daß nur er allein die Erbschaft ihrer Sorgen auf sich nehmen mußte. Sie hätten denselben zu stehen nicht mehr vermocht.

Vor dem Hause, vor welchem er auf seinem eiligen Ritte nach dem väterlichen Schlosse damals, als er seinem Regimente Quartier bestellen wollte, mit Steinert zusammengetroffen war, mußte er auch jetzt wieder verweilen. Man hatte die Posthalterei[6] dahin verlegt, es war die letzte Station, auf der er seine Pferde wechselte. Der Posthalter, der den jungen Freiherrn trotz der sechsjährigen Entfernung augenblicklich wiedererkannte, bewillkommte ihn mit lebhaftem Zuspruche. Wie vor sechs Jahren, hatte Renatus jedoch auch jetzt keine Neigung, darauf einzugehen. Jetzt wie damals fürchtete er, irgend welche ihm unwillkommene Berichte zu vernehmen, denn Gutes war ihm von Hause schon seit langer Zeit nicht mehr gekommen. Und sich wie Einer, der geschlafen hat und weiter zu schlafen denkt, tief in die Wagenecke zurücklehnend, befahl er, sobald die Pferde vorgelegt waren, weiter zu fahren.

Es war noch früh am Morgen, als das Schloß sich vor seinen Augen erhob. Die Stattlichkeit desselben freute ihn, da er es jetzt zum ersten Male als sein Eigenthum begrüßen sollte, aber seine Besitzesfreude war nicht rein. Wehmüthige Erinnerungen und schwere Sorgen warfen ihre trüben Schatten über sie.

Man hatte am verwichenen Tage die Kalesche des Freiherrn auf Kufen gesetzt und die Räder untergebunden, denn der Schnee lag hier noch auf dem ganzen Lande fest. Er reichte vor den niedrigen Häusern der Insassen bis an die halbverstiemten kleinen Fenster hinauf. Nun steckten aus den Thüren sich hier der Kopf einer Alten, dort ein paar Kindergesichter unter ihren dicken Pelzmützen hervor, als mit dem Schalle des Posthorns zugleich das Klingeln der Schlittenschellen ertönte, und der Schlitten, von den starken Gäulen fortgezogen, eilig durch das Dorf fuhr.

Die winterliche Einsamkeit, das Anschlagen der Hunde, das sich von Hof zu Hof fortsetzte, bis es aus dem Bereiche des Schlosses an des Freiherrn Ohr klang, hatten etwas Melancholisches für ihn, dem jetzt seit Jahren das belebte Treiben der heitersten aller Städte zu einer lieben Gewohnheit geworden war. Da er sich in Berlin so plötzlich zum Aufbruche entschlossen und auch seine Abreise von Paris schneller, als er es erwartet hatte,[7] gekommen war, konnte man hier in Richten natürlich auf seine Ankunft noch nicht vorbereitet sein.

Das eiserne Gitter in dem Hofthore war geschlossen, kein Laden in beiden Stockwerken geöffnet. Man hätte das Schloß für unbewohnt ansehen können, wäre nicht aus den Schloten der Rauch emporgestiegen.

Der Postillon ließ auf's Neue sein Horn erklingen, um Einlaß zu erhalten. Der Freiherr betrachtete während dessen, wie der graue Rauch, von der Sonne erhellt, an dem lebhaft gefärbten Himmel in graden, sich kräuselnden Säulen in die Höhe stieg, die Gegend, das Klima, sein Schloß und sein ganzer Zustand kamen ihm plötzlich so fremd, so wenig als zu ihm gehörend vor, daß er über die Gleichgültigkeit erschrak, mit der er, hier umherschauend, auf das Oeffnen seines Hauses wartete.

Der Bursche, der das Thor aufmachte, kannte den Freiherrn nicht. Er war noch ein Knabe gewesen, als Renatus fortgegangen war. Aber der Stallknecht, der hervorkam, riß voll freudiger Bestürzung seine Mütze von dem Kopfe und rief, während er sich mit den Händen gegen die Lenden schlug, dem Schlitten nachlaufend: Der Herr! Herr Jesus, unser junger, gnädiger Herr ist da! der Herr ist da!

Der Ruf brachte im Hofe Alles schnell in Bewegung. Der Kutscher, ein Paar der andern Leute eilten nach der Rampe. Die Thüre des Schlosses ward rasch aufgemacht, es kamen ein Diener, einige Mägde zum Vorschein, man umringte Renatus, man küßte ihm die Hände, aber es waren lauter fremde Gesichter. Nicht Einer von den Leuten, die früher im Schlosse gewesen waren, fand sich unter den Begrüßenden, so daß es dem Schloßherrn endlich eine wirkliche Erquickung war, als Vittoria's italienische Kammerfrau, ihr rothseidenes Tuch wie sonst um das dicke, schwarze Haar geschlungen, aus einem der unteren Zimmer zum Vorschein kam.[8]

Wo ist die Signorina? fragte Renatus lebhaft, und der bloße Klang dieses einen Wortes erwärmte ihm das Herz.

Hier, Signor, hier! Im Bette! Sie schläft noch, aber sie wird glücklich sein über ein solches Erwecktwerden! Kommen Sie, kommen Sie, Herr Baron! Wie glücklich wird meine Signorina sein!

Die treue Seele ließ dem Freiherrn kaum die Zeit, sich seines Pelzes und seiner Reisestiefel zu entledigen; dann ihn mit sich fortziehend, öffnete sie die Thüre von Vittoria's Gemach und meldete mit ihrer starken, lauten Stimme: Signora, liebe Herrin, unser Herr ist da! Unser junger Herr, unser Herr Baron!

Das Feuer brannte hell im Kamine, Gaetana riß die Fensterläden auf, daß die emporkommende Sonne durch die gefrorenen Scheiben blendend hell hineinschien, und von dem grellen Lichte schnell erweckt, richtete Vittoria sich auf ihrem Lager rasch empor, sah den Eintretenden mit ihren mächtigen Augen voll Erstaunen an und rief dann, ihm ihre Arme entgegenbreitend: Renatus, lieber Renatus, mein Sohn, mein Freund! Aber welche Freude, aber welch ein Glück!

Sie konnte sich nicht genug thun. Er hatte sich zu ihr niedergebeugt, sie nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und küßte ihn wieder und wieder.

Wie Du schön geworden bist, wie groß, wie stark! sagte sie Mal auf Mal, und wenn sie ihn von sich entfernt hatte, als könne sie ihn nun besser betrachten, so zog sie ihn wieder zu sich heran, um ihn auf's Neue zu umarmen. Plötzlich aber brachen ihre Thränen gewaltsam hervor, und die Augen verhüllend, sprach sie: Ich glaubte, ich sei alt, sehr alt! Aber nur ein Bißchen Hoffnung, nur ein Sonnenstrahl des Glückes, und das Leben und die Jugend sind wieder da! – O, ich bin jung wie Du, seit ich Dich wiedersehe![9]

Ehe er es hindern konnte, hatte sie in der Freude seines Herzens seine Hand ergriffen und an ihre Lippen gedrückt. Ihre Warmherzigkeit, die Rückhaltlosigkeit, mit welcher sie sich an ihre Empfindung hingab, bezauberten Renatus, und wie ihr in der lebhaften Bewegung das seidene Tuch vom Haupte glitt, daß die Fülle ihres schwarzen Haares sie und ihr volles, marmorfarbiges Gesicht umfloß, übte auch ihre Schönheit den alten, lieben Reiz auf ihren Stiefsohn aus.

Sie fragte nach seinem Ergehen, aber sie fragte, wie es die Weise ihres phantastischen Sinnes war, bald nach Diesem, bald nach Jenem. Er sollte erzählen, und doch war sie es, die ihm erzählte, wie traurig, wie verlassen sie hier im Schlosse lebe, wie schön Valerio geworden sei, wie sie es hier gar nicht ertragen haben würde, hätte sie Valerio und Cäcilie nicht gehabt, hätte sie sich nicht damit getröstet, daß Renatus wiederkommen und seiner armen, kleinen Mutter das Leben wieder leicht und lieblich machen werde. Nur des Freiherrn, ihres verstorbenen Gatten, erwähnte sie mit keinem Worte, und Renatus mochte ihre Freude durch keine schmerzliche Erinnerung stören. Es fiel ihr gar nicht ein, daß Jemand, der von einer Reise kommt, ein Verlangen nach Nahrung oder den Wunsch hegen könne, sich umzukleiden. Sie dachte nicht daran, daß er von der mehrtägigen Fahrt ermüdet sein müsse; selbst daß sie aufstehen und sich ankleiden lassen könne, kam ihr nicht in den Sinn. Sie war froh und glücklich, sie war immer noch die alte Vittoria, die im Augenblicke ihre Welt zu finden wußte, und wie sonst riß sie Renatus mit sich fort, daß er sich fröhlich und erquickt in ihrer Nähe fühlte.

Mit einem Male jedoch erhob er sich von dem Sessel, auf welchem er vor Vittoria's Lager Platz genommen hatte, und sich selber scheltend, sprach er: Aber ich sitze hier bei Dir, Signorina, und ich muß zu meiner Braut, zu Hildegard!

Das ist wahr! so geh', so eile! Sie wird sich freuen, die[10] gute Hildegard! Aber sie ist immer unwohl, immer unwohl, die gute Hildegard! entgegnete Vittoria.

Auf seine Frage, was seiner Verlobten fehle, fügte die Baronin hinzu, Hildegard habe den Schnupfen, immer den Schnupfen, sie sei immer erkältet und leide, wie sie sage, an den Nerven. Sie behaupte, die Sehnsucht habe sie krank gemacht. Nun aber sei er ja da, nun also werde sie genesen.

Renatus konnte den Spott in den Worten seiner Stiefmutter nicht überhören, indeß er mochte sich nicht gleich in dieser Stunde mit den kleinen Mißhelligkeiten und Eifersüchteleien befassen, deren Aeußerungen er in jedem Briefe gefunden, welchen er von Hause erhalten hatte, und schnell die Treppe und den langen Korridor hinaufgehend, folgte er dem Diener, der ihn bei der Gräfin ansagen sollte, während er selbst in seine Zimmer zu gehen und sich nach der langen Fahrt umzukleiden wünschte, ehe er vor seiner Braut erschien. Er hatte jedoch den Korridor noch nicht verlassen, als eine in Bewegung bebende Stimme die Worte ausrief: Wo ist er? Ach, wo ist er? Und da er, diese Stimme erkennend, sich umwendete, eilte Hildegard mit ausgebreiteten Armen, den Kopf wie in einer Verzückung erhoben, auf ihn zu und drückte ihn stumm und sprachlos, als wolle sie ihn nicht mehr lassen, an ihr Herz.

Die Mutter, die Schwester waren ihr auf dem Fuße gefolgt, der Diener stand dabei, das Kammermädchen, welches den Frauen einige Kleidungsstücke zuzutragen hatte, kam ebenfalls den Gang herauf, und wenn diese Begegnung in dem kalten Vorsaale, im Beisein einer ihm fremden Dienerschaft, schon nicht nach dem Wunsche des jungen Freiherrn war, so lag in dem Wesen, in dem Tone, ja, selbst in der gewaltsamen Innigkeit, mit welcher seine Braut ihn umarmte, etwas, das, statt ihn zu erwärmen, ihn erkältete, weil es ihn unwillkürlich von sich selber abzog und ihn zum Beobachten nöthigte, wo er sich einer einfacheren[11] Ausdrucksweise der Empfindung arglos und willig hingegeben haben würde.

Fasse Dich, liebe Hildegard, fasse Dich! mußte er sie zu wiederholten Malen ermahnen; aber sie schüttelte stumm und immer noch sprachlos das Haupt, und Renatus war endlich genöthigt, sie mit sanfter Gewalt von seinem Herzen aufzuheben, um die Mutter, um Cäcilie begrüßen und Hildegard in das Zimmer geleiten zu können, wohin die Andern ihnen folgten.

Die Gräfin hatte sich, weil sie in dem fremden Hause so wenig als möglich an dem Bestehenden zu ändern gewünscht, als sie nach Richten gezogen war, in dem sogenannten Fremdenflügel niedergelassen, der einst von der Herzogin bewohnt worden war. Hieher hatte sie ihre Möbel bringen lassen und sich, so weit dies möglich war, ganz so eingerichtet, wie in den Räumen, die sie in der Stadt zuletzt inne gehabt hatte. Hier wie dort hingen die weißen, schlichten Vorhänge in langen, regelrechten Falten an den Fenstern hernieder. Das kleine, alte Klavier, das schlichte Sopha, die Bilder der Königin und des Prinzen Louis Ferdinand, es stand und hing hier Alles so wie dort; auch die strenge Ordnungsliebe, die glänzende Sauberkeit herrschten hier wie dort. Renatus kannte Alles wieder, Alles; selbst den Myrtenstock am Fenster in dem alterthümlichen, gemalten Topfe, und doch war es ihm so fremd, doch ängstigte es ihn – so wie Hildegard's stumme Liebe, wie ihr Blick ihn ängstigte, der sich gar nicht von ihm wendete, wie ihre langen Händedrücke ihn beängstigten.

Was war denn mit seiner Braut geschehen? Die Mutter fand er, wie er sie verlassen hatte. Sie war immer noch die edle, stattliche Frau mit den breiten Wangenflächen, mit dem sanften Lächeln und dem guten, mütterlichen Ausdrucke. Cäcilie war noch gewachsen, war voll, stark und hübsch geworden, weit hübscher noch, als ihre erste Jugend es hatte erwarten lassen;[12] nur Hildegard hatte sich in einer Weise verändert, daß es Renatus schwer fiel, ihr zu verbergen, wie ihn dies überrasche.

In ihrem dunkeln, engen Morgenrocke, mit der fest anliegenden, kleinen weißen Haube über dem glatt gescheitelten Haare sah sie ihm wie eine Nonne, wie eine barmherzige Schwester aus, und ihr Behaben ließ ihn vollends an ihr irre werden. Er kam nicht über die Frage hinaus: Was stellt das vor? was soll das bedeuten? Er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß er verurtheilt sei, in einer Komödie eine ihm aufgedrungene und nicht natürliche Rolle zu spielen. Er mißfiel sich in derselben, er fand sich lächerlich in ihr; aber Hildegard mißfiel ihm noch weit mehr. Er war froh, wenn die Mutter, wenn Cäcilie mit ihm sprachen, er konnte es endlich gradezu nicht mehr ertragen, sich von seiner Braut mit dieser schwermuthsvollen Liebe ansehen zu lassen, und von einer plötzlichen Ungeduld ergriffen, fragte er sie, ob sie krank sei.

Krank? O nein, glücklich bin ich, unaussprechlich glücklich, entgegnete sie ihm, so glücklich, daß ich's noch nicht fassen, noch nicht glauben kann!

Aber diese Antwort machte das Uebel ärger, und lachend, um seine wahre Empfindung zu verbergen, sagte er: So will ich mich umkleiden gehen, damit Du Zeit gewinnst, Dich zu beruhigen! – Und den Anderen freundlich zunickend, verließ er sie.

In seinem Zimmer angelangt, warf er seine Kleider von sich und ging mit heftigen Schritten in dem großen Raume auf und nieder. Das Herz war ihm still in der Brust, zum Erschrecken still, und seine Gedanken wirbelten mit einer Schnelle durch seinen Kopf, daß er ihnen kaum zu folgen vermochte.

Es war unmöglich, er konnte sein Wort nicht halten. Dieses Mädchen konnte er nicht heirathen. Daß er Hildegard nicht liebe, das hatte er lange, das hatte er eigentlich schon am Tage nach seiner Verlobung gewußt; dennoch hatte er es für[13] möglich gehalten, sich mit ihr zu verbinden, um seinem Versprechen nachzukommen, und er hatte gemeint, auch ohne die eigentliche Liebe glücklich an ihrer Seite leben zu können. Sie war immer schwärmerisch, immer überspannt, immer von einer großen Empfindsamkeit gewesen. Aber die Schwärmerei, welche ihr vor Jahren einen eigenthümlichen Reiz verliehen, die Empfindsamkeit, die ihn bei dem Abschiede mit sich fortgerissen hatte, kleideten sie jetzt nicht mehr. Sie sah so verblüht aus. Bittoria hatte Recht, man sah es, daß sie beständig kränkelte, daß sie beständig den Schnupfen haben mußte; und dazu diese Gefühlskomödie, dieses Zurschautragen der Empfindung!

Wie schön, wie frei war Vittoria, die man mitten aus dem Schlafe erweckt und die von seiner Ankunft eben so wenig eine Kenntniß gehabt hatte, in ihrer Freude gewesen! Wie herzlich hatte ihn die Mutter, mit wie fröhlicher Zärtlichkeit hatte Cäcilie ihn empfangen! Er brauchte nicht an Eleonore, an dieses herrlichste der Weiber zu denken, um sich zu sagen, daß Hildegard nicht für ihn passe, daß er zu jung, zu lebensvoll und, der flüchtigste Blick in seinen Spiegel rief es ihm zu, ein zu schöner Mann sei, um ein Mädchen wie Hildegard an den Altar und in sein Haus zu führen. Es war unmöglich!

Aber was sollte er thun? Sollte er es ihr gleich jetzt, gleich heute sagen, daß er sie nicht liebe? Sollte er warten und die Zeit walten lassen? War es denkbar, daß sie ihm bei längerem Beisammensein weniger mißfiel? Durfte er darauf rechnen, daß sie vielleicht selber einsehen lernen würde, wie wenig sie und er zusammen paßten? Sollte er ihr schreiben – mit der Mutter sprechen? Sollte er abreisen? – Damit war freilich nichts gewonnen! – Und doch hätte er es am liebsten thun mögen, hätte er nicht nach dem Seinigen sehen müssen und wäre Vittoria nicht dagewesen, die er liebte, die wiederzufinden er so glücklich gewesen war.[14]

Der Diener hatte des Freiherrn Kleider noch nicht ausgepackt, als dieser etwas die Treppe hinaufstürmen hörte, und im nächsten Augenblicke warf sich ein Knabe mit dem Ausrufe: Mein Bruder, willkommen, mein lieber Bruder! ihm in die Arme.

Ein blühenderes, ein schöneres Geschöpf war kaum zu denken. Weit größer, als seine Jahre es erwarten ließen, das braune Gesicht von einer Fülle schwarzen Haares umlockt, die schönen Lippen vom Lachen umspielt, die großen Augen vor Freude funkelnd, und leicht und kräftig in jeder Regung und Bewegung, entzückte Valerio den jungen Freiherrn durch sein bloßes Erscheinen; und jene Liebe für die Kindheit, welche die Frauen meist als ein ihnen besonders eigenes und angeborenes Gefühl bezeichnen, während die Männer sie oft in ganz gleichem, wenn nicht in einem höheren und edleren Grade besitzen, bemächtigte sich urplötzlich seines Herzens. Er konnte nicht satt werden, den schlanken Knaben anzusehen. Er hörte es mit unsäglichem Vergnügen, wie Valerio ihn immerfort seinen Bruder, seinen geliebten Bruder nannte, wie er sich freute, daß der Bruder nun wieder da sei, wie er den Bruder bewunderte, der alle die Schlachten gefochten hatte. Nie zuvor waren die Worte »mein Bruder« zärtlicher an des Freiherrn Ohr gedrungen, es hatte Niemand mit so voller, kindlich vertrauender Liebe zu ihm emporgesehen. Und diese Zuversicht, diese vertrauende Bruderliebe des schönen Knaben, den er hatte geboren werden sehen, den er auf seinen Armen getragen hatte, sollte er Lügen strafen, sollte er jemals wieder entbehren müssen? Nimmermehr! – Vittoria war der Stern seiner Jugend gewesen, ihre Liebe und Freundschaft hatten seine bis dahin einsame und freudlose Kindheit in Glück verwandelt. Jetzt konnte er es ihr vergelten, es ihr in ihrem Sohne mit Genuß vergelten, und er gelobte sich, es zu thun.

Nur mit Widerstreben, nur, um ihn nicht in fremder[15] Hand zu lassen, hatte er den Brief, der gegen Vittoria Zeugniß gab, von dem Grafen Gerhard angenommen. Renatus hatte nicht daran gedacht, ihn jemals gegen sie zu brauchen oder dem Willen seines Vaters entgegen zu handeln. Nur darüber war er mit sich nicht eins gewesen, ob er ihn Vittoria übergeben solle oder nicht, ob es gerathen sei, die alte Wunde aufzureißen und sich zum ausdrücklichen Mitwisser von Valerio's unrechtmäßiger Geburt zu machen, oder ob er besser thue, dasjenige, was begraben sei, auch begraben bleiben zu lassen. Und wie er heute Vittoria wiedergesehen hatte, wie jetzt Valerio in seiner Schönheit und Liebe vor ihm stand, zweifelte er nicht mehr, was hier zu thun ihm zieme. Hätte er sich doch am liebsten selbst vor der Erinnerung an dasjenige bewahren mögen, was diese beiden ihm so theuren Wesen von ihm trennen konnte; und rasch entschlossen, nahm er seine Brieftasche zur Hand, suchte aus derselben den bewußten Brief hervor, betrachtete ihn sorgfältig, um sich zu überzeugen, daß er sich nicht irre, und warf das Blatt dann in das Feuer des Kamins.

Was machst Du da? fragte Valerio, dessen Neugier alles, was der Freiherr that, beschäftigte.

Ich verbrenne einen Brief.

Weßhalb das?

Weil ich Dich liebe, mein Valerio, mein lieber, lieber Bruder! gab Renatus ihm zur Antwort, indem er ihm die Arme entgegenhielt.

Valerio sprang an ihm empor und sagte lachend: Du gibst grade solche Antworten, wie die Mutter.

Der Freiherr fragte ihn, was er damit meine.

O, versetzte der Knabe, solche Antworten, bei denen man nicht weiß, was sie will, und über die man sich freut, auch ohne daß man sie versteht! Aber da Du jetzt zu Hause bist, lieber Bruder, will ich Dir auch Alles sagen und Dich immer fragen.[16]

Der Freiherr, der es wohl bemerkte, wie stolz es den Knaben machte, einen fertigen Mann als seinen Bruder ansprechen und behandeln zu können, forderte ihn, von Valerio's Weise mehr und mehr gefesselt, freundlich auf, mit dem Sagen und Vertrauen nur gleich zu beginnen; indeß Valerio weigerte sich dessen. Noch sei es nicht an der Zeit, noch sei es Winter; aber im Frühlinge, wenn der Schnee geschmolzen und Alles wieder grün sei, dann werde er es ihm schon sagen.

Er fing darauf, während Renatus sich säuberte und kleidete, von der Mutter, von der Gräfin und von Hildegard zu erzählen an: wie Hildegard ihn in die Stadt und in die Schule schicken wolle, wie er Hildegard nicht leiden könne, wie Cäcilie weit besser, aber weit besser sei, und wie auch die Mutter Cäcilien viel lieber habe. Renatus ließ ihn immerfort gewähren, aber er konnte sich aus dem planlosen Geplauder des Knaben doch bald überzeugen, daß derselbe durch das beständige Zusammensein mit Erwachsenen eine bedenkliche Frühreife erlangt und daß man ihm weit mehr als wünschenswerth den Zaum und Zügel habe schießen lassen.

Auf des Bruders Frage, was Valerio denn lerne, was er treibe, entgegnete dieser, der Pfarrer käme Tag um Tag, ihm Unterricht zu geben, und an den anderen Tagen lerne er mit der Mutter und mit Cäcilie Italienisch und Französisch. Hätten die keine Zeit, so zeichne er oder er spiele Klavier. Als Renatus sich erkundigte, wer ihn darin unterweise, sagte er sehr bestimmt, darin unterweise ihn Niemand, das könne er von selbst; und er hatte denn auch gleich, ohne um Erlaubniß zu fragen, aus des Freiherrn Taschenbuch den Bleistift herausgenommen und auf den Rand eines der Papiere, die zur Einwicklung von des Freiherrn Besteck gedient hatten, eine Menge von kleinen Figuren in den wunderlichsten Stellungen und Sprüngen, oft nur mit wenig Strichen, aber mit so vollkommener Sicherheit[17] hingeworfen, daß Renatus sich des Erstaunens und des Lachens nicht erwehren konnte. Sein Wohlgefallen an Valerio ward immer größer. Er meinte, nie eine so reine Freude genossen zu haben, als die Liebe für diesen Knaben sie ihm bereitete, und er begriff seinen Oheim nicht, der mit solcher Wärme und Anerkennung von Hildegard sprechen und dieses schönen, lebensvollen Knaben kaum Erwähnung, und zwar mit Abneigung hatte Erwähnung thun können.[18]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 7, Berlin 1871, S. 3-19.
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