Siegmund Simon

[15] Neun Ärzte behaupten, daß Samuel Simon an Wahnvorstellungen leide. Ich füge mich.

Seit neunundzwanzig Jahren bin ich in der Anstalt. Man ist freundlich zu mir. Ich kann tun und lassen, was ich will. Wenn es warm ist, gehe ich im Garten und horche, wie die Stunden sterben. Wenn es kalt ist, sitze ich am Fenster und sinne in den Himmel. Oft schaue ich den Leuten zu, wenn sie rufen oder arbeiten oder traurig sind ... Ich bin froh, daß ich fern bin. Ich entbehre nicht das Leben. Ich bin zufrieden, wenn man mir nichts tut und nichts von mir will. Ich beneide nicht die Menschen.

Neunmal in jedem Jahr bringt meine bleiche Frau Blumen. Mein Sohn Siegmund kommt niemals. Zuletzt habe ich ihn gesehen, als ich begraben wurde. An meinem neunundvierzigsten Geburtstag –

Ich lag in einem schmucklosen Holzsarg. Man fuhr mich auf einem wagenartigen Gestell. Neben mir schritten neun schwarzgekleidete Sargträger. Hinter mir der Pastor Leopold Lehmann, an seiner Seite meine Frau Frieda und mein neunzehnjähriger Sohn Siegmund. Wenige Verwandte folgten, die waren stillvergnügt und unterhielten sich von der Raupenplage.

Die Sonne warf warmes Licht. Wind kam dann und wann. Er krabbelte über den Kies und kitzelte die Frauen um Brüste und Waden. Wir hielten vor dem aufgeschütteten Grab. Der Sarg wurde hinuntergelassen, einige Formalitäten und Gebete wurden erledigt. Darauf fing der Pastor Leopold Lehmann an, auf Wunsch und auf Kosten meiner Frau eine Gedächtnisrede zu halten. Er sagte:

»Liebe Schwestern und Brüder! Wieder hat ein gütiges Geschick uns ein teures Menschenleben geraubt.[15] Trauernd stehen wir am Grab des Dahingeschiedenen und gedenken seiner in Wehmut.«

Mein Sohn Siegmund biß auf die Lippen. Der Pastor sagte:

»Die Erde, die den Körper ausgesondert hat, daß er kurze Zeit ein beseeltes Eigenleben führe, hat ihn wieder aufgenommen in den Mutterschoß. Ein edler Mensch ist heimgegangen –«

Mein Sohn Siegmund bekam einen Lachanfall. Das Gesicht wurde rot und ernst ... Er lachte, bis er röchelte.

Meine Frau schrie.

Einem Sargträger entfiel die Schnapsflasche und zerbrach auf dem Sarg. Der Sargträger blickte wehmütig hinunter.

Die Verwandten waren empört. Sie schämten sich für meinen Sohn Siegmund. Einige Frauen weinten in echte Spitzentücher.

Ich war ganz still.

Der Pastor sagte:

»Wenn einer nicht weiß, wie er sich zu benehmen hat, soll er nicht kommen, wenn einer beerdigt wird – Amen.«

Er warf etwas Sand auf die zerbrochene Schnapsflasche. Und entfernte sich. Stolz. Gekränkt. Der Pastor. Leopold Lehmann.

Mein Sohn Siegmund säuberte sich die Fingernägel.[16]

Quelle:
Alfred Lichtenstein: Gesammelte Prosa. Zürich 1966, S. 15-17.
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