Einundfunfzigster Brief

Sophie an Julien

[301] Vielen Dank, liebes bestes Weib! für Ihren vortrefflichen Brief. Er hat uns auf die angenehmste Art unterhalten, und wir bewundern die liebenswürdige Charlotte B. Marie aber glaubt doch, daß sie kaum zu einer solchen Erziehung Standhaftigkeit genug haben würde. Ich meiner Seits aber denke dereinst bey meinen Kindern ganz dieser Methode zu folgen, die mir sehr vernünftig scheint. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr es mich kränkt, diese Frau bisher nicht genau gekannt zu haben, und wie ich mich schäme, daß ich so oft in Spöttereyen über ihre Kinderzucht mit einstimmte, von der ich doch bis jetzt einen ganz falschen Begriff hatte. Ich hörte von ihr nur als von einer Frau reden, die gar keine mütterliche Liebe gegen ihre Kinder hätte, die sie vielmehr hassete,[301] und dieses sagten Weiber, welche wirklich durch eine ganz verkehrte Erziehung, und durch alle mögliche Päpeley, wahren Haß gegen ihre Kinder beweisen. Wie sehr bin ich gedemüthigt, daß ich diesen Verläumdungen wohl gar Glauben beymaß, ohne sie zu untersuchen!

Hier ist die Erziehung im kläglichsten Zustande. Man zwängt die kleinen Kinder gleich nach ihrer Geburt in feste Windeln. Das erste Vierteljahr kommen sie nicht aus der Kinderstube, woselbst man stets beschäftigt ist, sie zu tragen, und wenn dann der Wärterinn die Arme weh thun, so packt sie es in eine Wiege, und schaukelt es so, daß ihm Hören und Sehen vergeht, bis es vor Betäubung einschläft. Mit dem vierten Monat wagt man es denn wohl zuweilen, sie an die Luft zu bringen, aber nur an recht warmen Tagen; und dann hüllt man sie so fest in einen Mantel ein, daß nichts als die Hälfte des Gesichts heraus guckt, damit sie ja in beständig[302] starker Transspiration bleiben. Ist das erste Jahr vollbracht, so entwöhnt man sie, und ist sehr besorgt, die abgehende Nahrung dadurch zu ersetzen, daß man ihren Magen Tag und Nacht mit Brey verkleistert, und ihnen in den Zwischenzeiten einen Zuckertiß – so nennt man einen zusammengebundnen Lappen, der mit Zucker und Zwieback ausgestopft ist – in den Mund steckt; denn jede Mutter sucht darinn ihre Ehre, wenn das liebe Kind recht fett gemästet ist.

Im zweyten Jahr denkt man denn wohl daran, daß ihnen die Natur doch vermuthlich die Füße zum Gehen gegeben haben könnte. Man wagt es nun also zuweilen, sie im Gängelband auf der Erde zu leiten. Dieses wird ihnen wegen ihres schweren Körpers, und wegen der Ungewohnheit, ihre Glieder selbst zu gebrauchen, herzlich sauer. Ihre Füße, die schon im Mantel eine schiefe Richtung bekommen haben, wachsen nun ganz einwärts; die Brust beugt sich vor-[303] und macht mit dem aufgetriebnen Bauch eine gerade Linie. Auch die Schultern werden durch das Gängelband in die Höhe getrieben. Das Gesicht ist aufgedunsen, und hat eine kränkliche Farbe, und der Tanzmeister hat alle Mühe von der Welt, dieser verzerrten Figur eine erträgliche Stellung beyzubringen. Fällt nun das Kind zuweilen einmal – (und wegen seiner Ungeschicktheit wird es häufig fallen, wenn es sich selbst überlassen wird –) so erhebt man ein Angstgeschrey; die Wärterinn nimmt es auf den Schooß, giebt ihm Zucker und andre magenverderbliche Sachen, läßt es die böse Erde schlagen, und sucht es auf alle Weise zu besänftigen.

Nun beschäftigt man sie damit, ihnen Gespenstergeschichten zu erzählen, sie hübsch angeputzt vor den Spiegel zu stellen, und sich selbst bewundern zu lassen; ihnen von Braut und Bräutigam und von andern thörichten Dingen vorzuschwatzen, die der hirnlose Kopf der Wärterinnen[304] aussinnt. Eine französische Gouvernantinn fängt an, sie mit Vokabeln und Buchstabieren zu quälen; der Hofmeister giebt ihnen Religionsunterricht, welcher darinn besteht, sie Sachen herplappern zu lehren, von welchen sie kein Wort verstehen. Kurz, man bemüht sich, ihren Kopf zu einem Chaos von lauter verworrnen undeutlichen Ideen zu machen.

Bis jetzt hat die Mutter sie wenig anders als bey Tische gesehen; nun fängt sie an, sie zuweilen mit in Gesellschaft zu nehmen. Sie unterrichtet sie also sorgfältig von ihrem vornehmen Stande, wie sie sich demselben gemäß betragen, gegen Vornehme ein unterthäniges höfliches, und gegen Geringere ein nachläßiges verächtliches Betragen annehmen sollen. Versieht das Kind etwas, so heißt es: das war einmal wie ein Bauernkind gehandelt; und durch mehrere solche Aeußerungen bringt man ihnen eine Verachtung gegen[305] diesen Stand bey, ohne den doch alle andern Stände nicht bestehen können.

Doch ich ermüde, Ihnen die thörichte Kinderzucht der hiesigen Damen noch weiter zu beschreiben. Genug, daß die jungen Mädchen die unerträglichsten Zieraffen und die Söhne entweder roh und ungeschliffen, oder auch fade Stutzer sind. Mariens Geist und Herz ist zu edel, um an dieser Gesellschaft Geschmack zu finden; auch wird sie von diesen Weibern, für die sie freylich nicht gemacht ist, gehaßt.

Vor einigen Tagen waren wir zum Besuch bey einer solchen Gans gebeten. Es befanden sich ein kleiner Knabe und zwey Mädchen von sechs und acht Jahren im Zimmer. Das älteste Mädchen war schön, aber schon ganz eines von den Gesichtern, die stets bemüht zu seyn scheinen, es selbst zu sagen. Das jüngste war von den Pocken verdorben worden, hatte aber doch eine gute offne Miene. Ich bemerkte dieses letzte gegen die Mutter.[306]

»Ach! sprach sie, was thue ich mit der offnen Miene, da das Mädchen so häßlich ist wie eine Fratze? Sie glauben gar nicht, was ich für Aerger von ihr habe. Keinen Augenblick kann sie auf einer Stelle sitzen. Ruckst du schon wieder auf deinem Stuhl, du garstiges Thier! Du möchtest wohl gern den ganzen Tag auf der Straße liegen, wie die Bauernkinder, und du hättest doch gewiß nicht nöthig, den Leuten dein Fratzengesicht zu zeigen. Ehe ich michs versehe, entwischt das alberne Mensch vor die Straßenthür, und spricht mit den gemeinen Kindern. Habe ich dir es nicht so oft verboten, du solltest dich nicht mit dem schlechten gemeinen Volk abgeben? Wenn ich es noch einmal sehe, so werde ich dich so derb abprügeln, daß dir die Lust wohl vergehen soll.«

Das Kind. »Unser Informator sagte mir heute in der Stunde, die gemeinen Kinder wären so gut von Gott erschaffen, als wir.«[307]

»Du naseweißes Thier, was hast du zu reden? Der Informator ist nicht gescheidt, wenn er euch solches dummes Zeug vorschwatzt. Kein Unterschied unter vornehmen und gemeinen Leuten? Wie albern ist das! Malchen ist darinn viel klüger, als du. Die läßt sich nicht mit allen Leuten in Gespräch ein; und läuft auch nicht den ganzen Tag herum. Sieh, wie sie so still sitzt! Und sie hat doch ein ganz anderes Gesicht, als du, garstiges Ding! Glauben Sie nicht auch, Mademoiselle, daß das Mädchen recht schön werden wird? Sie verdirbt aber auch ihre Haut nicht so in der Luft, wie jene. Sie gienge nicht um vieles nur über den Hof, wenn die Sonne scheint: nicht wahr, Malchen? Ein klein Bißchen eigensinnig bist du wohl manchmal, aber dafür bist du auch mein ältstes schönes Töchterchen. So, halte nur den Kopf recht gerade, mein Kind!«[308]

Das Mädchen saß da, und verlor kein Wort von dieser klugen Rede. Es wurde Obst gegeben, und die Kleine hob hurtig einen Apfel auf, der zur Erde fiel.

»Sehen Sie wohl, Mama – schrie Malchen – da nimmt Justchen schon wieder, ehe andre Leute was haben. Willst du mir bald den Apfel hergeben?«

Das Kind weigerte sich. Malchen schlug und kratzte es, und wie es sich wehrte, erhub sie ein Zetergeschrey:

»Sehn Sie doch nur, Mama, hier hat sie mir meine Brustschleife abgerissen.«

Nun sprang die Mutter wüthend auf, stieß die kleine mit vielen Schimpfreden aus der Stube, und war sehr bemüht, Malchen durch allerley Liebkosungen zu trösten. Auf einmal vermißte ich meinen Fächer, und siehe, der Knabe hatte ihn, während der Bataille der andern, heimlich weggenommen. Es war mein bester, und also[309] können Sie wohl denken, liebe Julie, daß es mir ein Stoß ins Herz war, ihn in des Knaben Händen zu sehen.

»Liebes Kind, wollten Sie mir wohl den Fächer geben? Er ist sehr zerbrechlich; ich will Ihnen etwas anders dafür geben.«

Die Mutter. »Fritzchen, gieb doch hin, du sollst auch Zuckerplättchen haben.«

»Ne doch, ich will noch mit spielen.«

Sie war in großer Verlegenheit, und nahm Fritzchen auf den Schooß, der sich mit Händen und Füßen wehrte. Sie versprach ihm alles Mögliche, küßte und streichelte ihn, aber umsonst! Der Junge fieng so entsetzlich an zu kreischen, daß sie ihn erschrocken herunter ließ. Darauf schlug er sie mit dem Fächer ins Gesicht, und ich sah, daß schon ein Stab gebrochen war.

»Wollten Sie mir wohl erlauben, liebe Madam, dem Kinde den Fächer wegzunehmen? Es ist ein Andenken von meinem Onkel, und ich möchte ihn nicht gern zerbrochen sehen.«[310]

Ich versuchte es; aber der Junge trat mit dem Fuße nach mir, so daß er gleich ein großes Loch in meine Florschürze riß; endlich wand ich ihn aus seiner Hand. Nun hätten Sie das Toben, das Heulen sehen sollen. Ich dachte er bekäme jeden Augenblick das böse Wesen. Die Mutter sprang erschrocken auf ihn zu.

»Fritzchen, liebes Fritzchen, gieb dich doch zufrieden, du sollst ein ganz neues Kleid haben. Daß man auch immer von Fremden solchen Aerger haben muß! Was wäre denn an dem Lumpenfächer gelegen gewesen – so brummte sie zwischen den Zähnen. – Das arme Kind! Es wird sich gewiß Schaden thun.«

Nichts wollte helfen. Sie bat mich, ihm doch den Fächer wieder zu geben, sie wolle mir gern einen andern kaufen. Ich that es, obgleich höchst ungern. Nun wollte ihn der Junge nicht einmal, und sie hatte viele Mühe, seinen Trotz so weit zu überwinden, daß er ihn hinnahm.[311]

Zu meinem Verdruß waren wir auch auf den Abend gebeten. Es wurde mir sehr sauer, Wort zu halten; denn Madam sah mich sehr scheel an, weil ich so unhöflich gewesen war, und mir nicht gleich hatte wollen meinen Fächer verderben lassen. Die Gesellschaft ihres Mannes, der beym Essen zu uns kam, und uns sehr vernünftig und angenehm unterhielt, erheiterte mich wieder. Es verstand sich, daß die Kinder auch mit an den Tisch kamen, Justchen ausgenommen.

Wie würde ich doch das Herz haben, solche ungezogne Geschöpfe unter Fremde zu bringen, und die ganze Gesellschaft durch sie beunruhigen zu lassen? – Malchen spielte die Zierpuppe, und aß sehr wenig, weil ihr fest eingeschnürter Leib ihr nicht mehr zuließ. Fritz aber verlangte mit Ungestüm von allen Speisen. Der Vater sah mit unwilligen Blicken nach ihm und der Mutter hin, sagte aber nichts, und bemühte sich interessante Gespräche aufzubringen, welche uns nicht zuließen,[312] alle Ungezogenheiten des Jungens zu bemerken. Endlich verlangte er von einem feinen Gerichte, davon nur eine kleine Portion da war. Wie die Mutter es ihm verweigerte, wollte er laut weinen, und sie gab ihm voller Angst ein Bißchen hin.

»Ne, schrie er laut, ich will den ganzen Teller haben.«

»Sey doch still, Fritzchen, es ist ja nur ein wenig für die Fremden da. Du kriegst noch Kuchen.«

»Den will ich nicht. Geben Sie mir den Teller.«

Bey einer nochmaligen Verweigerung warf er seinen Löffel nach der Mutter hin, und stieß ein Glas Wein um. Nun konnte sich der Vater nicht länger halten. Er stand auf, und wollte den Buben beym Arm die Treppe hinunter bringen, aber nun sprang sein Weib auf:

»Rühren Sie ihn mir nicht an. Schämen Sie sich, Ihren Aerger an dem armen Wurm auszulassen. Komm, Fritze[313]

»An der Mutter, die durch Affenliebe ihre Kinder zu Grunde richtet, sollte ich ihn freylich zuerst auslassen. Kurz und gut, ich will solche Unarten nicht länger dulden.«

Drauf erhob sie ein Geschrey von alle dem, was er ihr zu danken hätte, und nun wollte ein solcher Schuft, durch sie zum Mann gemacht, sich sö mausig machen. – Er schämte sich, und wollte schweigend zu seinem Platz zurückkehren, aber sie stieß eine Menge Schmähungen aus, und schimpfte ihn einen schlechten Kerl, so, daß er höchst aufgebracht wieder umkehrte.

»Nein, das ist zu viel. Meine Geduld reißt endlich. Da, heule und schreye mit deinem Jungen um die Wette!«

Mit den Worten stieß er beyde in ein Nebenzimmer, und schloß die Thür ab.

»Verzeihen Sie – sprach er zitternd vor Aerger – daß Sie Zeugen eines solchen Auftritts seyn mußten. Ich habe bisher nur zu viel Nachsicht[314] gegen eine Frau gehabt, der ich leider mein äußres Glück zu danken habe. Streit und Zank hasse ich bis in den Tod; darum habe ich bisher meinen Gram stillschweigend erduldet: aber der Greuel der Kinderzucht geht zu weit. Ich kann es vor Gott nicht verantworten, wenn ich diese unschuldigen Geschöpfe so ganz ihrem Verderben überlasse. Ich will sie morgendes Tages alle drey in eine Pension schicken; denn hier werden sie ganz ruinirt.«

Ein paar Tage nachher hörte ich, daß der gute Mann nicht durchgedrungen ist. Sein mächtiger Schwiegervater, der ihm sein Amt verschaffte, hat sich ins Mittel geschlagen; er hat zu Kreuze kriechen müssen, und unter der Bedingung Gnade erlangt, daß er sich nie wieder in die Kinderzucht seiner theuren Hälfte mischen wollte. Wer ist nichtswürdiger, ein solches Weib, oder ein Mann, der niederträchtig genug ist, um zeitlicher Vortheile willen sich mit einem solchen[315] Teufel zu verbinden, und Ehre, Vernunft und alles zu verläugnen? Wie glücklich werden Sie sich jetzo schätzen, liebste Julie, daß Sie Verstand und Stärke genug haben, ihr Kind mehr zu lieben als das Ungeheuer, Vorurtheil!

Marie ist sehr bekümmert, weil sie ein Blatt von Eduards Briefe vermißt. Sie hat allenthalben nachgesucht, aber vergeblich. Wir können beyde nicht begreifen, wo es hingekommen seyn mag. – Adieu, liebste Julie. Wenn Sie Ihre neue Freundinn sprechen, so empfehlen Sie mich ihr, und versichern Sie die liebe Frau meiner ganzen Hochachtung.

Sophie.[316]

Quelle:
Margareta Sophia Liebeskind: Maria. Theil 1–2, Theil 2, Leipzig 1784.
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